Autor/in: | Wangermann, Ernst |
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Titel: | Die Bildung Erwachsener im Zeitalter der Aufklärung. Ein Überblick über die Entwicklung in Österreich von 1750 bis 1800 |
Jahr: | 1998 |
Quelle: | Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 9. Jg., 1998, H. 3/4, S. 4-16. |
Schon das Wort „Aufklärung“ verweist auf Bildung, das Hauptanliegen dieser gesellschaftspolitischen und intellektuellen Strömung, die ab etwa 1750 sowohl die öffentliche Meinung als auch die Regierungspolitik in Österreich grundlegend beeinflußte. An der Wende zum 18. Jahrhundert verbreitete sich unter europäischen Gelehrten die Geisteshaltung, daß es notwendig sei, zu wesentlich mehr geprüftem Wissen zu gelangen, es weiter zu verbreiten und die herkömmlichen Forschungsmethoden kritisch zu überdenken, um die Möglichkeiten, die Gott als Schöpfer der „Natur“ der Menschheit eröffnete, optimal zu nützen. Überdies beinhaltete diese Einstellung in vielen Ländern des europäischen Kontinents die Ansicht, daß es galt, die Erfolge Englands auf diesem Gebiet aufzuholen. Daher war das Zeitalter der Aufklärung eine Bewegung für Bildung und Weiterbildung über die Grenzen dessen hinausgehend, was traditionellerweise von den offiziellen Vertretern der angestammten Kirchen gelehrt wurde.1
In den „österreichischen", d.h. nicht-ungarischen Ländern der Habsburgermonarchie kulminierten die absolutistischen Tendenzen nach der Niederschlagung des böhmischen und österreichischen Adelsaufstandes in den 1620er Jahren. Dies hatte zur Folge, daß die politische Rolle der repräsentativen Institutionen drastisch beschnitten wurde und es zu einer Quasi-Monopolstellung der Zentralregierung in Sachen politische und legislative Initiativen kam. So konnte in Bereichen, die politisch oder gesellschaftlich relevant waren, wie der Bildungssektor, ohne Regierungsinitiativen nur sehr wenig getan werden. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts sah sich die Habsburgermonarchie jedoch in einer massiven Krise, die ihren gerade erst erworbenen Status als „Großmacht" bedrohte und sie im Zuge des Siebenjährigen Krieges an den Rand des wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenbruchs brachte.2
Daher initiierte Staatskanzler Kaunitz umfassende Reformen und Umstrukturierungen, die tief in beinahe alle Bereiche des sozialen Lebens eingreifen mußten, sollten sie Erfolg haben. In einem Memorandum an Maria Theresia aus dem Jahr 1761 schrieb er dazu:
„Soll aber der große Endzweck erreicht werden, (sind) nicht nur die vermehrten Ausgaben des Staats und die neuen Schulden zu bedecken, sondern auch diese nach und nach (...) zu tilgen, andurch die Einkünfte des Souverainen zu vermehren, (...) so ist unumgänglich nöthig, das Hülfsmittel nicht bloß stückweis und in einigen Theilen, sondern in dem Ganzen zu suchen und alles zu Hülf zu nehmen, was die Wohlfahrt und die Einkünfte sowohl des Souverains als seiner Landen und Unterthanen befördern kann (...) Es bestehet also die wahre Regierungskunst (...) darinnen, (...) daß seine Lande (...) durch vermehrte Nahrungsmittel bereichert und andurch ihme selbsten die Quellen eines größeren Geld-Zuflusses eröffnet werden.“3
Als einzige Einnahmequellen des Landes führte er Landwirtschaft, Industrie und Handel an. Daraus folgerte er, daß alles, was der Entwicklung dieser drei Quellen hinderlich sei „als ein innerlicher Krebs des Staatskörpers" entfernt werden müßte, während gleichzeitig alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden müßten, um Landwirtschaft, Industrie und Handel als „die einzigen soliden, vernünftigen und christlichen Bereicherungsquellen“ zu fördern und diese zu ihrer Vollkommenheit zu bringen.4
Solche Äußerungen sind von Historikern immer wieder als stereotype Floskeln abgetan worden. Es steht jedoch fest, daß Maria Theresia und ihre Ratgeber, insbesondere die Mitglieder des neuen Staatsrats, der 1761 gegründet worden war, um die Reformen einzuführen und zu koordinieren, Kaunitz´ Formulierungen als konkrete, erreichbare Ziele der Regierungspolitik ansahen und mit beeindruckender Konsequenz praktische Richtlinien für ihre Durchführung ausarbeiteten. Diese Ratgeber überzeugten Maria Theresia auch von der Notwendigkeit, die sich daraus ergebenden Maßnahmen zu genehmigen, die dann weitreichenden Einfluß auf fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gewannen. Selbstverständlich zielten einige unter diesen Entwürfen auf eine grundlegende Reform des Bildungswesens. Diese Reformen waren der Regierung ein so dringendes Anliegen, daß sie sich nicht darauf beschränken wollte, nur die (Aus)Bildung der heranwachsenden Generation zu verbessern, die später in den Produktionsprozeß eingegliedert würde. Die Regierung wollte schnellere Resultate erzielen, indem sie Maßnahmen auf dem Gebiet, das wir heute „in-service training“ nennen, also der Umschulung von Erwachsenen, ergriff.
