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Volksbildung und „Wiener Moderne“

Zwischen etwa 1890 und 1914 brachte eine überwiegend bürgerlich-liberale, von ihrem religiös-kulturellen Hintergrund nicht selten auch jüdisch geprägte intellektuelle und künstlerische Elite in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien eine Reihe von bemerkenswerten Innovationen auf so gut wie allen Gebieten menschlicher Kreativität hervor, deren ungebrochene Modernität bis heute fasziniert. Viele dieser geistigen und kulturellen Glanzleistungen auf den Gebieten der Literatur, der Essayistik, der Musik, der Architektur, des Designs oder der bildenden Künste werden gemeinhin unter dem Begriff „Wiener Moderne“ im kulturellen, identitätspolitischen, aber auch im touristischen Gedächtnis subsumiert.

Dialektische Moderne

In den geistig-kulturellen Zirkeln und Salons des Wiener Fin de Siècle sammelte sich das gesellschaftlich aufstrebende liberale Bildungs- und Besitzbürgertum, dem von der Obrigkeit die Möglichkeit zur gesellschaftspolitischen Gestaltung verwehrt wurde. In diesen „kreativen Milieus“ wurde ein enormes künstlerisches und sozialreformerisches Potenzial freigesetzt. Zugleich befanden sich die ExponentInnen des „Wien um 1900“ im dauernden und unauflösbaren Dialog mit den krisenhaften Prozessen und Erfahrungen, die steter Wegbegleiter der „Wiener Moderne“ – als Teil und „Sonderfall“ einer allgemeinen Moderne – waren: sei es nun im Sozialhistorisch-Politischen als Produkt der staatsrechtlichen, sozialen und nationalitätenpolitischen Konflikte der ausgehenden Habsburgermonarchie, sei es im Gesellschaftlich-Kulturellen als Krise der (männlichen) Identität und der Subjektivität eines „unrettbaren Ichs“ oder sei es als Resultat eines allgemein empfundenen „Werte-Vakuums“ in der bürgerlichen Gesellschaft.

Verspätete Moderne

Freilich ereignete sich diese Moderne in Wien im Vergleich zu anderen westeuropäischen Städten nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen und gesellschaftlichen Rückständigkeit der Habsburgermonarchie relativ spät und erreichte dann auch nie vollständig ihren siegreichen Durchbruch. Die „Wiener Moderne“ stieß auf heftige Ablehnungen seitens der alten konservativen und klerikalen Eliten und führte zu vehement geführten Kontroversen, die durch die politische, ethnische und religiöse Fragmentierung der Stadt nur noch weiter verstärkt wurden. Im Wien des Fin de siècle prallten Tradition und Innovation, Fortschritt und Beharrung unvermittelter und heftiger aufeinander, als in westeuropäischen modernen Metropolen. Im „Wien um 1900“ koexistierten Vormoderne, Moderne, Antimoderne und Gegenmoderne konfliktreich nebeneinander und bewirkten Sprünge, Brüche und Diskontinuitäten im anlaufenden Modernisierungsprozess.

Wissenschaftliche Moderne

Neben der künstlerischen und kulturellen Moderne, neben der gesellschaftlichen und politischen Moderne, die mit dem entstehenden Parteienstaat und dem krisengeschüttelten Parlamentarismus in der späten Habsburgermonarchie ihren Einzug hielt, wirkte auch noch eine andere Moderne: die logisch-empirische, rational-kühle Moderne mit ihrem Glauben an einen unaufhaltsamen Fortschritt in Wissenschaft und Technik. „Wien um 1900“ war auch eine Zeit der Hochblüte des humanistisch-spätaufklärerischen und naturwissenschaftlich-empirischen Denkens, in dem es, um mit Adolf Loos zu sprechen, um nichts Geringeres ging, als um die „Einführung abendländischer Kultur in Österreich“.

Wissenschaftspopularisierung als integraler Bestandteil der Moderne

Wesentlicher Austragungs- und Verbreitungsort dieser technokratisch-rationellen Moderne waren die Wiener Volkshochschulen, mit ihren (natur-)wissenschaftlichen und technischen Vorträgen und Kursen als pädagogisches Mittel zur Etablierung und Popularisierung einer naturwissenschaftlichen Rationalität und einer kritischen – sich selbst kritisch reflektierenden – Moderne in Wien.

