Autor/in: | Penck, Albrecht |
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Titel: | Wiener Vorträge und Berliner Folgen |
Jahr: | 1927 |
Quelle: | Leisching, Eduard (Hrsg.): 40 Jahre Wiener Volksbildungs-Verein 1887-1927 (= Denkschrift mit Beiträgen von Mitarbeitern sowie Hörern und Lesern von einst und jetzt), Wien 1927, S. 67-69. |
Denke ich an meine Tätigkeit im Wiener Volksbildungs-Verein, so sehe ich Bilder vor mir. Ich sehe den Vortragssaal und vor mir die Hörer. Es ist 1892, das Jahr der 400-Jahresfeier der Entdeckung Amerikas. Die Wiener Arbeiterschaft soll über deren Bedeutung aufgeklärt werden. Wir sind an einem Sonnabend draußen vor der Marxerlinie in einem Ballokal. An den Wänden auf farbigem Grunde gemalte tanzende Figuren, nicht in pompejanischer Art, sondern recht vulgär. Der Saal ist voller Menschen. Mir waren neben den anderen Rednern 20 Minuten eingeräumt. Ich schildere, was die neue Welt uns gegeben, und vergesse – die Kartoffel. Andächtig lauscht die Menge. Ein Säugling, den die Mutter mitgenommen, beginnt zu schreien. Den [ sic!] Menge ruft: “pst”. Die Mutter reicht ihm die Brust, das Kleine wird stille. Auch die Menge beruhigt sich und lauscht andächtig weiter.
Das erstemal sprach ich, wie in der Regel an einem Sonntag, in der Stadt im 1. Bezirk im alten Rathaus. Der Saal ist gesteckt voll. Alle Sitze sind eingenommen; davor stehen Leute in dichten Reihen. Ein Mann mit der sprichwörtlichen schwieligen Arbeiterfaust dicht vor mir hat die Hände gefaltet. So steht er da, unbeweglich, als sollte er photographiert werden. Ich spreche von der großen Eiszeit und den Millionen Jahren geologischer Zeit. Ich lenke den Blick auf die Größe zu der Zeit, und die Hörer folgten mir.
Ein andermal habe ich im Gemeindehause des 3. Bezirkes gesprochen. Wieder vor dicht gescharter Menge. “Wir sind alle Arbeiter” sage ich, “die einen arbeiten mit der Hand, die anderen mit dem Kopfe. Der Bauer pflügt und erntet im Schweiße seines Angesichts. Der Chemiker Liebig hat gelehrt, daß man durch den Fruchtwechsel die Brache vermeiden kann und dadurch ein Viertel des Landes der Ernährung der Bevölkerung nutzbar machen kann. Auch er war ein Arbeiter, so wie ich es bin.” Nicht enden wollender [S. 67] Beifall zeugte, daß ich das Richtige getroffen, indem ich mich öffentlich als das hinstellte, was ich mein Leben lang gewesen bin, als einen Arbeiter.
Worüber ich in Meidling gesprochen habe, weiß ich heute nicht mehr, aber lebhaft steht der Raum vor mir: die Turnhalle. Dort stand ich als Vortragender, so wie ich es immer tue, aber auch die Hörerschaft mußte stehen bis auf diejenigen, die auf Leitern, Barren und Reck Sitze gewonnen hatten. Ein Hörer hustete, die anderen wurden unwillig darüber. Ich sehe ihn. Ein elend aussehendes Gesicht, ein Kranker. Er mußte husten und die Menge wollte es nicht dulden; sie war begierig, zu hören, und wollte nicht gestört werden.
Auch draußen in Favoriten habe ich gesprochen. Immer dasselbe Bild: eine lautlose Hörerschaft, immer andächtig lauschend, dankbar für das, was ihr geboten ward.
Aber dankbar war auch ich, der Vortragende. Der Zwang, verständlich zu sein, nötigte mich, deutsch zu sprechen und unnötige Fremdwörter zu meiden, die aus Bequemlichkeitsgründen in Fachkreisen so oft unterschlüpfen. Lese ich heute, was ich zu Beginn meiner akademischen Laufbahn vor mehr als 40 Jahren geschrieben habe, so bin ich manchmal erschrocken, wie oft ich damals Wörter aus dem Lateinischen oder Französischen gebraucht habe. Längst geht es auch ohne sie. Ich habe deutscher schreiben gelernt. Beim Reden habe ich immer den Blick auf die Hörerschaft gelenkt, nicht auf den einen oder anderen, sondern auf die Gesamtheit. Ich las an ihren Augen, wenn ich unverständlich gewesen war, dann wiederholte ich in zweckmäßiger Weise das Gesagte und wurde gewahr, daß die fachliche Ausdrucksweise, die wissenschaftliche Nomenklatur, nicht verstanden war. Man muß sie in volkstümlichen Vorträgen tunlichst meiden. Tut man dies, und kann man dies, so kann man ganz schwierige Probleme behandeln, für deren Erfassung mehr der gesunde Menschenverstand, als fachliches Wissen in Betracht kommt. Der volkstümliche Vortrag kann in die Tiefe gehen, aufmerksame Hörer werden ihm folgen, aber die Gelehrtensprache darf nicht angewendet werden. Es ist eine seichte Popularisierung, die mit Fachausdrücken um sich wirft. Sie blendet den Hörer, aber bietet ihm nichts. An den Gesichtern meiner Hörer habe ich nicht nur gemerkt, wenn ich unverständlich war, weil ich mich einer ihnen unverständlichen Sprache bediente, sondern mehr als einmal habe ich in ihnen auch gelesen, wenn die Sache, die ich vortrug, nicht klar lag, und manche innere Klarheit habe ich gewonnen, wenn ich das Vorgetragene mir hinterher noch einmal zurechtlegte. Sogar auf wissenschaftliche Unstimmigkeiten bin ich dabei gekommen. Volkstümliches Vortragen gehört zur Erziehung des akademischen Lehrers.
