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Who is Who?

Eduard Castle
1875-1959

Eduard Castle wurde am 7. November 1875 in Wien geboren und entstammte einer um 1764 aus England eingewanderten Familie. Sein Vater war nach Schauspielerjahren bei einer böhmischen Wandertruppe Magistratsbeamter, der den Sohn zeitlebens bei archivalischen Forschungen unterstützte. Die Mutter stammte aus der bekannten, seit etwa 1580 in Wien ansässigen Familie Seis, deren bekanntestes Mitglied wohl Matthias Seis (1750-1854) war, der von 1850-1851 den Altersvorsitz des Wiener Gemeinderates innehatte. Der Knabe absolvierte nach der Volksschule als durchschnittlicher Schüler das Franz Joseph-Gymnasium in der Inneren Stadt, wo er Lehrer hatte, die seinen zukünftigen Weg entscheidend prägen sollten, unter ihnen der bekannte Lateiner Joseph Maria Stowasser, der von 1885 bis 1908 an dem Gymnasium unterrichtete und acht Jahre hindurch Castles Klassenvorstand war, der Deutschprofessor Franz Xaver Kratochwil und der Geschichtslehrer Ludwig Singer.

Im Wintersemester 1893/94 inskribierte Castle an der philosophischen Fakultät der Universität Wien die Fächer Deutsche Philologie und Geschichte in Verbindung mit Geographie. Deutsche Philologie studierte er bei Richard Heinzel und Jakob Minor, die er später als „Männer von umfassender Gelehrsamkeit und Meister der wissenschaftlichen Methode“ charakterisierte. In einem Gedenkblatt zu Heinzels 100. Geburtstag erinnerte sich Castle an das bedrückende Bild, das die Wissenschaft dem jungen Studenten bot: „Heinzel machte wohl auf den Anfänger den Eindruck der personifizierten Wissenschaft. Dazu kam eine unheimliche Gelehrsamkeit, die gerade den eifrigen Studenten oft bangen ließ, ob er mit seinen bescheidenen Leistungen den Anforderungen des Lehrers werde entsprechen können. Es war beinahe ein bestauntes Wagnis, wenn sich ein erstes Semester zu einer Seminarinterpretation meldete.“ Sein eigentlicher Lehrer aber war wohl Minor, dem er einen nicht unkritischen aber äußerst respektvollen Nachruf widmete.

Minor betreute Castles Dissertation über Lenaus „Savonarola“, die aus einem im Wintersemester 1895/96 gehaltenen Seminar über Lenau hervorging und ebnete ihm die Wege für die Habilitation. Geschichte hörte Castle, der sich zunächst überhaupt nur historischen Studien widmen wollte, vor allem bei Max Büdinger, der aber keine Anfänger in seine Lehrveranstaltungen aufnahm und damit Castles Abschweifen zur Germanistik verursachte. Büdinger, den Castle als den „letzten Universalhistoriker“ bezeichnet, bot die vielsemestrige Vorlesung „Allgemeine Geschichte“ an, die wohl nicht alle Studenten begeisterte: „Büdingers Vorträge boten das Bild mühevollen geistigen Ringens: er hat nie „gelesen“, wenige Aufschreibungen auf halben Briefbogen dienten dem Gedächtnis zur Stütze, alles andere ward in freier Rede entwickelt, doch mit welcher Überlegung und Behutsamkeit. Da wurde jedes Wort auf die Goldwaage gelegt, damit ja nicht zu viel oder zu wenig gesagt werde. Dem mit seiner Art nicht Vertrauten mag manches geradezu orakelhaft geklungen haben.“ In Geographie, einem Fach das damals mit Geschichte verbunden war, begeisterte ihn Albrecht Penck, der nach Friedrich Simony das an der Universität noch wenig gefestigte Fach vertrat. Für ihn fand Castle später die wärmsten Worte. Nicht nur Pencks Persönlichkeit begeisterte ihn, auch die innovativen Unerrichtsmethoden zogen den im Gymnasium nur mit konventioneller Staatenkunde vertrauten Schüler an. Insbesondere die in den Unterricht integrierten Exkursionen, die Penck „mit unvergleichlicher Frische“ leitete, boten Castle und vielen anderen bleibende Erlebnisse.
Am 20. Juli 1897 wurde Castle zum Dr. phil. promoviert, 1898 und 1899 legte er die Lehrbefähigungsprüfungen für Geschichte, Geographie und deutsche Sprache und Literatur ab .

