Autor/in: | Feuchtersleben, Ernst von |
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Titel: | Ueber die Frage vom Humanismus und Realismus als Bildungsprincipe |
Jahr: | 1849 |
Quelle: | Friedrich Hebbel (Hg.): Ernst Frhrn. von Feuchtersleben’s sämmtliche Werke. Mit Ausnahme der rein medizinischen, Bd. 7, Wien 1853, S. 97-127. |
[S. 97] Mögen immerhin Wirren des politischen Lebens
die Staaten erschüttern! so lange die Bildung
ungehemmt an ihrer Seite fortschreitet, werden
die Staaten bestehen. Auf diese Stütze müssen
sie ihre Hoffnungen bauen.
Es wurde vor nicht langer Zeit in der Akademie zur Sprache gebracht, wie wünschenswerth es erschiene, wenn einzelne Mitglieder, je nach Beruf und Neigung, Anlaß nähmen, über wichtigere Fragen des öffentlichen Unterrichtes sich auszusprechen. Den Antragstellern schwebte dabei die innige Beziehung vor, in welcher die Aufgabe des Betriebes der Wissenschaften mit der ihrer Fortpflanzung steht, – welche beiderseits gleich berücksichtigt, auch beiderseits einen gleich gedeihlichen Erfolg in Hoffnung stellen müßten. Eine Frucht dieser Anregung sind diese Blätter. Sie haben die Bestimmung, die Aufmerksamkeit der Versammlung für einige Augenblicke von strengen [S. 98] speziellen Untersuchungen im Gebiete der Wissenschaft auf eine allgemeinere, dem Unterrichte angehörige, mehr in’s Leben eingreifende Frage zu leiten; deren gründliche Erörterung freilich einen weit größeren Umfang erfordern würde, deren Umrisse hinzuzeichnen ich mich hier begnügen muß.
Die Frage vom Humanismus und Realismus in der Bildung ist so alt als die Bildung selbst; sie ist aber zugleich eine Frage der frischesten Gegenwart, die eben wieder zu lebhaften Debatten veranlaßt; eine Frage, die, obwohl ihrer Entstehung nach, von den Bedürfnissen des Unterrichtes ausgegangen, in ihren Konsequenzen auf die Strömungen des gesammten Wissens, wie sie denn auch in der humanistischen und realistischen Klasse der Akademie – wenn ich den Ausdruck wagen darf – repräsentirt werden, Einfluß nimmt.
Ich erlaube mir zuvörderst an die Begriffe zu erinnern, um die es sich bei der Beantwortung der zu besprechenden Frage handeln wird. Sind erst die Begriffe festgestellt und klar, um die eine Verhandlung sich bewegt, so ist der Fortgang dieser mit Vertrauen zu erwarten. Um sich nun zu vergegenwärtigen, was in den Begriffen, welche die Worte Humanismus und Realismus in sich schließen, eigentlich enthalten sei, wird eine genetische Erklärung nöthig; denn jene Begriffe sind auf geschichtlichem Wege zur Ueberliefung gelangt.
Als noch Einheit und Harmonie in dem ganzen Leben und Streben des kleinen gebildeten Theiles der Menschheit war, bei dem allein von Fragen der Bildung die Rede sein konnte, – in dem glücklichen Lande der [S. 99] Griechen, in der Epoche der vollkommenen hellenischen Kultur, – da gab es keinen Gegensatz, der uns einen Anhalt zur Erklärung des jetzt bestehenden bieten könnte. Die Griechen wußten nichts von schönen, im Gegensatze zu praktischen Wissenschaften. Sie nannten den Inbegriff aller Fertigkeiten, die den Menschen zum Menschen machen, – Musenkünste. (Musik.) Die Römer, die Epigonen der antiken Bildung, suchten, als sie die Sache aus der griechischen Erbschaft mit übernommen, den Begriff derselben – glücklich genug – durch das Wort „literae humaniores“ auszudrücken. Da sie daneben auch artificia necassaria betrieben (operosa, sordida), so fängt hier schon der Keim einer Unterscheidung in dem Betriebe der Studien sich zu zeigen an. In welchem Sinne nun diese literae humaniores zur Bezeichnung einer Seite des Unterrichtes wurden, wobei nebst dem allgemein menschlichen Inhalte desselben, auch immer die Kenntniß der römischen und griechischen Sprache hinzugedacht wird, lehrt der Verlauf der Geschichte. Als nämlich diese Sprachen der schönsten menschlichen Kultur in den Zeiten der Völkerwanderung aus dem lebendigen Verkehre der Nationen sich verloren, wurden ihre Schätze in die Bibliotheken der Gelehrten geflüchtet. Hier bildeten sie gleichsam ein stilles Verbindungsmittel für Alle, die sich die schöne Aufgabe stellten, ein Asyl für die fortzupflanzende Wissenschaft gegen die einbrechende Barbarei zu bauen. In den ersten Jahrhunderten nach der Völkerwanderung konnte eine höhere Ausbildung nur durch Hilfe des Inhalts jener Bibliotheken, also nur durch Vermittlung der Sprachen des [S. 100] Alterthums erworben werden. Von da an wurden diese Sprachen der Schlüssel eines höheren Unterrichtes, und die Philologie, als solche, war geboren. Da im Laufe der damaligen Weltbegebenheiten keine neue, der alten ebenbürtige Bildung sich entwickelte, so blieb dieser Philologismus lange vorherrschend. Die alten Sprachen und was zu ihren Studien gehörte, wurden als die eigentlichen Gegenstände der Bildung angesehen und nun ausschließend mit dem Namen Humaniora bezeichnet, den die Römer der Gesammtbildung gegeben hatten. Diese Behandlung des Unterrichtes ward zum System, und das System (Humanismus) blieb seit der Wiederherstellung der Wissenschaften im Occident das herrschende. Allmälig aber, wie in allen menschlichen Einrichtungen, wenn sie gewissermaßen verjähren und den ursprünglichen Impuls ihrer Gründung überleben, wurde der Zweck der Stiftung vergessen, und das Mittel, ihn zu erreichen, als Zweck behandelt. Der Geist der Gründung entfloh, und die Mauern des Gebäudes blieben zurück, um – dem ewigen Fortschritte der Zeiten einen Damm entgegen zu setzen. Ein trockener, mit Worten, statt mit Gedanken und