Bei der Untersuchung dieses Aspekts werden wir uns an die Reihenfolge in Kaunitz´ Memorandum halten und mit den Bemühungen zur Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft beginnen; danach sollen die analogen Maßnahmen zur Förderung von Gewerbe und Handel betrachtet werden.
Beispiel Landwirtschaft
Wie bei vielen anderen Errungenschaften des Zeitalters der Aufklärung machte auch auf dem Gebiet der Landwirtschaft ein Beispiel aus Großbritannien Schule. Um dem katastrophalen wirtschaftlichen Niedergang Irlands seit der Machtübernahme durch das protestanti-[S.
5]sche England gegenzusteuern, wurde im Jahr 1731 die Dublin Agricultural Society gegründet, die ihre Tätigkeitsberichte in Weekly Observations for the Advancement of Agriculture and Manufacture publizierte. Diese Gesellschaft wies nachdrücklich auf ihre unterschiedliche Zielsetzung gegenüber früheren Vereinigungen von Intellektuellen hin:
„Ihre Absicht besteht nicht darin, die Öffentlichkeit mit netten und bemühten Vermutungen zu unterhalten, oder die gelehrte Welt mit sonderbaren neuen Beobachtungen zu bereichern; sondern (...) praktisch anwendbares Wissen aus der Abgeschiedenheit der Bibliotheken und Studierzimmer an die Öffentlichkeit zu bringen (...) Ob sie das mit Hilfe neuer Entdeckungen erreichen, oder indem sie schon Erforschtes publizieren, ob sie das bestehende Wissen erweitern oder es mehr Menschen zugänglich machen, ist dabei für sie völlig belanglos.“5
Nach dem Siebenjährigen Krieg erließ - ganz im Sinne von Kaunitz´ Memorandum – die Regierung unter Maria Theresia einen Beschluß, der nach dem irischen Vorbild zur Förderung der Landwirtschaft die Gründung solcher Gesellschaften in allen Ländern des Habsburgerreiches vorschrieb. Die Aufgabe dieser Gesellschaften bestand darin, Landwirte - und zwar sowohl Verwalter von großen Gütern als auch Bauern – zu ermutigen, die traditionellen Methoden von Ackerbau und Viehzucht, wo immer möglich, durch modernere und ertragreichere Methoden zu ersetzen. Die Landwirtschaft durfte nicht jenen überlassen werden, deren einzige Richtlinie für ihre Arbeit „Ignoranz und die Erfahrung der Vorväter“ war. Daher war es notwendig, die relevanten Informationen systematisch durch entsprechende Publikationen zu verbreiten, Erfahrungen systematisch auszutauschen, neue Erfahrungen auf der Grundlage von praktischen Experimenten zu gewinnen und möglichst vielen Landwirten zugänglich zu machen, damit sie sich selbst von den Vorzügen der neuen Methoden überzeugen konnten.6
Das Ziel einer möglichst weiten Verbreitung von Informationen über landwirtschaftliche Methoden setzte die Überwindung überlieferter Einstellungen und Praktiken der Feudalgesellschaft voraus. Gemäß Statut 16 der Kärntner Landwirtschaftsgesellschaft, die zum Vorbild für alle anderen derartigen Gesellschaften in den Habsburgerländern wurde, „(...) wird kein Rang und kein Standesunterschied bei den Zusammenkünften (der Gesellschaft) wahrgenommen, deswegen wird ein runder Tisch benötigt, der den zusätzlichen Vorteil bietet, daß die Mitglieder dem Sitzungsverlauf besser folgen können.“7
Bald übte die Regierung sogar Druck auf die Gesellschaften aus, traditionelle Beschränkungen zu umgehen und nach dem Schweizer Modell auch die Bauernschaft zu den Sitzungen zuzulassen.8
Im Tätigkeitsbericht der [S.
