Wie ich zur Volksbildungsarbeit kam

Titelvollanzeige

Autor/in:

Leisching, Eduard

Titel: Wie ich zur Volksbildungsarbeit kam
Jahr: 1946
Quelle:

Arbeiter-Zeitung, 1. September 1946, S. 3.

Sachdeskriptor: Bücherei / Volksbildungsverein

Dieser Aufsatz ist ein Teil des noch unveröffentlichten autobiographischen Nachlaßwerkes des verstorbenen Verfassers, der, als Direktor des Kunstgewerblichen Staatsmuseums und langjähriger Präsident des Wiener Volksbildungsvereines weit bekannt, als Mitbegründer und Organisator unseres neutralen Volksbildungswesens sich unvergängliche Verdienste erworben hat.

 

Von Jugend auf hatte ich lebhaftes Interesse an den meinem Lebenskreis fernstehenden breiten Volksschichten, die man mit dem harten, ungerechten Wort „untere Klassen“ zu bezeichnen pflegte und die nur allzu viele für minderwertig, für keines höheren Aufschwunges fähig hielten. Wie tief diese Anschauung sogar vor einem halben Jahrhundert in den herrschenden Klassen festgewurzelt war, bewiesen mir Äußerungen eines damals an hoher Stelle in Wien gestandenen altliberalen Mannes, den ich für das von mir im Jahre 1886 begonnene Wiener Volksbildungswerk zu interessieren suchte. Er klopfte mir herablassend auf die Schulter und sagte: „Volksbüchereien wollen Sie errichten und volkstümliche wissenschaftliche und künstlerische Vorträge veranstalten? Sie sind ein jugendlicher Phantast und Schwärmer, kennen aber das Volk nicht; die wollen und brauchen nicht mehr als halbwegs auskömmlichen Lohn, Wein und Bier, Wurstelprater und Heurigenmusik und für die Bildung das „Illustrierte Wiener Extrablatt"." Als ich nach einem Jahre mit unserem ersten Bericht über die erzielten großen Erfolge zu ihm kam, die er nicht in Abrede stellen konnte, sagte er mir immerhin ganz wohlwollend: „Jetzt werden Sie glauben, daß Sie der Gescheitere gewesen sind! Ich aber kenne unser Volk besser und sage Ihnen: die Sache wird sich nicht halten."

Die Sache hat sich gehalten, und zwar in einem Maße, wie es selbst die großen Optimisten in unserem Kreis nicht für möglich gehalten hätten!

Das liberale Bürgertum, dessen Herrschaftsbeginn in meine Jugend fiel, hat sich viel darauf zugute getan, daß die Durchsetzung der allgemeinen achtjährigen Schulpflicht vor allem seiner politischen Einflußnahme zuzuschreiben war. Dieses Verdienst soll nicht geschmälert werden; die Verjüngung und Erstarkung Österreichs, die nach 1866 einsetzte, war zweifellos zum großen Teil jener liberal-bürgerlichen Schulreform mit zu verdanken. Aber man übersah in jenen selbstbewußten, trotz allem weltfremden und doktrinären Zeiten, daß die obligatorische Schulpflicht nur dann wirklich heilbringend sein kann, wenn sich für alle jene, die keine höheren Schulen besuchen können, an den Volkschulunterricht ein mehrjähriger Fortbildungsunterricht obligatorisch anschließt. Aber die Forderung nach der Schaffung mehrjährigen Fortbildungsunterrichtes im Anschluß an die Volksschule drang leider damals in Österreich nicht durch. Es mag sein, daß dieser Widerstand von den kapitalitisch-industriellen Kreisen, die an der Aufrechterhaltung der Jugendarbeit in den Betrieben stark interessiert waren, gefördert wurde. Erst spät und nur widerstrebend wurde die mehrseitige große Gefahr des bisherigen Zustandes erkannt. Dieser Widerstand kam eben daher, daß die herrschenden Klassen die nicht herrschenden für Menschen „minderer Ordnung und minderen Rechtes" hielten, gering befähigt zu geistiger Erhebung, aber auch für gefährlich, wenn sie hätten gehoben werden können. Vielen erschien ihre Niederhaltung als Gewähr der Möglichkeit, sie leichter beherrschen, die Entwicklung ihres Gemeinschaftsgefühles und ihrer Ansprüche ans Leben hintanhalten zu können. Nur auf diese Weise glaubte man auch ihre Arbeitskraft im Interesse der Wirtschaft und damit der Konservierung der überkommenen Gesellschaftsordnung ungehindert verwerten zu können.