Stoffen, verkehrender Scholasticismus bemächtigte sich der Bildungsquellen des Alterthums, und sie drohten zu versiegen. Allein schützende Götter walteten über ihnen. Die lebensvollen Regungen, welche im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderte ganz Europa ergriffen, denen die Kirchenreform und große Fortschritte in allen Richtungen des menschlichen Strebens ihren Ursprung danken, hatten auch ein Wiederaufblühen der lebendigen Bildung des [S. 101] Alterthums zur Folge; Aristoteles und Platon verließen ihre Gräber, in die man sie verschlossen hatte, und lebten unter dem Schutze der Mediceer wieder auf. Auch in Deutschland trat eine Wiederbelebung des Studiums der Alten durch den erwachten Geist der Kritik fördernd ein, – und wieder sah sich der Humanismus in dem Alleinbesitze der wissenschaftlichen Herrschaft. Er blieb es ungestört bis in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Hier trat, nach dem Gesetze, das nun einmal über alle menschlichen Formen waltet, der schon erwähnte Vorgang nochmals ein: nochmals fing die Form an, die Stelle des Wesens einzunehmen, und was einst, als Triebkraft des Lebens, Begeisterung in die Pulse der Bildung flößte, – die Sprache der Alten, – begann, zur Mumie vertrocknet, sich, einer Zeit gegenüber, die ein eigenes, frisches Leben in ihren Adern fühlte, zu versteinern und , unverstanden, weil unverstehend, in sich abzuschließen. Der deutsche Sinn, nach seiner Art erweckt und von neuen Hoffnungen genährt, die, wie sogleich zu erzählen sein wird, aus England und Frankreich herüberwehten, wandte sich ab von der todten Vergangenheit, und strebte einer viel verheißenden Zukunft entgegen. Beflügelt von tausend Wünschen, die immer mehr die gemeinsamen Ueberzeugungen der Völker begleiteten, überschritt dieses Streben allmälig die Schranken der Zeit und die Bedingungen, welche sie jedem Streben unerläßlich vorschreibt. Ein halb weltbürgerlicher, halb vaterländischer Schwindel nahm in den wohlgesinntesten Wortführern der Schulangelegenheiten Deutschlands den Namen des Philanthropinismus an, und trat [S. 102] mit der anerkannten Stütze des ganzen bisherigen Unterrichtes in offenen Kampf. Selbst Männer von tüchtigen Gesinnungen gaben sich dieser Einseitigkeit hin und Basedow, Campe, Trapp, Iselin u. A. wähnten zuletzt wirklich durch gänzliche Verdrängung der alten Sprachen aus dem Unterrichte der lieben Menschheit einen Dienst zu erweisen. Diesen Tendenzen gegenüber konsolidirten sich die sogenannten Gelehrten, so gut sie vermochten, und ließen es auch ihrerseits an jener bornirten Gereiztheit, an jenem unseligen Kastengeiste nicht fehlen, der leider noch immer und überall die zerstörende Hand mit im Spiele hatte, wo es sich um Erkenntniß, um Versöhnung, um Fortschritt handelte. Genug die humanistische Bildung war erschüttert, und die Reformen, namentlich der deutschen Schulen, so wie die Geschichte des deutschen Buchhandels weisen die Spuren dieser Erschütterung nach.
Wir haben bis hieher die Entstehung, die Fortbildung und die Schwankungen eines Systems der Bildung beobachtet, welches unter dem Namen des Humanismus Jahrhunderte lang auf die Völker wirkte, und nun schon Erlöschen nahe scheint, ohne daß sich ein Gegensatz zeigte, der es bekämpfte und den zweiten Punkt für die Streitfrage lieferte, von der wir ausgingen. Wir sind an der Stelle, wo diese neue Position eintritt, um jene schon vorbereitete Negation zu bekräftigen. Theils die Ermattungen der Völker nach langen, innern und äußern, am [S. 103] Mark ihres Lebens zehrenden Kriegen und Anstrengungen, theils die wachsende Einsicht in die große Bedeutung der Nationalökonomie für das Gedeihen und den Verband der Staaten, hatten einerseits das Bedürfniß, andererseits die gegründete Hoffnung erzeugt, durch den Betrieb jener Studien, welche der Welt einen wahrhaft praktischen Nutzen verhießen, den Nationen aufzuhelfen. Es entstand die Nützlichkeitstheorie; der Unterricht in leblosen Sprachen wurde als unpraktisch verworfen, und der in den Fächern industrieller Betriebsamkeit allein als reeller bezeichnet, und dem ersten entgegengesetzt. Hier der Ursprung des eigentlichen Kampfes zwischen Humanismus und Realismus. Die ersten, tiefen und kräftigen Impulse dieser Richtung gingen von dem praktischen England aus, und von da auf Frankreich über. In England brachten die Lehren des Sensualismus (Locke) und die Fortschritte der Industrie und des Handels die realistische Richtung zuerst zu Ehren. Selbst die dort, im klassischen Ruhme glänzenden Koryphäen der gelehrten Bildung standen nicht an, die Ansprüche dieses praktischen Elementes anzuerkennen. Milton, der Sohn und Freund des Alterthums, bestritt schon mit Energie den Mißbrauch, sieben bis acht Jahre damit zu verlieren, ein schlechtes Latein und Griechisch einzuimpfen, während man gutes in Einem Jahre erlernen konnte; er drang darauf, das Studium der Sachen mit dem der Worte zu verbinden, war aber noch Sohn der Alten genug, – wo er empfahl, den Kindern zeitig durch Anschauung und Uebung die Anfänge der Mathematik beizubringen, – auch den Rath hinzuzufügen: [S. 104] sie mit denen des Ackerbaues aus dem Cato, Varro und Columella, mit denen der Naturbetrachtung aus dem Aristoteles, Celsus, Seneca, Plinius, der Erdkunde aus dem Pomponius Mela, der Baukunst aus dem Vitruv, bekannt zu machen, und dann erst zum Studium der rhetorischen Klassiker zu schreiten. Entschiedener trat Locke gegen das Privilegium der Sprachstudien auf; er rechnete diesen, die, seinem