Dabei war der Glaube an den wissenschaftlichen Fortschritt und an die technische Beherrschbarkeit der Welt ein integraler Bestandteil dieser Modernität. Vor dem Ersten Weltkrieg waren noch viele davon überzeugt, dass der Fortschritt in den Wissenschaften zwangsläufig zu einer Verbesserung der Welt führen werde. Ziel dieses Fortschritts war für das politisch-liberalen und sozialreformerisch orientierten Bildungs- und Besitzbürgertum, dass alle Menschen an dem sozialen und moralischen Aufstieg teilhaben könnten.

Die Popularisierung von Wissen an alle war für sie somit integraler Bestandteil dieser Moderne, und unverzichtbarer Baustein auf dem Weg in eine von den Früchten der menschlichen Vernunft und dem Segen der Technik gekennzeichneten neuen Welt.

Diesem Glauben an den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt, der sich auch in der Fülle der naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen in der Zeit um 1900 bestätigt sah, hingen sowohl das wirtschafsliberale Bürgertum als auch das klassenbewusst werdende Industrieproletariat – hier vor allem ihre bürgerlich-liberale, sozialdemokratische Führungsriege – an.

In einer sich beschleunigenden Welt, voll von neuen sozialen, technischen und politischen Errungenschaften, hinkte das (Schul-)Bildungssystem der Habsburgermonarchie der Entwicklung nach. Aufgrund der Einführung der achtjährigen Unterrichtspflicht im Jahre 1869 sank erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts der bis dahin hohe Anteil an AnalphabetInnen. Naturwissenschaftliche Fächer gelangten erst um die Jahrhundertwende in die Lehrpläne der Mittelschulen, und die Unterschicht hatte bis zum Ende der Monarchie keinerlei Zugang zu den elitären Universitäten. Im Jahre 1910 hatte die Zwei-Millionen-Stadt Wien lediglich etwa 6.000 Studenten, davon die Hälfte Jusstudenten.

Eine vom Industriekapitalismus umgeformte naturwissenschaftlich-technisch-industrielle Welt bedurfte jedoch auch naturwissenschaftlich und technisch gebildeter Menschen. In dieses „Bildungsdefizit“ stieß die wissenschaftszentrierte Wiener Volkshochschulbewegung, die sich mit ihrem Bildungsangebot für alle Menschen zwischen dem mangelhaften Schulsystem und den sich sozial abschottenden Universitäten positionierte.

Utopische Moderne

So wie das sich marktwirtschaftlich-kapitalistisch entwickelndes Wirtschaftssystem (natur-)wissenschaftlich gebildete Menschen benötigte, so ergab sich für ein demokratisch und parteienstaatlich entwickelndes Gesellschaftssystem Bedarf an freien, aufgeklärten sowie rationell denkenden und handelnden Staatsbürger.

In diesem Sinne kann die Wiener Volksbildungsbewegung der Jahrhundertwende lange vor der staatlichen Etablierung einer parlamentarischen Demokratie im Jahre 1918/19 als ein real-utopischer Ort einer demokratischen und egalitären Wissensvermittlung für alle Menschen einer Gesellschaft bezeichnet werden. Denn an den Wiener Volkshochschulen wurde nicht nur Wissen an alle Menschen – gleich welchen Geschlechts, welcher Nation oder Religion – vermittelt, sondern auch danach getrachtet, das Lehr-Lern-Gefälle durch demokratisch-partizipatorische Formen einer Mitsprache der KursteilnehmerInnen einzuebnen sowie die bisher elitäre wissenschaftlich-universitäre Forschung durch Praktiken der Laienforschung zu demokratisieren.

Betrachtet man demokratische Formen des gesellschaftlichen Umgangs als einen integralen Bestandteil von Moderne, dann sind nicht nur die Inhalte der Wissensvermittlung an den Wiener Volkshochschulen des Fin de Siècle – wie etwa moderne Naturwissenschaften, moderne Architektur, zeitgenössische Literatur oder Kunst – als modern zu bezeichnen, sondern auch ihre pädagogischen Vermittlungsformen.

VHS_Kopf_Abendkurs Zwischen Mensch und Kosmos: geistes- und naturwissenschaftliche Bildungsangebote der Wiener Volkshochschulen als Beiträge zu einer modernen, logisch-empirisch begründeten Weltanschauung © Österreichisches Volkshochschularchiv
Die_Naturwissenschaftlichen_Kurse_der_Volkshochschule Die Popularisierung der (Natur-)Wissenschaften stellte für die Wiener Volkshochschulen einen integralen Bestandteil der Moderne dar. © Wienbibliothek