Schon in meinen späteren Jugendjahren wurde mir klar, daß die beste Volksschule keineswegs genüge, die heranwachsende Jugend fürs Leben zu ertüchtigen, wie es notwendig und der Volksanlage entsprechend sei. Auf dem Lande beobachtete ich, daß die dort lebende und tätige Bevölkerung zwar ein reiches Wissen vom Naturlauf und eine Fülle praktischer Kenntnisse, die dem Städter völlig fehlen, besitze, sonst aber nur über höchst kümmerliche Elementarbildung verfüge.

Wie aber erstaunte ich über das Maß an Unbildung, das ich auch bei der städtischen Bevölkerung noch zu beobachten Gelegenheit fand, als ich im Jahre 1877 als Freiwilliger bei einem urwienerischen Regiment eingetreten war und die Ergebnisse der vorschriftsmäßig mit den Rekruten über deren Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen abgehaltenen Prüfung kennenlernte. Ein erstaunlich hoher Prozentsatz der eingerückten zwanzig- bis einundzwanzigjährigen Leute schnitt hierin so schlecht ab, daß Offiziere und Unteroffiziere regelrechten Unterricht mit ihnen abhalten mußten. Ich hatte allerdings zu bedenken, daß diese Rekruten (Geburtsjahrgang 1856) nur einiger Jahre der „Neuschule" teilhaftig geworden waren und die meisten von ihnen jenen Volksschichten zugehörten, um deren Fortbildung nach der Schulentlassung sich niemand gekümmert hatte. Viele von ihnen waren in der Zeit vom vierzehnten bis zum einundzwanzigsten Jahr beinahe wieder Analphabeten geworden. Dies erschütterte mich um so mehr, je deutlicher ich im Verkehr mit den Leuten inne wurde, wie viele von ihnen prächtige, frische Menschen waren, die sich gern belehren ließen, wenn man sich ihnen zuwandte, aber aus sich selbst heraus gar keine geistigen Hilfsquellen besaßen. Späterhin, gelegentlich meiner Waffenübungen, ging ich den früheren Beobachtungen nach und erkannte wohl, daß die Elementarbildung der neueren Jahrgänge etwas besser geworden war, das Analphabetentum abgenommen hatte. Aber wenn die Mannschaften überhaupt zu einer Lektüre griffen, so handelte es sich um minderwertige Zeitungen, verdummende Witzblätter und elende Kolportageromane. Anderes und Besseres bekamen sie nie zu Gesicht.

Eines Tages kam unsere Hausgehilfin weinend zu mir ins Zimmer gestürzt, um mich zu bitten, einen sie bedrängenden Bücherhausierer abzuschaffen. Es handelte sich um folgenden, für die damaligen Zeitverhältnisse charakteristischen Fall: Der Agent einer Rahmen- und Bilderfirma, die in den „unteren Ständen" elende Kolportageromane in zahllosen, nicht limitierten Fortsetzungen, deren jede dreißig Kreuzer kostete, mit größtem Erfolg vertrieb, hatte vor Monaten dem Mädchen die ersten Lieferungen eines solchen Machwerkes aufgeschwatzt. Als die Hausgehilfin die weiteren Hefte (zwei bis drei Druckbogen in bebildertem Umschlag) ablehnte, verwies er auf die Anmerkung des ersten Heftes, daß sich der Abnehmer dieses Heftes zum Bezug aller weiteren verpflichte. Fünfzehn Lieferungen hatte das Mädchen bereits abgenommen und hiefür 4 Gulden 50 Kreuzer bezahlt; nun wurde ihr die Sache zu arg. Ich drohte dem Agenten mit einer Erpressungsanzeige und wies ihm die Tür. So wurde damals um die Mitte der achtziger Jahre das allmählich leselustig gewordene Volk auf die schändlichste Weise ausgebeutet. Eine Genugtuung bereitete es mir und meinen Freunden, daß die berüchtigte Firma, die mit ihrem Handel Millionen verdient hatte, späterhin zugrunde ging, als wir mit unseren Volksbibliotheken nahezu unentgeltlich viele tausende Menschen für gute geistige Nahrung gewonnen und damit den verbrecherischen Zugriffen jener Ausbeuter entrissen hatten.