An dem Kampfe des Volksbildungs-Vereines mit der Gemeindevertretung um Gewährung von Hörsälen habe ich nicht teilgenommen, aber aus vollem Herzen begrüßt, als die Universität volkstümliche Universitätskurse einrichtete. Ludo Hartmann war, wie so häufig, die treibende Kraft. Mich bestellte der Senat zum Leiter und gab mir den Wunsch mit, zu bremsen. Das war manchmal notwendig, wenn Hartmann seinen Blick zu einseitig auf einen bestimmten Kreis [S. 68] von Vortragenden richtete. Ich schlug dann bessere Redner vor. Manchen Kollegen habe ich damals bestimmt, sich an den volkstümlichen Universitätskursen zu beteiligen. Hartmann erkannte dies, und wir haben in wahrhaft harmonischer Weise immer zusammengearbeitet. Meinen letzten Vortrag in Wien hielt ich im Volksheim, der Schöpfung Hartmanns, und als er nach Berlin als österreichischer Gesandter kam, da hielt er den ersten Gastvortrag an der Berliner Universität, zu dem ich ihn aufgefordert hatte.
Meine Wiener Jahre waren Lehrjahre auf dem Gebiete des Volksbildungswesens, die mir in Berlin zustatten kamen. Hier gab es keine volkstümlichen Kurse, veranstaltet von der Universität, sondern ein Verein von Hochschullehrern hielt solche ab, auf eigene Faust. Nur ein Institut der Universität hatte volkstümliche Arbeit zu leisten: das Institut für Meereskunde, dessen Leitung ich übernahm. Ich habe auch da öfter volkstümliche Vorträge gehalten, aber die Hörerschaft war eine andere, als in Wien. Dort sprach ich zu Arbeitern, in Berlin zu einem bildungsbedürftigen Mittelstand. Die Arbeiter haben sowohl die Vorträge des Instituts für Meereskunde, als auch die des Vereines Berliner Hochschullehrer gemieden. Sie fürchteten Belehrung im Sinne einer politischen Partei. Da kam die Revolution! Ende 1918 stellte ich im akademischen Senate den Antrag auf Errichtung einer Volkshochschule. Er wurde angenommen, aber die Regierung mit dem Kultusminister Hoffmann griff den guten Willen der Universität nicht auf. Wohl aber schlossen sich an die Vorträge des Institus für Meereskunde solche für Arbeitslose, die der sozialistische Stadtverordnete Sassenbach wünschte. Meine Wiener Erfahrungen eröffneten mir das Verständnis für seine Absichten. Ich wirkte mit ihm in ähnlicher Weise zusammen, wie seinerzeit in Wien mit Ludo Hartmann, obwohl wir uns nur selten sahen. Wir beide standen an der Wiege der Volkshochschule Groß-Berlins; verwirklicht wurde sie von Alfred Merz, einem Wiener, der mir nach Berlin gefolgt war. Er stellte der Volkshochschule das Ziel, die Ehrfurcht vor der Wissenschaft zu wecken. Damit ist das Programm aller volkstümlichen Bildungsbestrebungen für den Hochschullehrer klar umrissen. Er ist nicht geeignet, dem Mann aus dem Volke Kenntnisse beizubringen, er kann ihm weder lesen, schreiben, noch rechnen lehren, er kann ihn nur hineinstellen in die Größe der Welt. Er kann seinen Gesichtskreis weiten, ihn erfüllen mit der Bewunderung dessen, was ihn umgibt, mit der Bewunderung der Schöpfung und dadurch seine Persönlichkeit heben. Dies Ziel habe ich von Anfang an verfolgt. Der Wiener Volksbildungs-Verein gab mir die erste Möglichkeit zur Betätigung in dieser Richtung. Fäden, die in Wien geknüpft waren, sind dann weiter in Berlin fortgesponnen worden. Der Anschluß zwischen Deutschland und Österreich ist auf diesem Gebiete erreicht.
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