gesunden Sinne unverträgliche Unphilosophie zu, mit der sich die Philosophen (schon damals!) gewöhnt hatten, mit Worten zu denken und zu hadern, denen kein reeller (aus der Anschauung abgezogener) Begriff zu Grunde lag. Da er annahm, daß dieser Uebelstand aus der Schule in die Literatur übergegangen sei, so ging er weiter als Milton; er verbannte für die Erkenntniß der Natur auch selbst das Vehikel der alten Sprachen, und verlangte, daß man sich, wie Baco, an die Natur unmittelbar, durch den Versuch, die naive Frage in jeder Sprache, wende. Nach Frankreich übertragen, gewannen sich diese Forderungen an dem Sohne der Natur, an Rousseau, eine begreifliche Sympathie. Das von ihm verkündete Naturevangelium war zwar in seiner innern Tiefe selbst idealer Herkunft, allein es vereinte sich, im Geiste der économie politique, und der socialen Träume Rousseau’s gerne mit den Wünschen der Nützlichkeits-Reform und den britischen Tendenzen. In dem erwähnten Systeme des Philanthropinismus kamen alle diese Elemente, gemüthlich verdeutscht, zu einer vorübergehenden Wirksamkeit. Allein in England, in Frankreich und eben so in Deutschland, gaben die Linguisten dem ungestümen Andrange nicht nach, [S. 105] der von der Seite des Volkes auszugehen schien; sie fußten aristokratisch auf einem Principe, welchem der Staat seine wohlbegründete Geltung nicht entzog und blieben vorzüglich in Frankreich im ausschließlichen Monopole des Mittelunterrichtes, bis (unter dem Einflusse Rollands) die Ansprüche der naturwissenschaftlichen Richtung sich fordernder herauswagten. In Deutschland schwankten die erwähnten Richtungen nicht seltener. Inder Periode des Aufblühens unserer Literatur war es namentlich Herders Einfluß, dessen bekannte, in die ganze deutsche Bildung übergegangene Intention zur Humanitätsentwicklung das klassische Studium wieder zur alten Geltung brachte; doch danken wir ihm auch die tiefe Lehre: daß es im lebendigen Sinne betrieben werden müsse, wenn es diese Geltung bewahren wolle. Denn das hohle Wort kann sich der Forderung einer praktischen Tendenz gegenüber, die auch den Zweck der Humanität für sich anführt, nicht behaupten. Die Erhebung Deutschlands in dem bald darauf folgenden Befreiungskriege, die bevorstehende Entfaltung seines innern Volkslebens unterstützte diese Richtung, – bis die, nach dem Frieden wiedergekehrte Ruhe der Völker, ihr lebhafterer Verkehr mit einander, die Epoche der Eisenbahnen und Dampfschiffe, neuerdings das Aufleben der mehr nach außen gewandten realistischen Tendenzen begünstigte, – während Thiersch und die Seinen unbekümmert um das Gewühl des Marktes, mit treuer Festigkeit ihr Heiligthum bewachen.
[S. 106] So bildeten sich allmälich zweierlei Richtungen im Gange der Schulen und des Lebens heraus, die endlich, nach mancherlei stürmischen Begegnungen, jenen scharfen und entschiedenen Gegensatz darstellen, an dessen Scheidewege wir so eben stehen. Gewerbliche und wissenschaftliche Ansprüche haben einander offen den Kampf angekündigt, – sie haben die Brücke, die sie noch einigermaßen verband, abgebrochen, und die völlige Trennung des Humanismus vom Realismus ist jetzt erst beschlossen. Durch diesen Beschluß fühlen sich beide Theile befreit; beide sehen in ihm den Triumph ihrer selbst und die Niederlage des Gegners gesichert, – und die Kluft, die sich zwischen ihnen gebildet hat, reißt immer weiter ein, und droht zuletzt die Früchte nicht nur der Schule, sondern auch des Lebens zu verschlingen. Beide Theile verschließen sich und der allgemeinen Bildung die Wege des gedeihlichen Fortschrittes; beide würden durch ihren Triumph, wenn er gelänge, am schmerzlichsten leiden; der Studirende, der sich am Ende seiner Laufbahn den Boden unter den Füßen, – so wie der Gewerbliche, der sich den Himmel über dem Haupte weggezogen sähe. Der Staat würde trauernd auf die vergeudeten Kräfte, auf die zerknickten Blüthen sehen; hohle nichtige Vornehmthuerei auf der Einen, dumpfer, roher Mechanismus auf der anderen Seite, hätten ihm die Hoffnung vernichtet, die nur auf das Zusammenwirken geistiger Intention und practischer Tüchtigkeit gegründet werden kann!
Es ist schmerzlich, auf diesem Standpunkte des Zwiespalts länger zu verweilen. Allein es ist der Standpunkt [S.107] der Gegenwart; der Standpunkt, der unsere Frage uns vorlegte; wir müssen die Sachwalter beider Parteien hören, um die Actenlage zu kennen und ein Urtheil zu fällen. „Die Fundamente Eurer Studien, deren Unzugänglichkeit im Bereich der Praxis vor Augen liegt, – so hört man den Sachwalter des Realismus sprechen, – was sind sie? Ideale, wie sie Euch das gepriesene Alterthum überliefert hat! Es ist aber eine schlechte Weisheit, die es nur bis zu Idealen bringt; die nicht fördernd und gestaltend in die Triebräder der wirkenden und genießenden Gesellschaft eingreift! Leistet etwas, das wir greifen, verwenden, verzinsen können, – schafft Früchte, wirkliche, saftige Früchte, die vor unsern Augen reifen und genießbar auf unsern Tischen liegen! berechnet euren Staat nicht auf Ideale der Menschheit, die für ihn nie zur Wirklichkeit werden können; denn nie wir die Moral, immer nur das Wohl der Bürger die Säule der Staaten sein. Die alten Sprachen – fährt er fort – sind für echte, auch höhere, allgemeine Bildung, nutzlos. Alle Kräfte des Geistes, alle Stoffe seiner Arbeit, können eben so gut durch lebende Idiome geübt und gestaltet werden, als durch todte. Die alte Literatur mag man durch Uebersetzungen sich näher bringen. Selbst für Universitätsvorbereitung