Zeitgerecht war von Adam Müller-Gutenbrunn (Schriftsteller und erster Direktor des Stadttheaters, heute Volksoper. Die Redaktion.), mit dem ich in naher Beziehung stand, in der Flugschriftenserie „Gegen den Strom" unter dem Titel „Die Lektüre des Volkes" eine Schrift veröffentlicht worden, mit der er gegen die Hugo-Schenk-Romane und andere auf die niedersten Instinkte spekulierenden, blutrünstigen und pornographischen literarischen Machwerke zu Felde zog.

Schon vorher hatte ich in Rannersdorf bei Schwechat, wo ich durch Jahre im Sommer weilte und im dortigen Oberlehrer einen verständigen Volksfreund kennenlernte, aus eigenen bescheidenen Mitteln und mit Unterstützung von Verwandten und Freunden eine kleine Volksbibliothek von etwa 150 Bänden errichtet, die, in der Schule untergebracht und vom Lehrer geführt, sehr rasch Anklang in der Arbeiterschaft und in den bäuerlichen Kreisen fand.

So war es begreiflich, daß mich die Tätigkeit des in den ersten achtziger Jahren in Linz vom Lehrer Holzer ins Leben gerufenen Oberösterreichischen und die 1885 erfolgte Gründung des Allgemeinen Niederösterreichischen Volkbildungsvereines aufs lebhafteste interessierte und zur Mitarbeit bewog. Die Begründer des letzteren waren: der Lehrer Hütter, die Gymnasialprofessoren Anton Stitz (später Direktor des Wasa-Gymnasiums) und Josef Wichner (ein begabter, Rosegger nahe verwandter Volksschriftsteller) und der Notar Dr. Pollhamer (ebenfalls ein Dichter, in jungen Jahren mit Grillparzer befreundet). Ich wurde sofort einer der Wiener Vertrauensmänner und Helfer des Kremser Vereines und trat in dessen Vorstand ein. Meine Aufgabe war es zunächst, aus Wien Geld nach Krems zu schaffen. Bald aber plante ich die Gründung eines Wiener Zweigvereines, der die Unterstützung des Allgemeinen Niederösterreichischen Vereines so lange als möglich fortsetzen, aber sogleich auch selbstständige Tätigkeit auf dem Gebiet des Bücherei- und Vortragswesens entfalten sollte. Schon im Sommer 1886 traf ich die Vorbereitung zur Konstituierung des Vereines, im Jänner 1887 trat er ins Leben und sofort in fruchtbare Arbeit ein, die sich im Fluge die Herzen ungezählter tausender bildungseifriger Menschen gewann. Geld hatten wir zunächst wenig, das machte uns aber geringe Sorgen. Denn wir stellten die gesamte Tätigkeit auf freiwillige Leistung, gewannen die Mitwirkung vieler bedeutender Persönlichkeiten, die zu jedem Opfer bereit waren. Ehrgeizlinge, die etwa persönlichen Vorteil aus ihrem Eintritt in die rasch zu großer Volkstümlichkeit gelangte Bewegung hätten ziehen wollen, kamen nicht zu uns, und wenn sich solche eingedrängt hätten, würden wir sie rasch entfernt haben. Diese unsere Einstellung hat uns das Vertrauen des Volkes verschafft und erhalten. Alle Teilnehmer an unserem Werke, die Gebenden und Empfangenden, sind durch ihr Zusammenwirken emporgehoben und veredelt worden.

 

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

 

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