Niederösterreichischer Volksbildungsverein
AnfängeIm zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts entfaltete sich in Niederösterreich eine Vielzahl von Lesevereinen, Arbeiterbildungsvereinen christlicher wie sozialistischer Orientierung und Volksbildungsvereinen. Viele dieser Vereine verdankten ihre Entstehung dem Mäzenatentum großbürgerlicher Idealisten, andere, wie die Arbeitervereine, waren Ergebnis der Selbstorganisation der ArbeiterInnen. Den meisten dieser Vereine war keine lange Existenz beschieden. Entweder fielen sie der behördlichen Auflösung anheim, oder sie gingen aus wirtschaftlichen Gründen zugrunde, oder sie lösten sich wieder auf, weil das Publikumsinteresse nicht ausreichend war.
Als der Oberösterreichische Volksbildungsverein am 15. September 1884 in Aussee seinen „Ersten allgemeinen Volksbildungstag“ abhielt, waren auch Teilnehmer aus Niederösterreich anwesend, unter ihnen der Kremser Bürgerschullehrer
Hans Hütter, der den Plan fasste, auch für Niederösterreich einen derartigen Verein zu gründen. Mit ideeller und materieller Unterstützung durch
Wilhelm von Schwarz-Senborn kam es am 18. Februar 1885 zur Gründung des „Allgemeinen Niederösterreichischen Volksbildungsvereins“ in Krems.
VereinstätigkeitIn seinen ersten Bestandsjahren nahm der Niederösterreichische Volksbildungsverein einen steilen Aufstieg. Im Jahre 1908 erreichte er mit 13.000 Personen seinen Höchststand an Mitgliedern. Weiters wurden über 100 – manchmal auch nur sehr kurzlebige – Zweigvereine in ganz Niederösterreich gegründet. Die Größe des Landes, seine überwiegend kleinstädtische und dörfliche Siedlungsstruktur, aber auch der beharrliche Widerstand der katholischen Kirche, die den liberalen Bildungsvorstellungen des Vereins misstrauisch gegenüberstand, stellten an den Idealismus der Funktionäre hohe Anforderungen. Vor allem die Beschaffung der nötigen finanziellen Mittel führte immer wieder zu heftigen politischen Auseinandersetzungen im niederösterreichischen Landtag. Im Lauf der Jahre konnte das Verhältnis zur katholischen Kirche durch Einbeziehung von kirchlichen Vertrauenspersonen zusehends entspannt werden.
Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigte die Vereinstätigkeit erste Anzeichen von Ermüdung, da es nicht gelungen war, die älter gewordenen und nicht mehr so einsatzbereiten Funktionäre durch jüngere zu ersetzen. Der Erste Weltkrieg erzwang sowohl durch die wirtschaftliche Notlage, als auch durch die Einberufungen vieler Lehrender und Kursbesucher zum Kriegsdienst weitgehende Einschränkungen der Vereinsaktivitäten. Viele Zweigvereine stellten ihre Tätigkeiten ein oder mussten überhaupt aufgelöst werden.
BildungsformenIm Mittelpunkt der Bildungsbemühungen des Niederösterreichischen Volksbildungsvereins stand die ländliche Bevölkerung. Diesem Umstand Rechnung tragend, unternahmen die Vortragenden oft weite Reisen, um auch entlegene Orte Niederösterreichs und des Böhmerwaldgebietes zu erreichen. Die Themen der Vorträge kreisten hauptsächlich um landwirtschaftliche Betriebsführung beziehungsweise um den Einsatz moderner chemischer und technischer Methoden. Des weiteren wurden Themen aus der Geschichte und der Erziehungslehre behandelt, aber auch Aufgabe und Nutzen der Volksbildung grundsätzlich erörtert. Die Vortragsreisen fielen überwiegend in die kalte Jahreszeit, weil es den in der Landwirtschaft Tätigen in dieser Zeit leichter möglich war, sich ein paar Stunden für den Besuch einer Veranstaltung, die meist auch in einem geselligen Rahmen stattfand, frei zu halten. Im Durchschnitt wurden in den Wintermonaten rund 100 Vorträge abgehalten.
