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Erwachsenenbildung im 21. Jahrhundert

Als größtes historisches Verdienst der österreichischen Volksbildungsbewegung ist der Versuch anzusehen, die Wissenskluft zwischen ExpertInnen und Laien erstmals in der Geschichte Österreichs durch eine institutionalisierte Form der Laienbildung überbrückt zu haben. Dieser Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit führte zu einer Demokratisierung von Bildung und Wissen in einer bis dahin nicht gekannten Qualität und Quantität. Gesellschaftspolitisch materialisierte sich dieser Brückenschlag als ein sozialer Versöhnungsversuch zwischen Bildungsober- und Bildungsunterschicht.

Die Möglichkeiten, wissenschaftliche Verfahrensweisen und Erkenntnisse einem breiten Publikum umfassend darzustellen, sind freilich aufgrund der hohen einzelwissenschaftlichen Komplexität und Spezialisierung heute nicht mehr die gleichen wie vor 100 Jahren.

Dennoch ist aufgrund der seit den letzten Jahren wieder zunehmenden sozialen Polarisierung und einer damit verbundenen größer werdenden Bildungs- und Informationskluft auch in der Zukunft ein sicher noch weiter wachsendes Aufgabengebiet für die Erwachsenenbildung gegeben. Demokratiepolitische Erfordernisse – wie gesellschaftspolitische Aufklärung oder allgemeines Orientierungswissen – werden gerade unter den Prämissen einer globalisierten „Wissens- und Informationsgesellschaft“ beträchtlich ansteigen.

Jedoch scheint heute von den umfassenden Idealen der Aufklärung mit ihren Vorstellungen von einer Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse zwecks Beförderung des Gemeinwohls aller Menschen größtenteils nur die arbeitsmarktorientierte berufliche Weiterbildung übrig geblieben zu sein. Nicht „Bildung macht frei“ heißt die Losung heutzutage, sondern „Life Long Learning“ (LLL). An die Stelle von umfassender „Volksbildung“ ist die modularisierte Einübung von Fähigkeiten zur Selbststeuerung des Lernens getreten, um dem Menschen von heute seine Arbeitsmarkttauglichkeit zu erhalten.

Die Volkshochschule ist weiblich

Schon in den Anfangsjahren der Volkshochschulbewegung ist Bildung immer auch Frauenbildung gewesen. Der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kontinuierlich angestiegene Frauenanteil an den Volkshochschulen, der heute oft mehr als zwei Drittel der Teilnahmen umfasst, fand seit den 80er Jahren auch in der „Feminisierung“ ihrer Institutionen in Form der Zunahme von Kursleiterinnen und Leiterinnen von Erwachsenenbildungseinrichtungen ihren Niederschlag. In Wien besteht mit dem Rosa-Mayreder-College im Rahmen des Verbands Wiener Volksbildung sogar die Möglichkeit der Absolvierung eines eigenen „Feministischen Grundstudiums“, das universitären Charakter trägt.

Multikulturalität und Interkulturalität

Die in den 90er Jahren zunehmenden Migrationsströme aus verschiedenen Teilen der Welt in die mittel- und westeuropäische Wohlstands- und Sicherheitszone und die damit verbundene Multikulturalisierung der Gesellschaft fand und findet auch in der Erwachsenenbildung ihren Niederschlag.

Seit dem Beginn der 90er Jahre bestand in Wien die Einrichtung der Interkulturellen Lernbetreuung, ein mehrere hundert Personen umfassender BetreuerInnenstab für Kinder von MigrantInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Durch die Übernahme von MitarbeiterInnen der Interkulturellen Lernbetreuung in den Personalstand des Verbands Wiener Volksbildung kam es in der Folge auch zu einer „Interkulturalisierung“ in der MitarbeiterInnenschaft.