werden jene Sprachen bald nutzlos werden! Die lateinische Scholastik der Philosophie ist längst einer selbstständigen freien Denkübung gewichen; die Medizin hat ihre lateinische Küche schon fast verlassen und ist an die Quellen der Natur zurückgekehrt; das römische Recht hat dem vaterländischen Raum geben müssen; das römische Dogma [S. 108] ist nicht ausschließend und unfehlbar geblieben. Durch das Vorwalten des sprachlichen und idealen Unterrichtes – setzt er beschwichtigend hinzu – wird dem practischen Bedarf des Staates zu viel Nahrungsstoff entzogen; zugleich wird die Subsistenz des Lernenden untergraben (poeta laudatur et alget!). Ein tüchtig geschulter Gelehrtenstand mag etwa parlamentarischen Schimmer für den Staat erzielen, aber den Staat erhalten, d. h. ernähren, das kann er nicht; und eben daran fehlt es den meisten Staaten, und darum fordert die fortschreitende Zeit für alle Völker eine reale Bildung statt jener veralteten, die sich mit Worten und Formen behalf! Sie müssen also verwiesen werden, diese Träumer der Vergangenheit, aus dem Bereiche des öffentlichen Unterrichtes – so schließt er – welche nur hohlen Dünkel statt practischer Brauchbarkeit in ihren Schulen zubereiten!“
Ihm entgegen erhebt sich der Sachwalter des Humanismus: „Ideale – erwiedert er, mit dem Stolze, den das Bewußtsein einer höheren Mission im Reiche der Bildung verleiht,– Ideale bedingen jedes bessere Streben. Auch Ihr habt Euer Ideal; und so wenig als wir lauter Heroen der Humanität, so wenig werdet Ihr lauter Heroen der Industrie bilden! – Die Sprachen des klassischen Alterthums, – widersetzt Euch dem Ausspruche der Geschichte, wie Ihr wollt, – sind nun einmal die anerkannten Quellen der heutigen Bildung; aus ihnen ist ihre innere Bedeutung hervorgegangen, so wie Mathematik und Naturforschung ihr einen äußeren Zufluß verschaffen werden. Ob die klassischen Studien vergebens getrieben [S. 109] wurden, entscheide England’s, Frankreich’s, Deutschland’s Kultur! Ob die Universitäten ihrer je werden entbehren können oder wollen, werden sie selber entscheiden, wenn sie den Kern ihrer Aufgabe von den tausend historisch-zufälligen Hülsen losgeschält haben werden, die ihn jetzt noch bis zum Unkenntlichen umgeben. Ob der praktische Bedarf des Staates durch die klassische Bildung verkürzt werde, – darüber frage man bei England an, wo gediegene, klassische Bildung und vollkommene praktische Tüchtigkeit, mit gleich rühmlichem Erfolge, wetteifernd sich mit einander hervorthun; wo im Parlamente die Reden von antiker Bildung wiedertönen und die Gewerbe auf dem Markte blühen! Ob – setzt er lächelnd hinzu – der Zweck des Staates die Ernährung seiner Bürger sei, mag dieser, mit seinen Lenkern ausmachen! wenn sie es wäre, so würde die Concurrenz der materiellen Arbeit jede Möglichkeit überwältigen, die Ansprüche der Concurrenten zu befriedigen, – wenn nicht einige geistige Arbeit ihr ableitend zur Seite stünde, und eine zweite Concurrenz eröffnete, eine neue und unendliche Quelle rühmlichen Erwerbes in Aussicht stellte. Ein tüchtiger Gewerbstand wird eine Wohltat für die Staaten sein; aber eine sittliche Triebfeder für sie zu bilden, wie sie im Humanismus gegeben ist, vermag er nicht; und an ihr gebricht es ihnen wohl am fühlbarsten! wer die Entwicklungen begreift, die sich gegenwärtig im Leben aller Völker bereiten, der weiß auch, daß unserer Zeit – Verinnerlichung, Vergeistigung vor Allem noth thut! Wie Ihr – schließt er mit erhöhtem Tone, indem er an die Schlußworte des [S. 110] Gegners sich erinnert – im behaglichen Gefühle eurer momentanen Wichtigkeit und aus unserer Heimath, dem Mittelpunkte der Bildung, verweisen wollt, so sehen wir in Eurem ausschließlichen Bestreben den Umsturz der Grundsäulen des gesellschaftlichen Baues, und erklären, entsetzt vor der hereinbrechenden Barbarei, das Latein für Heil und Schutzmittel der europäischen Kultur!“
So sprechen die Parteien und ihre Verfechter gegen einander. Suchen wir, wenn ihr Zwiespalt sie nicht beiderseits vernichten soll, aus ihrer Polemik das zu gewinnen, was für jede von ihnen spricht. Vielleicht gelingt es so, sie zu versöhnen; denn den Begriff des Humanismus – wie es versucht worden ist – geradezu für einen unbestimmten zu erklären und abzuweisen, wird nicht wohl thunlich sein, nachdem wir wenigstens seine geschichtliche Bedeutung erkennen gelernt haben. Wir sehen, wenn wir das Verhältniß rein und unbefangen auffassen, daß beide Elemente der menschlichen Bildung Anspruch auf Anerkennung haben; wir sehen, daß beide den Bedürfnissen der Völker entsprechen: das humanistische einem innerlichen – der Vergeistigung des Lebens, der Vertiefung; – das realistische einem äußerlichen – der Verbreitung es Wissens; jenes einem Zwecke der Personen, dieses den Zwecken, welchen die Stoffe, die Sachen zu dienen haben; wir sehen, daß der freie Staat namentlich der Mitwirkung beider Intentionen, der Kultur seiner Bürger in beiden Gebieten, bis auf einen gewissen Grad, gleichmäßig bedarf; des Elements des Alterthums für das öffentliche politische Leben, des der [S. 111] Neuzeit für die Volkswirthschaft, die nun sein volles Augenmerk auf sich zu ziehen hoffen darf. Humanismus und Realismus erscheinen offenbar als gleichberechtigt, Nützlichkeit ist kein Prärogativ des letztern, Gründlichkeit keines des erstern; beide können und sollen beides sein, und beide müssen sich einen und verbinden, statt sich zu trennen, wenn ihre Aufgabe, zum Heile der Bildung allseitig gelöst werden soll.