6] Kärntner Landwirtschaftsgesellschaft vom Jahr 1772 scheint eine Beschwerde darüber auf, daß nur sehr wenige Pfarrer und Lehrer über Landwirtschaft Bescheid wußten. Das hatte weitreichende Konsequenzen für die Ausbildung der Lehrer und Pfarrer – nämlich die Verordnung, daß kein Pfarrer oder Lehrer seine Abschlußzeugnisse erhalten sollte, ohne die vorgeschriebenen Prüfungen über die Grundlagen der Naturgeschichte und der Landwirtschaft bestanden zu haben. Daran wird ersichtlich, daß nun von diesen Stützen der ländlichen Gesellschaft – abgesehen von ihren professionellen Verpflichtungen – auch eine wichtige Funktion im Bereich der Erwachsenenbildung erwartet wurde.9
Es läßt sich nur schwer abschätzen, inwieweit diese Maßnahmen erfolgreich waren. Veränderungen auf dem Sektor der Landwirtschaft erfolgten weiterhin nur sehr schleppend und die Vorurteile der Landbevölkerung saßen tief. Außerdem stellten sich zahlreiche Neuerungen, die von Enthusiasten propagiert wurden, als unpraktikabel oder auf lange Sicht sogar schädlich heraus. Nichtsdestotrotz muß der – wenn auch bescheidene – Erfolg, der erzielt wurde, vor allem in Hinblick auf die Teilung der Allmende und die Einführung von Wurzelgemüse, den Bemühungen, die erwachsene Landbevölkerung weiterzubilden, zugeschrieben werden.
Industrie und Gewerbe
Wenden wir uns jetzt den analogen Maßnahmen zu, die Maria Theresias Regierung zur Förderung der Produktivität der Industrie unternahm. Handwerker und Gewerbetreibende sollten genauso wie die Bauernschaft von der Unzulänglichkeit der bloßen Erfahrung überzeugt werden. Auf diesem Gebiet verließ man sich weniger auf ad hoc Gesellschaften, als auf die etablierten Bildungseinrichtungen in den Städten, die nach 1770 einer allgemeinen und grundlegenden Reform unterzogen wurden. Langfristig wurde darauf geachtet, in die neuen Lehrpläne jene Fächer aufzunehmen, die für die Entwicklung der für das Handwerk und Gewerbe erforderlichen Fertigkeiten relevant waren. Das waren vor allem Angewandte Mathematik, Mechanik und Geometrisches Zeichnen. Bezeichnenderweise wurde diese Lehrplanreform sowohl auf der letzten Stufe der Grundschule, d.h. in der vierten Klasse der Normalschulen, die es in jeder Provinzhauptstadt gab, als auch in der ersten Stufe der höheren Schulen, d.h. den philosophischen Fakultäten der Lyzeen und Universitäten, vorgenommen. Auf beiden Schulstufen war vorgesehen, daß die Ausbildung nicht nur der Schüler- und Studentengeneration zuteil wurde, sondern daß auch Erwachsene, die bereits aktiv im Berufsleben standen, von diesen kostenlos angebotenen Kursen Gebrauch machen konnten. Um das zu ermöglichen, wurden diese Kurse oft an Sonntagen oder Feiertagen abgehalten, oder sie wurden wiederholt, in Zeitungen angekündigt – und natürlich in der Landessprache abgehalten. Kursleiter war entweder der jeweilige Professor für Mathematik und Physik oder ein eigens dafür bestellter Mechaniklehrer. Üblicherweise wurde ihm ein Assistent zur Verfügung gestellt, der bei praktischen Demonstrationen und Experimenten half. Die Finanzierung dieser Kurse wurde nicht vom Studienfonds, sondern vom Kommerzienfonds übernommen.10
Die unterschiedliche Reaktion der Landwirte beziehungsweise Handwerker auf die Versuche, sie von der „Unzulänglichkeit der bloßen Erfahrung“ zu überzeugen und sie beruflich umzuschulen bzw. weiterzubilden, ist höchst aufschlußreich. Auf dem Gebiet der Landwirtschaft waren alle Versuche, über die informelle Propaganda der Gesellschaften hinauszugehen und eigene landwirtschaftliche Lehrgänge einzuführen, völlig erfolglos. Nicht einmal Verwalter großer Güter konnten davon überzeugt werden, daß Landwirtschaft theoretisches Wissen erforderte.11 Im Gegensatz dazu lassen die bruchstückhaften Quellen, die uns erhalten sind, darauf schließen, daß die Kurse [S.