Danach trachtete er zunächst, sich als Hauslehrer wohlhabender Familien zu verdingen. Weite Reisen durch die Monarchie und halb Europa erweiterten den Horizont des jungen Gelehrten, der jedoch später seinen Wirkungskreis gänzlich auf Wien beschränken sollte. Im Wintersemester 1899/1900 begann er an der Staatsrealschule in Wien IV zu unterrichten, verbrachte sein zweites Dienstjahr in Görz und war seit dem Schuljahr 1901/02 am Franz Joseph-Gymnasium tätig, an der Schule also, an der er selbst maturiert hatte. Im Schuljahr 1908/09 wurde er zur Durchführung wissenschaftlicher Arbeiten beurlaubt, seit 1909 mußte er nur mehr 10 Stunden unterrichten, Geographie entfiel. Bis 1923, als er zum außerordentlichen Professor ernannt wurde, blieb er dort, seit 1910 aber war seine Lehrverpflichtung mit Rücksicht auf die Tätigkeit an der Universität erheblich reduziert worden, bis sie 1919 gänzlich entfiel. Zweimal hatte er sich als überzeugter Lehrer um Direktorenstellen beworben, 1918 für die Staatsrealschule im 2. Bezirk und 1919 für das Akademische Gymnasium, beide Male war er abgewiesen worden.

Doch die weitere Universitätslaufbahn gestaltete sich hindernisreich, was wohl auch in den zeittypischen finanziellen Problemen des österreichischen Staatssäckels begründet lag. 1921 beschäftigte sich eine Kommission mit dem Plan, Castle zum wirklichen Extraordinarius zu bestellen und ihn damit auch in den Personalstand der Universität zu übernehmen. Die Kommission stimmte dem von Walther Brecht, der 1912 die Nachfolge Jakob Minors angetreten hatte, begründeten Antrag zu, er wurde jedoch vom Professorenkollegium der Philosophischen Fakultät im Jänner 1922 abgelehnt. Im März 1923 wurde Castle dann jedoch, ohne Antrag des Professorenkollegiums, vom Unterrichtsministerium zum Extraordinarius ernannt. Eine Rolle mag dabei gespielt haben, daß Castle bei der Besetzung der germanistischen Lehrkanzel in Innsbruck, für die er sich selbst bei Minister Breisky, mit dem ihn ein gutes Verhältnis verband, ins Spiel gebracht hatte, nicht berücksichtigt worden war. Castle selbst begründete die Ablehnung durch das Professorenkollegium im Rückblick mit seiner Tätigkeit als Dozentenvertreter, die manche „beati possidentes in ihren Besitztiteln zu beeinträchtigen schien“. In der Presse wurde der Vorgang als Eingriff in die Autonomie der Universität kritisiert und in Zusammenhang mit dem Kampf gegen die „Verjudung“ der Universitäten gebracht: „Wir sind neugierig, ob es sich die deutsche Studentenschaft gefallen lassen wird, daß in der Zeit ihres schwersten Kampfes gegen die Verjudung der Hochschulen ein Mann, über die Köpfe der Fakultät hinweg, zum Professor gemacht wird, über dessen innige Beziehungen zum jüdischen Volkstum keine Zweifel bestehen können.“. Das Avancement sah Castle gern, die finanziellen Folgen aber waren desaströs, denn Castle büßte etwa ein Drittel seines Einkommens ein. Er begann seine Beamtenlaufbahn praktisch von vorne, dazu wurden die Remunerationen für seine bisherigen Lehraufträge an der Universität und an der Technischen Hochschule gestrichen. Der Kampf gegen diesen finanziellen Abstieg und die Versuche, neuerlich remunerierte Lehraufträge zu erhalten, waren von wenig Erfolg begleitet. In einem anonym erschienenen Artikel im Neuen Wiener Tagblatt schilderte er am eigenen Beispiel die mißliche Lage an den Universitäten: "Nicht selten begegnen mir auf der Straße ehemalige Schüler vom Gymnasium, die vor fünfundzwanzig, zwanzig, fünfzehn Jahren bei mir maturiert haben, sich mir als Ministerialräte, Bankdirektoren usw. vorstellen und darauf die Frage an mich richten: 'Nun, Sie sind doch schon längst Ordinarius ?' Auf meine bescheidene Bemerkung, daß ich dieses Ziel nicht erreicht und wohl auch wenig Aussicht hätte, es zu erreichen, erwidert man mir dann gewöhnlich wie zum Trost: 'Aber die Hochschulprofessoren sind jetzt doch recht gut gestellt ?' Hört mein Interviewer, daß ich, fast am Ende meiner Dienstzeit, es zu einem Monatsbezug von sechshundert Schilling gebracht habe, und wird auch seine nach dem üblichen Hörensagen recht hochgegriffene Einschätzung des Kollegiengeldbezuges auf die tatsächliche Höhe von siebenhundert Schilling im Jahr reduziert, so bricht er zumeist das Gespräch verlegen ab und denkt, wie ich seiner mitleidigen Miene nur zu deutlich entnehmen kann, bei sich: Armer Hascher!"
Als Vertreter der Privatdozenten war Castle schon seit 1913 tätig, als die „Vereinigung deutschösterreichischer Hochschuldozenten“ gegründet worden war. In den Jahren nach 1918 wurde das österreichische Schulsystem tiefgreifenden Reformen unterzogen, die auch die Universitäten trafen, zunächst jedoch stand für Castle die mißlich finanzielle und auch rechtliche Situation der Privatdozenten im Vordergrund. Castle war als Nachfolger des späteren Nobelpreisträgers Viktor Heß bis 1922 Obmann der „Vereinigung deuschösterreichischer Hochschuldozenten in Wien“ und damit einer der führenden Vertreter der Privatdozenten, unter denen es gewaltig gärte. Die in der Monarchie auf das Kollegiengeld angewiesenen und sonst unbesoldeten Privatdozenten, deren Status als Durchgangsstadium auf dem Weg zum Professor angesehen wurde, sahen sich in dieser Stellung zementiert. Ihr Wunsch ging dahin, an der Universität auch mitreden zu können und nach einer gewissen Anzahl von Jahren wenigstes begründete Aussicht auf die besoldete Stellung eines außerordentlichen Professors zu haben. Die Bezüge der Professoren waren 1919 durch ein eigenes Gesetz von den Bezügen der übrigen Bundesbeamten abgekoppelt worden, auch die Zulassung, die Lehrtätigkeit und die Remuneration der Privatdozenten war 1920 geregelt und verbessert worden. Zu einer durchgreifenden Verbesserung der Aufstiegschancen für Privatdozenten kam es aber nicht. Castle gab seine Tätigkeit im Rahmen der Organisation der Privatdozenten 1923 auf, als er zum außerordentlichen Professor ernannt wurde.
Einen vorläufigen Höhepunkt fand seine universitäre Laufbahn mit der Verleihung des Titels eines ordentlichen Professors im Juni 1934.

