Autor/in: | Jodl, Friedrich |
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Titel: | Was heißt Bildung? (Auszug) |
Jahr: | 1909 |
Quelle: | Nach einem Vortrage, gehalten am Eröffnungstage des Volksbildungshauses, Wien, V. Stöbergasse 11, am 10. Jänner 1909. Zit. in: Das Wissen für Alle. Volksthümliche Hochschulvorträge und gemeinverständliche Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens, IX. Jg. 1909, S. 65-70. |
Sachdeskriptor: | VHS Margareten |
(...) Was die Schule gibt und anstrebt, ist im vollsten Sinne des Wortes "allgemeine Bildung": Denn es ist dasjenige, was von jedem Mitglied einer Volks- und Kulturgemeinschaft als ein Mindestmaß, als das allen Zugängliche, für alle Notwendige, verlangt und erwartet wird. Aber es ist ein Mindestmaß - wie sich schon daraus ergibt, daß diese obligatorische Form der allgemeinen Bildung mit einer sehr frühen Altersstufe abschließt. Und der weitere Gang der Entwicklung setzt bei der überwiegend großen Zahl der Menschen mit einer Spezialisierung ein. Nachdem der Mensch die Grundlagen seines Menschentums gewonnen hat, muß er sich aneignen, was er für seinen besonderen Beruf braucht, um sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben: Er kommt in die Lehre; oder, wo der Beruf keine besondere Vorbereitung erfordert, direkt in die Arbeit. Und diese berufliche Tätigkeit nimmt die überwiegend große Mehrzahl der Menschen mit sich fort, wie ein Strom, schult sie, macht sie geschickt für irgend eine spezielle Aufgabe, aber differenziert sie auch, verengt ihren Gesichtskreis, höhlt sie gewissermaßen aus, bis zuletzt in vielen Fällen der Mensch hinter dem Berufsarbeiter verschwindet. Die Wirkungen dieser notwendig einsichtig machenden Schulung des Menschen zu beruflicher Tätigkeit sind naturgemäß sehr verschieden, je nach der Beschaffenheit des Berufes selbst, je nach der sozialen und ökonomischen Lage des einzelnen, je nach dem Maße der geistigen Regsamkeit, das in [S. 66] ihm lebt. Die sogenannten freien oder höheren Berufe bringen vielfach durch sich selbst den Menschen mit Bildungselementen aller Art in Berührung; sie lassen ihm auch die Zeit, sich neben und außer dem Berufe mit solchen Dingen zu beschäftigen, die nicht zur Ausübung des Berufes selbst dienen, sondern dem allgemeinen Kulturschatze angehören. Für die sozial weniger günstig Gestellten, denen längere und erschöpfendere Arbeitszeit zugemessen ist, und die oft genug zu kämpfen haben, um nur für die Notdurft des Lebens aufzukommen, ist eine derartige Bildungsarbeit schon viel schwieriger, und sie ihnen bis zu einem gewissen Grade wenigstens zu erleichtern oder sonst Versagtes zu gewähren, ist ja ein Hauptziel unserer volkstümlichen Bildungsbestrebungen. Freilich nicht das einzige: Denn gerade solche Einrichtungen, wie wir sie in dem heute eröffneten Volksbildungshause getroffen haben, und wie sie im Volksheim schon seit längerer Zeit bestehen, gehen darauf aus, auch die berufliche Brauchbarkeit und die vielseitigere Verwendbarkeit eines arbeitenden Menschen zu fördern, indem sie ihm helfen, gewisse Lücken seiner praktischen Ausbildung auszufüllen.
Aber wir müssen den Begriff der Bildung noch weiter spezialisieren, um von ihm aus das Verständnis und die leitende Formel zu gewinnen für jenes lebendige Streben, jenes heiße Bemühen, Bildung zu gewinnen, Bildung zu verbreiten, welches heute durch die ganze Kulturwelt geht und dem auch unsere heimischen Einrichtungen und Veranstaltungen, von denen ich soeben gesprochen habe, in erster Linie zu dienen bestimmt sind.