Nun stellt sich die weitere Frage heraus: wie ist diese Gleichberechtigung zweier, wie es scheint, schwer verträglicher Elemente in die Nationalbildung durchzuführen? Erfahrungen in so manchem anderweitigen Bereiche haben uns das Verfängliche im Probleme der Gleichberechtigung kennen gelehrt. Ist Gleichberechtigung Coordination? oder hängt die Erfüllung ihres Principes von Rücksichten ab, welche für bereits bestehende Verhältnisse, bei den Modalitäten der Durchführung, zu nehmen sind? In unserer Aufgabe tritt offenbar der letztere Fall ein. Die Frage über die Stellung des humanistischen Unterrichtes zum realistischen ist mit einer allgemeinen Gleichstellung nur sehr oberflächlich beantwortet, – wenn sie von einer bestimmten Zeitepoche, von einem concreten Staate, aufgegeben wird. Die Bedürfnisse der Zeiten, die Bedürfnisse der Staaten sind verschieden. Als in England jenes einer vorwaltend materiellen Richtung sich hervorthat, in Frankreich das der spiritualistischen sich nichts versagen ließ, waren es eigenthümliche Zustände, welche diese verschiedenen Verhältnisse bedingten. Diese Zustände müssen nicht übersehen, – sie müssen aber auch nicht schlechthin, wie [S. 112] sie sich geben, genommen, – sondern sorgfältig und behutsam erwogen werden. Denn die Völker bedürfen nicht immer blos dessen, was sie wollen; sie bedürfen weit öfter dessen, was sie sollen, ohne sich dieser Forderung bewußt zu sein. Und was für Ein Volk paßt, paßt nicht für das andere. Es wird also ein umfassender und scharfer Blick auf die gesammten Verhältnisse eines Staates erforderlich sein, auf seine Intelligenzstufe, auf seinen Finanzstand, auf seine Volkswirthschaft, auf seine Bildungsanstalten, – um zu entscheiden, welcher Seite des Unterrichtes, in einem, durch organische Staatsveränderungen dazu nöthigenden Zeitpunkte, vor der andern Rechnung zu tragen sei. Es mag aber hiebei ermittelt werden, was da wolle; für Vorbildung und Schlußbildung werden die wesentlichen Grundsätze überall dieselben sein; nur in den Mittelregionen werden Schwierigkeiten sich einstellen. Ich erkläre mich deutlicher. Die Gleichberechtigung des klassischen, wie des realistischen Unterrichtes besteht darin, daß für beide gesorgt werden soll. Für die Vorbildung kann das nur dadurch geschehen, daß sie für alle Knaben ganz dieselbe ist, und die Keime zu jeder Art der Entwicklung in sich trägt, um sich dann später nach innerem Triebe und äußerem Anlasse bestimmen zu können. In der Elementarschule müssen also das Subject und der Gegenstand, in ihren einfachsten Formen und Beziehungen, schon die gleiche Berücksichtigung finden; ein Gesetz, das ohnehin schon in der Natur des Menschen und dem Zwecke der Erziehung begründet ist, also nicht weiter erörtert zu werden braucht. Hier besteht mithin die [S. 113] Gleichberechtigung in der Einheit der Elemente. Für die Schlußbildung ist sie gleich bald durchgeführt: denn in der letzten Vollendung müssen humanistische und Realschulen getrennt sein, da sie den für ihren Beruf schon Entschiedenen bereits die specielle Befähigung dafür gewähren. Hier besteht die Gleichberechtigung in der vollständigen Trennung der Elemente. Es gibt eben ausschließliche Gelehrtenschulen und ausschließliche Realschulen, und aus beiden gehen besondere Stände für die Gesellschaft hervor.
Der eigentliche Knoten unserer Frage, – das Terrain der Gefechte, denen wir vorhin zugesehen, – liegt also nur in den Mittelregionen des Unterrichtes; nur in dem Schulsysteme, das von der Elementarbildung zur Fachbildung den Uebergang bahnt, – den Secundärschulen. Hier nur kann es sich fragen, nach welcher Seite hin die Bildung sich neigen, wie sich abstufen, wie sich scheiden, wie sich nähern soll, um den gesonderten und zugleich den allgemeinen Ansprüchen zu genügen. Hier in den Mittelschulen, wird überhaupt das künftige Loos der Staaten vorbereitet werden, das ja doch nur von der Gesammtintelligenz der Völker abhängen wird. Wir wollen auch über diese Verhältnisse zuerst die Geschichte fragen, und dann ein Ergebniß zu gewinnen suchen.
Bei der allgemeinen Ueberzeugung, daß in den Mittelschulen, die zugleich zur allgemeinen Bildung und zur Vorbereitung für Universitäten und technische Anstalten bestimmt sind, eine Vereinigung der beiden erwähnten Elemente erzielt werden müsse, haben sich folgende Vorschläge vernehmen lassen:
[S. 114] 1. Die Realschule, als solche, behalte im Secundärunterrichte das Principat; allein sie nehme das Latein in ihre Lehrgegenstände auf, um auch für Universitäten vorzubereiten. Ein Beispiel dieses Verfahrens bietet der Lectionsplan der Realschule zu Elberfeld in Preußen, wo diese Maßregel angenommen ist. Auch in Bern hat die Realschule das Latein dem Kreise ihrer Lehrfächer einverleibt. Es kann Niemanden entgehen, daß in den eigentlichen Realunterricht das Latein nicht gehört. In wie ferne es denjenigen förderlich sein kann, welche sich einer höhern, technischen Bestimmung zuwenden, ist eine weitere Frage. Es muß nämlich hier unterschieden werden zwischen einem Realunterrichte, in so weit er der allgemeinen mittleren Bildung angehört, und einem besonderen professionellen Unterrichte. Für diesen ist überhaupt eine Secundärbildung unnöthig, es genügt der unmittelbare Uebergang aus der Elementarschule, wie wir sie voraussetzten, in die Professionsschule, in das Handwerk selbst. Allein für die höhere Realbildung, der sich schon jetzt so Manche aus den gebildeteren Ständen und vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft noch Mehrere zuwenden werden, – ist auch eine höhere Vorbildung unerläßlich; eine Vorbildung, wie sie der Staat allen seinen Bürgern, die in höherem Sinne zu wirken haben, zu gewähren verbunden ist.
2. Das Gymnasium, als solches, behalte im Intermediärunterrichte das Principat. Allein es nehme den Realunterricht in seinen allgemeinsten Grundzügen, in sich auf. Naturwissenschaften, lebende Sprachen, practisches Rechnen, technisches Zeichnen, Geschäftsstyl u. s. w. wären [S. 115] in ihrer ganzen Vollständigkeit dem Gymnasium einzuverleiben. Ein Beispiel dieses Verfahrens liefert das Wormser Gymnasium, welches im Jahre 1843 nach diesem Grundsatze erweitert wurde. Es kann schwerlich Jemanden entgehen, daß eine solche Forderung innerhalb gewisser Grenzen, billiger als die vorige ist. Keine Schule ist gut und brauchbar, wo man nichts als Latein lernt; das gab selbst Herder zu, der alte ehrwürdige Vertheidiger der Alten und der Humanität. Die Nothwendigkeit eines allgemeineren Realunterrichtes wird seit Langem empfunden und überall anerkannt. Allein für den speciellen technischen Bedarf würden einzelne, allgemeine Gegenstände nicht genügen und der humanistische Unterricht darf durch speciellere Vorträge realer Art nicht eingeengt werden.