Umso schmerzlicher traf ihn, dessen Aufstieg an der Universität so hindernisreich gewesen war, die Pensionierung nach der Okkupation Österreichs im März 1938. Als einziger Wiener Germanist büßte Castle seine Stelle ein, er erhielt Ende April 1938 den Bescheid, daß er „mit sofortiger Wirksamkeit bis auf weiteres beurlaubt“ sei. Zu seiner Tätigkeit hieß es in dem Schreiben: „Sie haben sich daher bis auf weiteres jeder lehramtlichen oder sonstigen in den Rahmen ihrer Obliegenheiten bzw. Befugnisse fallenden oder ihnen besonders übertragenen Tätigkeit zu enthalten“.
Die Charakterisierungen Castles durch Partei- und Universitätsstellen nach dem März 1938 waren - in nationalsozialistischem Sinn - durchgehend höchst unfreundlich. Seine politische Einstellung wurde als „liberal-marxistisch“ charakterisiert, er verkehre „vorwiegend in sozialliberalen Kreisen“, habe seine „antinationalsozialistische Einstellung, ohne sich aber dabei durch eine besondere Gehässigkeit auszuzeichnen“, wiederholt bekundet und sei „wegen politischer Unzuverlässigkeit und wegen seiner asozialen Einstellung und Charakteranlage abzulehnen“. An die Vorgänge im Jahr 1923 erinnert die Beschreibung: „Sieht jüdisch aus, mag aber dabei einwandfreier Abstammung sein“.
Castle wehrte sich mit allen Mitteln gegen seine definitive Pensionierung und griff dabei auch zur Ausflucht, in antisemitischem Sinne interpretierbare Passagen aus der Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte zusammenzustellen, die aber mit Sicherheit nicht aus seiner Feder stammten. Es half nichts, er wurde „als Lehrer an einer nationalsozialistischen Hochschule“ abgelehnt" (Bauer, 75) Wenn auch nicht im letzten klar ist, was der unmittelbare Anlaß für seine Pensionierung war, dürfte ein im April 1938 erschienener Artikel von ihm über die eben fertiggestellte „Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte“, die er seit 1913 betreut hatte, eine eventuell schon vorhandene Abneigung gegen ihn verstärkt haben.