Gehen wir zurück auf den Anfang unserer Betrachtungen. Bilden heißt formen und gestalten. In Bezug auf den Menschen heißt es, aus einem Rohmaterial von Anlagen den Menschen als Persönlichkeit herausarbeiten. Und da der Mensch nur Mensch wird durch Kultur, durch Berührung mit der Gattungsvernunft, mit den durch die Arbeit der vergangenen Geschlechter angehäuften Geistes-Schätzen, so heißt Bildung: die Fähigkeit, hinauszublicken über den engen Kreis persönlichen Daseins, unmittelbarer Erfahrung, beruflicher und ernährender Tätigkeit, auf den allgemeinen Zusammenhang menschlichen Tuns und Wissens, auf den großen Bau der menschlichen Gedankenwelt, auf die Schöpfungen der Kunst, auf die hehren Gestalten und Ideale des Glaubens. (...) [S. 67]
Bildung macht darum vor allem duldsam, tolerant, weil sie uns verständnisvollen Zugang zu den verschiedensten Betätigungsformen menschlichen Wesens öffnet; und weil ihr in Wahrheit nichts Menschliches fremd bleibt, so wirkt sie notwendig jenem Eifergeist entgegen, für den es immer nur ein Recht gibt, eine Wahrheit, einen Glauben, einen Gott, und der in seiner Beschränktheit übersieht, daß für uns Menschen nirgends das Unbedingte, das Absolute, sondern überall nur das Relative, das Bedingte und Verhältnismäßige vorhanden ist; daß Recht, Wahrheit, Glaube, Religion, nur Formen, nur Begriffe sind, in denen sich ein sehr verschiedener Inhalt bergen kann, und daß das ewige Himmelslicht der Erkenntnis sich für uns notwendig in verschieden gefärbte Strahlen bricht, weil unsere Augen, unser Hirn so konstruiert sind, daß sie nur bestimmte Bestandteile aufnehmen können und andere notwendig ausfallen lassen müssen.
Und so ist Bildung auch der Weg zur sozialen Gerechtigkeit im großen wie im kleinen. Gebildet ist nicht nur, wer eine Ahnung besitzt von den vielgestaltigen Werkstücken und der Art und Weise ihrer Zusammensetzung, die den stolzen Bau unserer Kultur tragen und unseren Zusammenhang mit der Vorwelt vermitteln - gebildet ist auch derjenige, welcher eine Ahnung hat von den Opfern, welche die Kultur fordert, und von den [S. 68] Schwierigkeiten, die Güter der Kultur allen bis zu einem gewissen Grade zugänglich zu machen. Echte Bildung ist das Gegenteil jener verständnislosen Härte, mit welcher das Kind, der Kranke, der Neurasthenische, der Irre, der gefallene und verkommene Mensch, der Mensch mit ungeschickten oder rohen Lebensformen, so oft behandelt werden - der verständnislosen Härte, welche die einzelnen Klassen der Gesellschaft einander und ihren Bedürfnissen entgegenbringen. Ungebildet in diesem Sinne sind Mitglieder der vorzugsweise "gebildet" genannten Klassen ebenso oft, als sogenannte Ungebildete. Man kann vieles gelernt haben, man kann ein ausgezeichneter Spezialist, ein erfolgreicher Forscher auf einem Teilgebiete sein und doch ungebildet; man kann verhältnismäßig wenig wissen und hoch gebildet sein. Und von hier aus zeigt sich uns der gewonnene Bildungsbegriff in neuem Lichte. Bildung ist kein wie immer weit gespanntes und voll gerütteltes Maß von Kenntnissen und Wissen, sondern ist eine aus den gewonnenen Kenntnissen sich entwickelnde Kraft. Die Kraft, im Kleinen das Ganze zu sehen, vom Einzelnen aus die Gesamtheit zu konstruieren; sich am Ausblick auf die ganze Weite des menschlichen Horizonts zu stärken und in der Größe dieses Ausblickes sich und sein kleines Selbst zu vergessen. Es liegt schließlich nichts daran, ob dieser Ausblick etwas weiter reicht oder beschränkter ist - ganz ans Ende sieht niemand, denn der fernste Horizont ist ja nur ein scheinbarer Abschluß für das, was in Wahrheit grenzenlos ist - wenn nur ein Ausblick da ist und gesucht wird, und der Mensch nicht glaubt, das [S. 69] Kämmerchen, in dem er sitzt, mit seinen blinden Scheiben, das sei seine Welt, sei die Welt.
