Das Führungswesen im Rahmen der Volksbildung

Titelvollanzeige

Autor/in:

Sterlike, Rudolf

Titel: Das Führungswesen im Rahmen der Volksbildung
Jahr: 1947
Quelle:

Volksbildung im demokratischen Wien. 50 Jahre Wiener Urania 1897-1947, Wien 1947, S. 33-35.

[S. 33] Zu den mannigfachen Bestrebungen, die Volksbildung zu heben, gehören neben Vorträgen, Kursen, Konzerten auch die Führungen. Sie finden seit vielen Jahren im Wirkungsfeld der Wiener Urania eifrige Berücksichtigung und Pflege. Schon nach dem ersten Weltkrieg fand das Programm in dieser Richtung eine erfolgreiche Ausgestaltung, so daß es möglich wurde, nicht nur Führungen im Stadtgebiet zu veranstalten, sondern sie auch unter Ausnützung der verschiedenen Verkehrsmittel weit über die Grenzen Wiens hinaus zu verlegen, und so den Teilnehmern Gelegenheit zu geben, ihren Gesichtskreis zu erweitern, die Heimat und auch fremde Länder kennenzulernen.

Die so schwer getroffene Wiener Urania, die noch dazu durch Bombenschaden den Ausfall vieler Räumlichkeiten zu beklagen hatte, legte sofort nach Beendigung des zweiten Weltkrieges großen Wert darauf, gerade die Führungen in Hinsicht auf ihren bedeutenden Bildungswert wieder zu aktivieren. Nur wenige Mitarbeiter standen zur Verfügung und der Wirkungskreis war anfänglich sehr beschränkt, weil im Stadtgebiet die Verkehrsverhältnisse noch sehr schlecht waren; aber der Anfang war bald gemacht und der zunehmende Erfolg gab den Bestrebungen recht, so daß wir seit Monaten bereits wieder ein eigenes Führungsreferat haben.

Es nahmen an den Führungen Personen aller Stände von 16 bis nahezu 70 Jahren teil, vom Lehrling bis zum Meister, vom Hilfsarbeiter bis zum Betriebsführer, vom Praktikanten bis zum Beamten in höchster Stellung, vom Schüler bis zum Universitätsdozenten. Je nach dem Interessengebiet waren einmal mehr weibliche, das andere Mal mehr männliche Teilnehmer anwesend.

Es war oft geradezu verwunderlich, daß weder Schlechtwetter oder große Kälte, noch schlechte Verkehrsverhältnisse die Teilnehmer abzuschrecken vermochten.

Eines sei ganz besonders hervorgehoben: Vom Bildungswert der Führungen sind alle Teilnehmer überzeugt, was sich auch daraus ergibt, daß sich schon kleine Gemeinden aus denjenigen bilden, die ein Interessengebiet bevorzugen und sich immer wieder zu den Führungen derselben Art einfinden. Aber auch noch eines: Der Bildungswert wird nicht nur von den Teilnehmern gewürdigt, [S. 34] sondern auch von jenen, zu denen die Führung gemacht wird. Wir finden die größte Unterstützung und Bereitwilligkeit, ganz gleich, ob wir zu einem Kunstschmied kommen oder zu einem prominenten Künstler oder in einen Großbetrieb.

Wir unternehmen vor allem Führungen, die der Heimatkunde dienen, die demnach entweder einen mehr geographischen oder einen vorwiegend historischen oder einen besonders naturgeschichtlichen Einschlag haben. Eine andere Art von Führungen sind die technischen Führungen, die uns mit Gewerbe- und Industriebetrieben bekannt machen sollen. Wieder eine andere Art von Führungen wirkt entweder in technischer Hinsicht belehrend und aufklärend oder vermittelt ein künstlerisches Erlebnis. Das sind die Führungen in Ausstellungen und Museen. Dem kunsterzieherischen Gedanken und der Vermittlung des Erlebnisses im Bereich der Kunst sollen aber vor allem die Führungen in Künstlerateliers dienen.

Warum machen wir eigentlich Führungen?

Die Führungen wenden sich im Gegensatz zu den Vorträgen an einen kleineren Teilnehmerkreis. Es handelt sich dabei um eine kleinere Gemeinschaft, der Erkenntnisse und Erlebnisse vermittelt werden sollen. Schon daraus ergibt sich die Möglichkeit eines größeren und innigeren Kontaktes zwischen Führungsleiter und Teilnehmer und führt zumeist allmählich zu einer Art Arbeitsgemeinschaft, weil auch viel leichter und zwangsloser die Möglichkeit der Fragestellung für die Teilnehmer gegeben ist.

Die Veranschaulichung durch eine Führung wird in weit höherem Maße gefördert als bei Vorträgen. Richtig vorbereitet und gut durchgeführt, erziehen die Führungen zu bewußtem Schauen, denn an die Stelle des Vortrages und des Dozierens treten die Hinweise und Anregungen zu direkter und augenblicklicher Beobachtung von Vorgängen und Abläufen und leiten damit zur geistigen Selbsttätigkeit und über die Führung hinaus zur Selbständigkeit an.

Die heimatkundlichen Führungen geben den Impuls, die Schönheiten der engeren und weiteren Heimat zu erkennen, die Heimat lieben und schätzen zu lernen und sie später allein oder mit Gleichgesinnten neuerlich aufzusuchen und das unter Führung Aufgenommene zu vertiefen. Die Atelierführungen aber geben Gelegenheit, Einblick in das Schaffen einzelner Künstler zu vermitteln, die Wesenswerte ihrer Werke zu erfassen und die Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Material kennenzulernen. Sie geben aber auch die Möglichkeit, mit Künstlern in Kontakt zu kommen, und aus diesem unmittelbaren Verkehr erwächst ein gesteigertes Erlebnis.

[S. 35] Die Ausstellungs- und Museumsführungen sollen eine erziehliche Aufgabe erfüllen und die Teilnehmer lehren, daß Ausstellungen und Museen nicht durchjagt werden dürfen. Erst dann, wenn sie in Teilgebiete zerlegt werden, wird die Möglichkeit vorhanden sein, im Betrachten der Werke von Ausschnitten des ganzen Stoffgebietes, Wissensbereicherung, Erhebung und Genuß zu finden.

Die Führungen durch Gewerbe- und Industriebetriebe aber sollen Gelegenheit geben, Erkenntnisse zu sammeln und den Gesichtskreis zu erweitern. Darüber hinaus haben sie aber noch einem weit höheren Zweck zu dienen. Sie sollen es den Teilnehmern ermöglichen, die Arbeit fremder Berufe entsprechend einschätzen zu lernen und dadurch von Hochachtung erfüllt zu werden für diejenigen, die unbekannt und ungenannt in stiller Pflichterfüllung in großen Betrieben oder in versteckten kleinen Werkstätten arbeiten, einem Rädchen im großen Uhrwerk vergleichbar.

Zu den Zielen, die wir uns stecken, gehört auch das, unsere Führungen so auszubauen, daß wir sie nicht nur auf das Institut beschränkt sehen wollen, von dem sie den Ausgang genommen haben, auf die Wiener Urania, sondern, daß alle Wiener Volksbildungshäuser an dem Führungsapparat teilnehmen. Auch wenn es nur allmählich möglich ist, so wollen wir doch unseren Aktionsradius vergrößern, getreu dem Dichterwort, das im großen Vortragssaal unserer Wiener Urania zu lesen ist: „Willst du ins Unendliche schreiten, gehe nur im Endlichen nach allen Seiten.“

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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