Der eigentliche Höhepunkt seiner universitären Laufbahn stellte sich 1945 ein, als er ohne besondere Formalitäten von der österreichischen Übergangsregierung am 16. November 1945 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Das Professorenkollegium hatte ihn im Mai 1945 zum interimistischen Direktor des mit dem Abgang von Heinz Kindermann verwaisten Instituts für Theaterwissenschaft eingesetzt und im Juli und im September 1945 seine Betrauung mit einem Ordinariat beantragt. Die langersehnte Position an der Universität hatte er damit im 70. Lebensjahr endlich erreicht. Da er sieben Jahre vom Lehramt entfernt gewesen war, setzte sich die Universität dafür ein, ihn bis zur Vollendung des 75. Lebensjahres in seiner Stellung zu belassen, Minister Hurdes genehmigte jedoch nur ein Ehrenjahr bis Ende 1946/47; bis zum Ende des Studienjahres 1949 konnte er als Honorarprofessor weiter tätig sein. Die entgegen den Vorstellungen der Universität und auch gegen seinen eigenen Willen vorgenommene Pensionierung, wie auch das abrupte Ende seiner Honorarprofessur - das Unterrichtsministerium hatte auf den Vorschlag der Universität, Castle auch im Studienjahr 1949/50 vortragen zu lassen, nicht reagiert, obwohl in diesem Jahr kein anderer Professor zur Verfügung stand - haben Castle schwer getroffen. Daß das Ende seiner Lehrtätigkeit auf den Plan des Unterrichtsministeriums zurückzuführen war, dem Barockforscher Herbert Cysarz, der sich 1928 im Nachfolgespiel von August Sauers Lehrstuhl in Prag behauptet und von 1938 bis 1945 an der Universität München gelehrt hatte, an der Universität Wien ein Wirkungsfeld zu eröffnen, dürfte ihn kaum getröstet haben. Die Universität griff diesen Vorschlag des Ministeriums ohnehin nicht auf. Er vermutete das Wirken von Heinz Kindermann dahinter, den er in seinen Abschiedsworten heftig angriff.

Für den Germanisten Robert Mühlher, der Castle als Student kennengelernt hatte und der ihm später in der Redaktion der Publikationen des Goethe-Vereins nachfolgen sollte, war Castle der klassische Typus des Vorkriegsgelehrten, dabei gütig, konziliant und umgänglich, der von manchen Studenten geradezu geliebt wurde. Einen bürgerlichen Anstrich aus einer vergangenen Zeit hatte auch sein Privatleben. Seine erste Frau Olga Gribovski, mit der er seit 1904 verheiratet war, starb bereits 1906. Ihrem Bild bewahrte er ein Leben lang den Ehrenplatz auf seinem Schreibtisch, den Tod des Sohnes aus dieser Ehe hat er schwer verwunden. 1908 erwarb er eine große Wohnung in der Liechtensteinstraße, die er 50 Jahre lang bewohnte. Diese Wohnung war mit Büchern überfüllt und bot genug Raum, die Arbeitsgewohnheiten eines Privatgelehrten im Zusammenleben mit einer großen Familie aufrecht zu erhalten, er konnte immer zwei Zimmer für sich persönlich beanspruchen. 1909 ehelichte er dann Margarethe Juraschek (1888-1940), die älteste Tochter des Präsidenten der Statistischen Zentralkommission, Franz von Juraschek (1849-1910), der in zweiter Ehe mit Ida Pokorny, der Tochter des bekannten Wiener Botanikers Alois Pokorny (1826-1886) verheiratet war. Castle widmete Pokorny zum 50. Todestag am 29. September 1924, wie auch Franz von Juraschek anläßlich seines unerwarteten Todes beachtenswerte Porträts. Von den sechs Töchertn aus der zweiten Ehe starben zwei im Kindesalter, die übrigen erhielten alle eine akademische Ausbildung. Noch seine letzten Lebensjahre nach dem Abschied von der Universität und dem Abschluß der Sealsfield-Forschungen standen im Zeichen intensiver Aktivität. Am 8. Juni 1959 verstarb er im 84. Lebensjahr. Er wurde auf dem Friedhof von Ober St. Veit begraben, im Jahre 1971 wurde im 21. Bezirk eine Straße nach ihm benannt.

Weiterführende Literatur:

Matthias Bauer, Eduard Castle als akademischer Lehrer, Diss., Univ. Wien 1981, V, 356 Bl.