BüchereibewegungDer zweite Tätigkeitsschwerpunkt des Niederösterreichischen Volksbildungsvereins lag auf der Einrichtung von Freibibliotheken und Freilesehallen, Einrichtungen, die unentgeltlich genutzt werden konnten. In den Bibliotheken konnten Bücher für zwei Wochen nach Hause entlehnt werden. In den Lesehallen wurde Gelegenheit zur Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften geboten. Bei der Anschaffung der Bücher und Zeitschriften wurde darauf geachtet, dass diese dem Bildungsstand des Publikums angemessen waren und von ihrem Inhalt her nicht zur Unzufriedenheit oder zum Unglauben anreizten. Die Bibliotheken wurden ehrenamtlich, zumeist von den Obmännern der Zweigvereine, von Lehrern oder Bürgermeistern geführt, die die Bücher auch in Schul- oder Amtsräumen aufstellten. Die Beschaffung der Bücher erfolgte zumeist über Spenden, die unmittelbar an die jeweiligen Bibliotheken gingen, so dass die Hauptleitung den Bücherwarten wiederholt einschärfte, bei der Auswahl der Bücher größte Aufmerksamkeit walten zu lassen – dies wohl auch deshalb, um politischen Gegnern keine Angriffsflächen zu bieten. Im Jahr 1918 bestanden in ganz Niederösterreich 181 Bibliotheken mit rund 185.000 Bänden.
Mädchen- und FrauenbildungBereits kurz nach seiner Gründung beschäftigten sich die Funktionäre des Niederösterreichischen Volksbildungsvereins mit der Frage einer kontinuierlichen Fortbildung der Landbevölkerung in so genannten Fortbildungsschulen. Man studierte einerseits die entsprechenden Institutionen vor allem in den skandinavischen Ländern, andererseits die seit den 70er Jahren bestehenden ländlichen Fortbildungsinstitute des k.k. Ackerbauministeriums.
Bereits 1886 wurde die erste ländliche Fortbildungsschule des Niederösterreichischen Volksbildungsvereins eröffnet, wobei auch hier die Unterrichtszeit überwiegend in das Winterhalbjahr gelegt wurde. Zwei Jahre später wurde auch die erste Fortbildungsschule für nicht mehr schulpflichtige Mädchen eröffnet. Die Lehrpläne dieser in Kursform abgehaltenen Veranstaltungen umfassten neben allgemeinbildenden vor allem wirtschaftskundliche Fächer – unterteilt in eine landwirtschaftliche und gewerbliche Richtung – sowie auch als Wahlmöglichkeit einen Kurs in Englisch. Die Kochkurse der Mädchenschulen wurden fallweise auch mit Ausspeisungsküchen für arme Kinder in Verbindung gebracht, so dass der Volksbildungsverein auch karitative Aufgaben erfüllte.
Erste RepublikDie Bildungsbemühungen in den ersten Jahren nach Ende des Ersten Weltkriegs gestalteten sich infolge der schlechten Wirtschaftslage sehr mühsam. Man musste sich begnügen, wenigstens den Verein am Leben zu erhalten. In der Mitte der 20er Jahre setzte allerdings ein neuer Aufschwung ein. Neue Zweigvereine konnten gegründet und neue Bibliotheken eröffnet werden.
Allerdings sah sich der Niederösterreichische Volksbildungsverein durch die Gründung zahlreicher Zweigvereine der Wiener Urania in Niederösterreich einer erheblichen Konkurrenz ausgesetzt.
Nach einer Anpassung der Statuten an die Bildungsvorstellungen der christlichsozialen Politik konnte sich der Niederösterreichische Volksbildungsverein auch der Unterstützung durch den niederösterreichischen Volksbildungsreferenten
Karl Lugmayer erfreuen. Die politischen Veränderungen der Jahre 1933 und 1934 führten zur Eingliederung des Niederösterreichischen Volksbildungsvereins in die „Arbeitsgemeinschaft der zentralen Volksbildungsvereine“ innerhalb der „Vaterländischen Front“. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre berichtet das Vereinsorgan jedoch von Anzeichen der Desintegration, da der Kontakt zu Zweigvereinen in mehreren Fällen nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte. Auch die Einrichtung neuer Kontrollorgane brachte diesbezüglich keine Verbesserung.
Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich ging der niederösterreichische Volksbildungsverein in der Untergliederung „Kraft durch Freude“ (KdF) der „Deutschen Arbeitsfront“ auf.
Weiterführende Literatur:
Kompek, Andreas: Volksbildung im Raum von Krems von 1848-1918 unter Berücksichtigung gesamtösterreichischer Verhältnisse, Dipl.-Arb., Univ. Wien 1988, 188 Bl.
Gerstenmayr, Erika: Das Volksbildungswesen in Niederösterreich mit besonderer Rücksicht auf den „Allgemeinen Niederösterreichischen Volksbildungsverein“ (1886-1938), Diss., Univ. Wien 1962, 188 Bl.
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