Autor/in: | Koenig, Otto |
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Titel: | Drei Sorten Bildung |
Jahr: | 1952 |
Quelle: | Mitteilungen der Volkshochschule Wien Volksheim, Nr. 61, November 1952, S. 1-2 (gezählte Seiten). |
[S. 1] Die Wiener verwechseln gerne ein mehr oder minder trügerisches Anzeichen für genossene Kinderstubenerziehung mit Bildung. Sie sagen von einem, der sich schlecht benimmt: Er hat keine Bildung g’lernt! – Gewiß ist ein geschicktes, gefälliges Betragen in allen Lebenslagen von Vorteil, und wenn über derlei hie und da auch an unserer Volkshochschule in einzelnen Vorträgen gesprochen wird, mag’s hingehen und nützen. Denen nämlich, die mit natürlichem Herzenstakt begabt sind. Für die anderen bedeutet solche „Anstandslehre“ kaum mehr als eine primitive Dilettanten-Komödienstatisterieabrichtung.
Die äußerliche „Benehmität“ ist also nicht das Ziel der Bildungsarbeit des Volksheims, die leere Konvention der Etikette schon gar nicht.
Aber das viele Wissen, das man zur „Allgemeinbildung“ braucht, kann man sich im Volksheim aneignen! Gewiß, das kann man, und zwar in hohem Maße! Aber auch diese Art Bildungsarbeit des Volksheims ist mehr Mittel zum Zweck als Selbstzweck. Denn mögen auch „Fachwissen“ und „Fachbildung“ weitgehend als gleichbedeutend verstanden werden – deswegen gibt’s ja auch im Volksheim, dem augenblicklichen Bedarf entsprechend, genug praktische Fertigkeitskurse, die der Fachbildung zugute kommen – aber „Wissen“ und „Bildung“ sind nicht gleichbedeutend.
Jene vielgepriesene „Allgemeinbildung“, die in nichts anderem als nur in einer Summe gedächtnismäßig angelernter Wissenstatsachen besteht, deren ideale Erfüllung das auswendig gelernte Konversationslexikon sein müßte, und als deren Beweis die bestandene Gedächtnisbelastungsprobe einer Matura alten Stils tatsächlich einmal galt, ist nicht das Ziel der Volksbildungsarbeit im Volksheim. Es gibt nämlich auch ungebildete Akademiker, genau wie es gebildete Nichtakademiker und Nichtmaturanten gibt.
Die von der Volksbildungsarbeit des Volksheims vorsonderlich angestrebte dritte Sorte der Bildung ist nämlich primär überhaupt kein Zustand, am wenigsten ein übertrieben gedrillter Gedächtniszustand, sondern ein Prozeß innerer Ordnung und Gestaltung von Anlagen, der aus dem Triebhaften zum Verstandesmäßigen, aus der Kritiklosigkeit zur Urteilsfähigkeit leitet, wobei unter Bildung eben ein geistig formender Vorgang zu verstehen ist, ähnlich jener Formung, die der Bildhauer dem Ton oder Stein gibt.
Dieser dynamische Bildungsprozeß kann am Material jedes Wissensgebietes durchgeführt werden, dem der einzelne sein subjektives Interesse mit ernster, innerer Anteilnahme zuwendet: Sowas nennt man „Studium“! Dieser Bildungsprozeß lehrt logisch Übergeordnetes vom Neben- und Untergeordneten unterscheiden sowie Voraussetzungen zu Urteilen und Schlüssen folgerichtig kombinieren. Er hilft zu weltanschaulicher Einsicht und vermittelt die Fähigkeit [S. 2] zur planvollen und ersprießlichen Einordnung des Subjekts in die gesellschaftliche Umwelt. Dieser Bildungsprozeß, angeregt und fortbewegt durch die intensivierte Beschäftigung mit einer von persönlicher Neigung freigewählten Wissenschaft fördert mit Dauerwirkung auf allen Gebieten des Lebens und Erkennens, denn alle Wissenschaften beruhen auf gemeinsamen denkgesetzlichen Grundlagen.
In diesem Sinne konnte eine der bedeutendsten, um die Jahrhundertwende wirkenden Frauen, die schwedische Schriftstellerin und Volksbildnerin Ellen Key, die nur scheinbar paradoxe, tatsächlich jedoch richtungweisend treffende Definition für den Bildungsbegriff finden: „Bildung ist nicht das, was wir gelernt haben, sondern das, was übrig bleibt, wenn wir alles vergaßen, was wir je lernten.“ Und es bleibt viel und Gewichtiges übrig! Womit nicht so sehr das Merken vieler einzelner fachlicher Wissenstatsachen gemeint ist, als vielmehr eine bleibende Disposition zu treffender Kritikfähigkeit, eine dauerhafte Gesamteinstellung zu tauglicher Lebensgestaltung.
Und diese dritte Sorte von Bildung ist es, die der neutralen Volksbildungsarbeit, die dem Volksheim zu allermeist am Herzen liegt. Jenen geistigen Formierungsprozeß zu fördern, diesen Reifezustand durch Einführung ins Denken lernen erringen zu helfen ist des Volksheims höchste und verheißungsvollste Aufgabe. Diese gemeinnützige Edelart der „Bildung“ ist es, die man im Volksheim „g’lernt“ haben kann!
(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Hervorhebungen im Original durch Sperrung werden durch kursive Schrift wiedergegeben. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes.)