3. Man versuchte, das Gleichgewicht durch den Antrag von Parallelclassen für beide Arten der Mittelschulen herzustellen. In Preußen wurde von jeder derselben dieser Antrag gestellt; für die Realschule lateinische, für das Gymnasium Real-Parallelclassen. In Frankreich hat man, über Anregung des Akademikers St. Marc. Girardin den Realunterricht vorläufig noch als einen Theil des intermediären Unterrichtes, durch Realcurse zu fördern gesucht, welche Anhängsel der sogenannten königlichen Collegien ausmachen. Ihnen widmen sich solche Schüler, die bereits mit classischen Studien sich beschäftigt hatten, aber sofort [S. 116] dem industriellen oder commerciellen Leben sich zu widmen denken. Cousin’s Reglement von 1840 läßt bis zum 14. oder 15. Lebensjahre die Bildung eine gemeinsame, auf classischer Grundlage ruhende, bleiben, dann erst trennt es die Studien: höhern, humanistischen Curs für Gelehrte von Profession, realistischen für Praktiker von Profession. Auch für Oesterreich wurde schon vor mehreren Jahren ein – mehr als der vorige verschmelzender – Plan: zur Gründung einer Realclasse in den Gymnasien angeregt. „Es würde – hieß es – wenig kosten, den Gedanken durchzuführen. Man dürfte nur die vierte Normalclasse in Etwas modificiren, sie durch Anstellung eines Professors der Latinität in ein zweijähriges Progymnasium umgestalten und der 3. und 4. Grammatikalclasse eine Realclasse, d. i. eine Realschule von 2 Jahrgängen beifügen, so daß die Gymnasiasten zugleich mit den Realschülern die practischen Vorträge hören. Hiedurch würde das Zusammengreifen der Primär- und Intermediärschulen befördert, das Errichten besonderer Realschulen erspart, und doch fürgesorgt, daß Gymnasiasten, wenn sie von den classischen Studien abfielen, nicht vergebens studirt hätten.“
Man sieht aus diesem Berichte, wie mannigfach die Bemühungen sind, theils Real- und Gelehrtenschulen ganz in einander zu verschmelzen, theils jenen etwas von diesen, diesen etwas von jenen zu geben, um das Bedürfniß [S. 117] beider zu befriedigen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß eine solche Annäherung wünschenswerth sei. Nicht der Gelehrte nur, – jeder Gebildete sollte sich eine Anschauung von den Realien verschaffen, die auf das Wohl der Völker so sehr Einfluß nehmen; und wiederum, der Mann der Arbeit und des Gewerbes sollte der höchsten Wohlthat der Kultur: der Kenntniß vom Werthe der antiken Bildung, nicht ganz entbehren. Er fürchte nicht die Schwierigkeit des Verständnisses. „Die Alten waren die einfachsten, die natürlichsten Menschen von der Welt; und der Sprung von ihnen – sagt treffend eine moderner Vorredner für sie – zum gewöhnlichen, gesunden Menschenverstand ist weit geringer als der – zum Theesalon.“ Allein die bisher angeführten Methoden, den humanistischen Studien einen practischen Lehrstoff, den realistischen einen ideellen Bezug zu geben, zeigten sich einerseits zu sehr eine Richtung bevorzugend, andererseits zu sehr beide abschließend. Die Vorschläge der Verschmelzung würden eine Halbheit, die der Trennung eine Einseitigkeit der Bildung erzeugen. Ein Plan zur Ausgleichung aller Anforderungen des Mittelunterrichtes an die allgemeine Bildung und specielle Befähigung muß sorgfältig durchdacht, muß reiflich erwogen sein, muß sich nicht durch Flickwerk helfen, sondern ein in sich und mit seinem Nachbarsysteme zusammenhängendes Ganzes darstellen. Einen solchen Plan, der das Product der vollen Berücksichtigung [S. 118] aller erwähnten Bedürfnisses ist, liefert uns der vom österreichischen Ministerium des Unterrichtes im Jahre 1847 veröffentliche Entwurf. Er bringt eine vierfache Gliederung in den Mittelunterricht: ein Unter- und ein Ober-Gymnasium, eine jenem entsprechende Bürger-, eine diesem entsprechende Realschule. Die ersten beiden stellen die Vorbildung zur Universität, die beiden letzten, die zur höhern technischen Lehranstalt vor. Jene bilden zum Gelehrten, diese zum Gewerb- und Handelsstande, das Abbrechen in der Mitte beider Reihen gewährt wenigstens eine Höhe der allgemeinen Bildung, mit welcher das allgemeine Bürgerthum zufrieden sein kann, und so der Staatszweck beim Unterrichtswesen garantirt scheint. Ueber den letzten Punkt erlaube ich mir demungeachtet eine Betrachtung anzustellen, die zu weiteren Erwägungen führen könnte, und die ich in diesem Sinne der Prüfung der Sachverständigen unterbreite.
Der Staat übernimmt durch die Verwaltung des Unterrichtes eigentlich die höchste seiner Aufgaben; eine Aufgabe, die ihn gewissermaßen über sich selbst hinausführt. Er kann und soll sich nicht darauf beschränken, blos Gelehrte, Beamte, Gewerber und Bürger zu dressiren; Erziehung und Unterricht ergreifen den ganzen Menschen, – und durch sie entwickelt und bildet sich heraus jenes reinere Element, das, höher als das politische, die eigentliche Sphäre der Menschheit umzeichnet, und zu dessen Entfaltung die Staaten selbst nur Mittel sind. Menschenbildung überhaupt, – auf ihr beruht, wo nicht das Vorhandensein doch gewiß der glückliche Organismus der [S. 119] Staaten; auf sie nur kann sich der letzte Zweck der Staaten beziehen. Scheine diese Wendung, die ich einer einfachen Schulfrage gebe, immerhin die Grenzen der Frage zu überschreiten; der Grundsatz, auf dem sie ruht, ist prägnant, und findet gerade hier eine geeignete Anwendung.
Für diese allgemeine Menschen- (nicht Bürger-)bildung nämlich könnte vielleicht in dem fraglichen Plane durch eine kleine Veränderung befriedigender gesorgt werden. Jetzt ist für sie eigentlich blos der Elementarunterricht, für Kinder vom 6. bis zum 12. Jahre bestimmt. Nach seinem Abschlusse, der sich nur auf das nothdürftigste Wissen begrenzt, welches unerläßlich ist, um nur überhaupt nicht jeder menschlichen Bildung zu entbehren, ist sogleich, ehe es noch Zeit ist, sich zu einem speciellen Berufe zu bestimmen, der Eintritt in eine der Schulen angeordnet, welche diesen speciellen Richtungen gewidmet sind. So wünschenswerth es nun einerseits für die hinreichende Durchbildung zu den betreffenden Berufswissenschaften ist, daß der Unterricht in diesen frühzeitig beginne und vollständig ertheilt werde, so unerläßlich ist es anderseits, daß, abgesehen von der Berufsbildung, für besondere Stände eine gemeinschaftliche höhere Vorbildung allen Classen der Gesellschaft zugänglich gemacht werde. Die Betrachtung der vor unsern Augen sich bereitenden Entwicklungen im Leben der Völker macht jede Begründung dieser Nothwendigkeit überflüssig, die bereits vielfach anerkannt und öffentlich ausgesprochen worden ist. Man hat im Gefühle dieses Bedürfnisses Vorschläge jeder Art [S. 120] versucht, den sogenannten Elementarunterricht zu verlängern; man hat ihm neue Classen, Sonntagsschulen, Wiederholungsschulen, Fortbildungsschulen, zuletzt selbst Männerschulen hinzugefügt, und dadurch die Ausführung einer an sich richtig gefaßten Idee – nur verzögert.