Und von hier aus ergibt sich auch die Korrektur der vorhin von mir ausgesprochenen Behauptung, daß, verglichen mit der Größe und Massenhaftigkeit der zu bewältigenden Kulturgüter, jeder in einem gewissen Sinn ungebildet genannt werden müsse. Unwissend ja; ungebildet nicht: unter der Voraussetzung, daß er durch sein Wissen nicht, wie es so oft der Fall ist, die Geringschätzung für das erwirbt, was außerhalb seines Kreises liegt, sondern den Blick aufs Ganze und das Verständnis für den Wert aller Zweige der weitverflochtenen Kulturarbeit. Wenn wir aber die Bildung so fassen, dann verliert der oft gehörte Vorwurf gegen uns und unsere Bestrebungen: »Was braucht der Arbeiter, was brauchen die unteren Klassen denn Bildung? - sie können nichts damit anfangen und werden dadurch nur unglücklich" - nicht nur allen Sinn, sondern er wird von dem aus betrachtet, was in unserer Kultur bereits Tatsache geworden ist, geradezu eine Ruchlosigkeit. Unglücklich soll der Arbeiter werden, wenn man ihm behilflich ist, sein Menschentum zu entwickeln, die Engigkeit seines Daseins zu erweitern, teilzunehmen an den Schätzen der Kultur? Sich mit Verständnis einzugliedern in den allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang?
Und können denn auch die oberen Klassen, wenn sie ihre Stellung im Staate des allgemeinen Wahlrechts mit einem Quentchen von politischem Verstande auffassen, etwas anderes wollen, dürfen sie etwas anderes wollen, als den im Geiste dieser meiner Darlegungen gebildeten Arbeiter? Kann auf einem anderen Wege das Heil nicht einer Klasse, sondern das Heil und die Gesundheit des sozialen Ganzen gewirkt werden?
Und hier sind wir am Schlusse bei einem Gedanken angelangt, der unsere Betrachtung zu ihrem Ausgangspunkte zurücklenkt. Der Mensch, so hatte ich gesagt, kann nur Mensch werden durch die Berührung mit der Kultur. Gewiß. Aber auch die Kultur kann nur Kultur werden durch die Menschen. Eine Kultur, die nur für wenige da sein wollte, ist ein Widersinn. Nur wenige können im höchsten Sinne schaffen; aber diese wenigen schaffen für viele, für alle. Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid: dieses schöne nazarenische Herrenwort ist der Gedanke jedes echten Kulturträgers - er sei Forscher oder Künstler oder was immer! Er will ja ein Lichtbringer sein und das Licht kennt keine Grenzen in seinem Lauf. Es bringt uns armen Sterblichen Botschaft aus den fernsten Tiefen des Weltraums, Kunde von den stolzesten Sonnen und ihrer Pracht! Eine Kultur, die man zum Monopol einer Klasse machen will, gleicht dem Sonnenstrahl, den man einsperrt, damit er sich nicht verlaufe, damit er nicht Dinge bescheine, die seiner unwürdig sind. Für ihn gibt es aber nichts Unwürdiges: er vergoldet alles, das Hohe und das Niedrige, das Edle und Gemeine. Wo er hintrifft ist Freude und Klarheit und Wachstum und Sterben der giftigen lebenszerstörenden Keime. Er gehört allen, weil auch die Lichtquelle, die ihn ausstrahlt, nur durch die Arbeit, das Leid, die Mühsal, die Entbehrungen aller entstehen konnte. [S. 70]
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