Österreichweit stiegen in den letzen Jahren die Bildungsangebote für MigrantInnen – vor allem „Deutsch als Fremdsprache“ (DAF), aber auch andere, teils berufsbildende Angebote. Umstritten ist noch, inwieweit staatlich verordnete „Integrationskurse“ einer tatsächlichen gesellschaftlichen Integration dienlich sind.

Neue Inhalte – neue Möglichkeiten

Die beträchtlichen ökonomischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen seit den ausgehenden 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts blieben nicht ohne Einfluss auf das Erwachsenenbildungsangebot.

Die seit den 70er Jahren verstärkt einsetzende Zielgruppenorientierung führte zum Ausbau der Volkshochschulen zu Ganztags- und Ganzjahresvolkshochschulen mit Vormittagskursen, Wochenendveranstaltungen und insgesamt zu einem Anstieg seminarartiger Bildungsformen. Der seit den 80er Jahren einsetzende Ökologie-, Gesundheits-, Wellness-, Kreativitäts- und Lebenshilfe-Boom führte zur weiteren Ausdifferenzierung der Angebotspalette. Die Einrichtungen der Erwachsenenbildung sind heute mehr denn je Dienstleistungsunternehmen auf einem sich zunehmend ausdifferenzierenden und nach marktwirtschaftlichen Kriterien organisierten Bildungsmarkt.

Neue Möglichkeiten – neue Risken

Mit dem Abflauen der Konjunktur drangen in den letzten Jahren vermehrt berufsbezogene Kurse und Lehrveranstaltungen in die Programme der Volkshochschulen ein und fanden auch steigende Nachfrage.

Parallel dazu kam es zu einem neuen Aufschwung im Bereich der international standardisierten Fremdsprachen- und EDV-Zertifikate. Seit der Jahrtausendwende offerieren die österreichischen Volkshochschulen darüber hinaus erstmals abschlussbezogene wie auch berufsbildende Bildungsangebote, welche auf den Erwerb von so genannten „Schlüsselqualifikationen“ für die moderne Arbeitswelt abzielen.

LLL

Ein großer Teil der Bevölkerung – so scheint es – hat das „Lebenslange Lernen“ (LLL) als Strategie ihrer Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung sowie zur beruflichen Anpassung zwecks Abwehr der Gefahr von Arbeitslosigkeit zu akzeptieren gelernt.

Ob damit der alte historische Traum der Volksbildungsbewegung von „Wissen für alle“ beziehungsweise „Bildung für alle“ erfüllt oder zumindest sehr weit gehend Realität geworden ist, lässt sich dennoch bezweifeln. Zu viele Widersprüche, Ungereimtheiten und Gegenläufigkeiten trüben das Bild der scheinbaren Erfolgsgeschichte.

Verschüttete Wege emanzipatorischer Bildung

Die Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte wurde auch von einer zunehmenden Bildungssegregation begleitet. Die sich unter so genannten „neoliberalen“ Vorzeichen ausbreitende Ökonomisierung des Wissens erschwert in steigendem Maß den sozial breiten Zugang zu Wissen und Bildung.

Von der Ökonomisierung der Ware „Wissen“ sind alle Bereiche der Erwachsenenbildung betroffen: die Strukturen, die Institutionen, das Personal, die Finanzierung, die Erwachsenenbildungspolitik, die Lerninhalte, die Lernkultur, die Zugänge zum Lernen, die Teilnahme am beziehungsweise der Ausschluss vom Zugang zum Wissen.

Zwar verleihen Öffentlichkeit, Wirtschaftsinteressen und Bildungspolitik einer dauernden Weiterbildung der Erwachsenen „ein Leben lang“ einen ganz besonderen Glanz. Doch ist paradoxerweise gerade an diesem Höhepunkt der Anerkennung von Erwachsenenbildung die finanzielle und materielle Förderung der Einrichtungen nach wie vor weit unterdotiert.