Sollte nicht eine Vereinigung des Untergymnasiums mit der Bürgerschule in ein Ganzes (Progymnasium?), in welchem für die humanistische wir für die realistische Vorbildung gleichmäßig Sorge getragen würde, auf einem, leichten, nahe liegenden und einfachen Wege, zum ersehnten Ziele führen?
Das Erforderniß einer gründlichen, also frühen Ausbildung der Latinität für das Obergymnasium dürfte kaum ein Hinderniß für diese Maßregel abgeben. Wenn wir auch nicht Milton’s Ein Jahr für die Erlernung der Sprache des Cicero und Tacitus, zu vertheidigen wagen, – so ist doch fast nur Eine Stimme darüber, daß das Latein jedenfalls in einer weit kürzeren Zeitfrist gelernt werden könne, als bisher daran gewendet wurde. Es bedarf dazu nur, daß es lebendig, wie eine lebende Sprache, und ohne Pedantismus gelehrt werde. Auch darf die Grammatik selbst nicht am Latein, sondern muß an der Muttersprache entwickelt werden. Ich würde sogar die Behauptung wagen, daß gerade der gewohnte pedantische, sechsjährige Unterricht im Latein die Ursache ist, daß die Schüler es nach sechs Jahren nicht gelernt haben, – wie die täglich Erfahrung beweist.
Den gründlichen lateinischen Curs besorgt das höhere Gymnasium, den dazu vorbereitenden einfachen [S. 121] lateinischen Unterricht kann füglich das Progymnasium in seiner zweiten Hälfte auf sich nehmen. Wir haben schon gesehen, daß auch dem Techniker das Latein keinen Schaden bringt. Ich weiß wohl, daß eine Stimme, die nicht überhört werden darf, sich vernehmen ließ: „ein wenig Primärunterricht ist immer etwas; ein wenig Latein aber, wenn es schlecht gelehrt wird, ist nichts, – und schlimmer als nichts; allein ich bemerke, daß der Zusatz „wenn es schlecht gelehrt wird“ hier entscheidet. Eine Verbesserung dieser Vorbildung würde vielmehr gerade jenen Vortheil verschaffen, den Cousin (im oben erwähnten Reglement von 1840) von seiner „höhern Primärschule“ erwartet, in der er mit Recht die wahre Mittelschule zu finden hofft. Allgemeinere Rücksichten scheinen eine solche Einrichtung zu begünstigen. Je einfacher der Unterricht gestaltet werden kann, desto geringer stellen sich die Kosten für ihn heraus; je zahlreicher die Classen der Schulen, desto höher. Je einfacher das System, desto gleichartiger die allgemeine Bildung, desto zugänglicher für jedes Bedürfniß, für jeden Betrieb. Endlich scheint nur auf diesem Wege eine motivirtere Berufswahl möglich. Die Anlagen des Einzelnen hätten Gelegenheit, sich für den einen oder den andern Beruf erkennbarer zu entfalten, die Selbstbeurtheilung würde reifer werden, und die Reue über eine verfehlte Lebensbestimmung träte vielleicht seltener ein. Die Zeit vom 11. bis etwa zum 14. Lebensjahre würde [S. 122] einem solchen Uebergange auch am besten entsprechen, und die im Entwurfe mit folgerichtiger Geschlossenheit gegebene Organisation der Schulen würde durch diese Vereinfachung nicht nur nicht leiden, sondern gewinnen. Es wäre nämlich dann ein mehrfach abgestufter Uebergang nach den verschiedenen Verhältnissen thunlich: der Uebergang vom Progymnasium (wenn diese Abtheilung vorläufig diesen nicht sachgemäßen Namen behalten soll) ins eigentliche Gymnasium; der in die Realschule für technische Befähigung; der in die eigentlichen Professionsschulen, für welche eine vorangehende Realschule nicht nöthig, aber eine angemessene Vorbildung sehr wünschenswerth ist (die übrigens auch für den vollendeten Elementarunterricht offen stehen müßten); zuletzt der Uebergang in’s bürgerliche Leben überhaupt, ohne Rücksicht auf eine besondere Standeswahl, für welchen Fall eben eine mannigfachere Ausbildung nöthig erscheint, als sie durch einen abgeschloß’neren Unterricht gewährleistet wird. Nach den Realschulen beginnt sodann der höhere technische, nach dem Obergymnasium (Lyceum) der Universitäts-Unterricht und die Aufgabe des Verhältnisses zwischen Humanismus und Realismus, die uns für den Mittelunterricht beschäftigte, ist durch die sachgemäße Trennung und Anerkennung beider Elemente für die Praxis im öffentlichen Leben gelöst. Ein Progymnasium dieses Charakters würde vielleicht auch noch den Vortheil bieten, den bei uns mehrfach beklagten Andrang zu den höheren Studien (jedermann glaubt, seine Söhne „studiren“ lassen zu müssen) etwas abzuleiten. Der Staat würde in die erfreuliche Lage kommen, wenigere [S. 123] Proletarier der Universitäten, die nirgends eine nützliche Unterkunft finden, ernähren zu müssen, vielmehr anstatt ihrer eine größere Anzahl und gebildetere Bürger für den ihm so wichtigen Betrieb der Industrie, die ihn selbst ernährt, zu gewinnen. Diese Bemerkungen, weit entfernt, sich eine Bedeutung für Organisationen anmaßen zu wollen, bei welchen wichtige, schon früher angedeutete, positive Rücksichten zu nehmen sind, die nicht vor das Forum dieser akademischen, d. i. rein wissenschaftlichen Behandlung gehören, – wollten nur, durch den Versuch einer Anwendung der theoretisch vorangeschickten Maximen auf die Wirklichkeit ihre praktische Bedeutung veranschaulichen.
Ich kehre von diesen mehr geschichtlichen Excursionen wieder zu dem Faden der Betrachtung zurück, und suche die Resultate auszumitteln, die uns beide gegeben haben, um über die Fragen des Ganzen abschließen zu können.
In der Anlage und Bestimmung des Menschen, dieses Mittelgliedes zweier Welten, hat sich uns nun einmal eine Doppelrichtung seiner Bildung, entsprechend einem Doppelbedürfnisse seines Wesens, ergeben. Die beiden Elemente dieses Wesens müssen anerkannt werden. Die menschliche Bildung hat beiden Rechnung zu tragen. Sie hat die Aufgabe, ihn für seine irdische Brauchbarkeit und für seine ewige Bestimmung zu befähigen. Das Bewußtsein dieser Aufgaben gab sich in der Geschichte des Unterrichtes durch die Ansprüche der Humanismus und Realismus kund. Welcher von beiden der höhere ist, kann nicht bezweifelt werden. Man ist Mensch, ehe man [S. 124] Bürger ist; man ist Mensch, während man Priester, Beamter, Arzt, Gewerbsmann ist. Dieser Anspruch macht vorzüglich für das Jünglingsalter geltend. Betrachten wir die genetische Entfaltung der Anlagen unserer Natur. Die Sinne entwickeln sich zuerst, und verlangen Belehrung im Wege der Anschauung fürs Knabenalter. Die Fantasie wird die waltende Kraft im Jünglingsalter. Sie fordert Ausbildung, denn ihre Leitung entscheidet nur zu oft über das künftige Glück oder Unglück eines menschlichen Daseins. Die Natur hat der Jugend das Ideelle zur Entwicklung zugedacht. Ohne ein hohes Bild in der Seele würde dem Jünglinge die Ehrfurcht mangeln, „die den Menschen erst zum Menschen macht,“ – und verarmt am geistigen Besitze, würde sein Leben und seine Bildung nutzlos dahinschwinden. Und woher soll jenes Bild ihm entstehen, als aus dem untergegangenen Großen, das durch Ueberlieferung in den gebildetsten aller Sprachen, durch das Wegfallen aller alltäglichen Beziehungen, an Zauber nur gewonnen hat? Allein nicht im Buchstaben fließt diese Quelle, sondern im Geiste. Weil man den tödtenden Buchstaben des Alterthums festgehalten, aber den belebenden Geist verbannt hat, darum ist die Klage gegen den Humanismus laut geworden. Man hat dem Jünglinge den Born, aus dem er Begeisterung schöpfen konnte, mit Schulstaub verleidet, und die Art, in der man die Classiker lehrte, schien fast dazu erfunden, von ihrem Studium für immer abzuschrecken. Und doch bleibt der Geist und Sinn, in welchem die Alten lebten und schrieben, für immer das Palladium der Bildung gegen die [S. 125] Barbarei. Ein zweiter Grund für die frühe Benützung des Humanismus zur allgemeinen Vorbildung liegt in der Aufgabe der Mittelschulen, die Seite des Unterrichtes nahe im Auge zu behalten, die der Erziehung mit angehört, – eine Rücksicht, welche beim Fakultätsstudium, das, mit seinem Principe der Lernfreiheit, auf Erzogene berechnet ist, wegfällt. Erziehung verhält sich zum puren Unterrichte, wie Moral zur Politik. In jener muß diese ihre Grundlage und ihr Endziel finden. In den Werken der Alten liegt dieses Erziehende in der bildendsten Form, – und ein wahrhaft humanistischer Unterricht in diesem Sinne würde uns eine Jugend heranreifen, der man mit Vertrauen jene Freiheit gewähren kann.
Hat sich uns so die Geltung des Humanismus als unabweisliche Berechtigung der Menschheit herausgestellt, so können wir den lauten Anforderungen der Zeit und des Staatslebens unser Ohr nicht verschließen. Das in ihnen wurzelnde Princip des Realismus hat, wenn das erstere befriedigt ist, sein unüberhörbares Recht, und die ihm seit Jahrhunderten vorenthaltene Schuld muß endlich abgetragen werden. Vereinigung, Versöhnung ist also die Antwort auf die Frage von Humanismus und Realismus.
Blicken wir zurück auf dem Weg, den uns die Summe unserer Betrachtungen geführt hat. Wir haben gesehen, wie sich die Begriffe des Humanismus und Realismus in der menschlichen Bildung allmälig erzeugt, wie sie sich wechselseitig erregt, ergänzt und zuletzt zu dem Gegensatze gesteigert haben, der unsere Frage hervorrief; wir haben den Kampf mit angeschaut, den die Geschichte dieser [S. 126] Angelegenheit vor uns entrollte; wir haben die Vorschläge der Trennung, wie die Vorschläge der Vermittlung angehört und geprüft, – wir glauben endlich die Bahn in der Ferne gewiesen zu haben, die allein zum Ziele jener heilsamen Versöhnung führt.
Gelingt es, sie einzuschlagen, so wird der Knabe lange genug des Glückes einer durch keine Rücksicht beirrten Ausbildung seiner natürlichen Anlagen genießen; der Jüngling die Wahl eines künftigen Berufes, auf Grundlage einer höhern, sittlichen Befähigung, mit vollerer Bürgschaft für die Zukunft beschließen; – der Mann, der, so vorbereitet, sich für seinen Beruf schon entschieden hat, – wenn er dem humanistischen sich weiht, das lebendige Wort durch praktische Anwendung zu verkörpern, – wenn dem realistischen, den todten Stoff durch höhere Beziehungen zu beseelen wissen, – und eine harmonische Bildung wird entstehen. Hat es ein Staat so weit gebracht, so werden Handel und Volkswirthschaft erblühen, die Wissenschaft gedeihen, und die Gesellschaft auf eine Stufe der Entwicklung gelangen, auf welche sie die staatlichen Organisationen allein nie zu erheben im Stande wären. Denn es liegen in der Gesellschaft vielfache, zum Theile noch ungenützte, vielleicht ungekannte Elemente, – außerhalb des Bereiches der bürgerlichen Verfassung – Elemente, welche seit Jahrhunderten ihrer Erweckung gewärtig sind. Sie anzuerkennen, sie in ihren Kreisen wirksam zu machen, – das ist die Aufgabe, durch deren Lösung allein die Menschheit Befreiung von den Banden der Parteiungen, die sie rettungslos zu umschlingen scheinen, [S. 127] hoffen kann, – und, wenn die Welt einen Zweck und die Geschichte eine Bedeutung hat, getrost hoffen darf.
Sittliche Bildung und echte Wissenschaft sind die Regionen, in welchen jene Elemente sich entwickeln. Die Erziehung des Menschengeschlechtes, in einem erweiterten System des Unterrichtes, – die Förderung der Wissenschaften in ihrem freien, allumfassenden Leben, im Sinne echter akademischer Bildung, – bieten in ihrem Schooße reichliche Mittel, jene höchsten aller menschlichen Zwecke zu erstreben. Möchten sie gefunden, und, nach beiden von uns angedeuteten Richtungen genützt, – endlich der Menschheit jenen Frieden bereiten, welchem sie, von den ewig sich wiederholenden Täuschungen politischer und socialer Experimente ermüdet, mit tiefer Sehnsucht entgegenharrt.
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