Zwar scheint heute der Zugang zu Information, Wissen und Bildung grundsätzlich allen in gleicher Weise offen zu stehen – sofern man die dafür erforderliche Zeit und das dafür notwendige Geld erübrigen kann. Gleichzeitig kommt es in Folge des global angelegten Projekts „Bildung am Markt“ an der Wasserscheide der „Wissensgesellschaft“ zu einer Polarisierung in so genannte „Bildungsverlierer“ und „Bildungsgewinner“ – womit man am Beginn des 21. Jahrhunderts wieder am demokratiepolitischen Ursprung der Volksbildungsbewegungen vor mehr als 100 Jahren angekommen ist.

Doch anders als damals beruhen die neuen Wissens- und Bildungsbarrieren nicht auf dem politischen Ausschluss von Teilen der Bevölkerung (ArbeiterInnen, Frauen) von einer höheren Bildung, sondern auf sozialen, ökonomischen und letztlich auf „biografischen“ Hemmnissen, die heute in die Eigenverantwortlichkeit des jeweils Einzelnen privatisiert werden.

Aufklärung und Gegenaufklärung

Das zentrale Anliegen der frühen Volksbildung des ausgehenden 19. Jahrhunderts – die Demokratisierung von Wissen, Bildung und Kunst – hat damit in unserer „Wissens- und Informationsgesellschaft“ nur wenig von seiner emanzipatorischen Brisanz verloren. Ähnlich wie vor über 100 Jahren, als höhere Bildung und akademisches Wissen einer kleinen gesellschaftlichen Elite vorbehalten waren, stellen sich auch heute vor dem Hintergrund einer sich sozial spaltenden Gesellschaft und einer vor einigen Jahren noch ungewöhnlichen Diskussion über die gesellschaftspolitische Unantastbarkeit des Konzepts der Wissenseliten vielfältige Aufgaben für eine emanzipatorische Erwachsenenbildung.

Der Bildungsbegriff der Aufklärung beinhaltet in seinem Kern die Überzeugung, dass sich Wissen und Wissenschaften an alle zu richten haben, nicht nur an die Gelehrten. Das heute verfochtene Konzept der Wissenseliten nimmt diesen seit der Moderne zum Programm erhobenen Anspruch der Öffentlichkeit auf Teilhabe an den Wissenschaften zurück. Der gegenwärtige Elitendiskurs wird von einer gesellschaftspolitischen Abschottung und Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs – bei gleichzeitiger wissensökonomischer Effizienzsteigerung – begleitet. Zunehmend werden die Wissenschaften mit den Kriterien eines international zu agierenden privatwirtschaftlichen Unternehmens normiert und evaluiert.

Dass „Wissen für alle“ bildungspolitisch realisierbar und gesellschaftspolitisch erstrebenswert wäre, ist in diesem Konzept nicht mehr enthalten. Die Bevölkerung soll zwar weiterhin mit den Segnungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts beglückt werden. An den Produktions- und Distributionsbedingungen von gesellschaftlich relevantem Wissen soll sie aber nicht mehr partizipieren. Diese Beschränkung der Wissensproduktion, Wissensdistribution und Wissenskonsumption einer Gesellschaft auf eine auserlesen Schar von Wissenseliten stellt eine Revision von bereits Erreichtem dar und ist mit den geistesgeschichtlichen Grundlagen der Volks- beziehungsweise Erwachsenenbildung unvereinbar.

Weiterbildungsformen Die rezente Erwachsenenbildungsforschung belegt die Pluralisierung der Weiterbildungformen. © Verband Österreichischer Volkshochschulen
VHS_am_Seil Zunehmende Anbieterkonkurrenz am Bildungsmarkt, steigender Kostendruck sowie der Rückzug des Staates aus der Bildungspolitik machen Erwachsenenbildung zu einem Drahtseilakt. © Volkshochschule Hietzing
Linzer_Wissensturm Trotz E-Learning werden nach wie vor „Orte des Wissens“ benötigt und auch gebaut: Der Linzer „Wissensturm“ vereint kommunales Bürgerservice, Bücherei und Volkshochschule unter einem Dach. © Verband Oberösterreichischer Volkshochschulen