7] in Mechanik bei erwachsenen Besuchern ziemlichen Anklang fanden. Auf der Teilnehmerliste eines solchen Mechanikkurses am Grazer Lyzeum im Studienjahr 1788 sind neben den ordentlichen 20 Philosophiestudenten noch ein Landvermesser, ein Normalschullehrer, ein Goldschmied und sein Lehrling, zehn Tischler, vier Schlosser, zwei Schmiede, ein Brauer und ein Müller angeführt. Vermutlich ist diese Zusammensetzung einigermaßen repräsentativ für die Zuhörer solcher Kurse an anderen Lyzeen und Universitäten.12
Man versprach sich besonders viel von der Wiederbelebung des Edelmetallabbaus. Daher wurden zusätzliche Vorkehrungen getroffen, um Mineralogie und Metallurgie zu unterrichten; und die Beamten, die die Kameralbergwerke leiteten, wurden zur Teilnahme an diesen Kursen verpflichtet. 1763 erfolgte die Gründung einer Bergakademie in Schemnitz, dem Zentrum der wichtigsten Bergbauregion Oberungarns (in der heutigen Slowakei gelegen). Im selben Jahr wurde Thaddäus Peithner aufgrund seines Patents an den Lehrstuhl für Mineralogie an der philosophischen Fakultät der Prager Universität berufen.13 Wie die Mechanikvorlesungen wurden auch seine Vorlesungen in der Landessprache abgehalten und waren für jedermann kostenlos zugänglich. Da dieser Lehrgang den Abbau von Edelmetallen zum Gegenstand hatte und nicht den gewöhnlicher Brennstoffe, genoß er im Gegensatz zu den Mechanikvorlesungen unter den Adeligen ein gewisses Prestige. Interesse daran durfte auch von höheren Standespersonen erwartet werden. Für sie sollten eigene Privat-Collegien eingerichtet werden.
Im Fürsterzbistum Salzburg, das als Teil des heutigen Österreich in dieser Abhandlung berücksichtigt werden soll, wurden ähnliche Maßnahmen getroffen. Wie in Wien wurden auch in Salzburg große finanzielle Hoffnungen in die Wiederaufnahme des Edelmetallabbaus gesetzt. Erzbischof Hieronymus Colloredo (von 1772 bis 1803 Fürsterzbischof von Salzburg) gründete einen eigenen Lehrkurs für Bergbau und Mineralogie und berief dafür Vortragende, die an der Bergakademie in Schemnitz ausgebildet worden waren. Diese hielten ihre Vorlesungen in Salzburg unbezahlt ab (Colloredo war bekannt für seine Knausrigkeit). Die Zuhörerschaft setzte sich neben Studenten, die sich auf eine Laufbahn in der Bergbauverwaltung vorbereiteten, aus „Männern aller Gesellschaftsschichten“ zusammen. Offensichtlich erwartete Colloredo nicht, daß die unbezahlten Vortragenden auch noch Privat-Collegien für Personen von Stand abhalten würden.14
Handel
Auch die unmittelbar nach dem Siebenjährigen Krieg gegründete Real-Handlungs-Akademie steht in engem Zusammenhang mit Kaunitz´ Bildungspolitik. An diesem neuen berufsbildenden Schultyp sollten die künftigen Generationen der Handelstreibenden ausgebildet werden. Aus diesem Sektor ist kein formelles „in-service training“ für bereits im Berufsleben stehende erwachsene Handelstreibende bekannt. Eine Reihe von gleichzeitig durchgeführten Maßnahmen, die sich ganz offensichtlich auf die neue Handelsschule beziehen, sollten jedoch diesen Bereich abdecken. Darunter waren auch private Initiativen, für die in der absolutistischen Monarchie die Genehmigung der Regierung erforderlich war.
1770 gründete der Erfinder und Experimentalphysiker Jakob Franz Bianchi in Wien ein Comptoir der Künste, Wissenschaften und Commerzien. In dieser Agentur wurden alle neuen Handelswaren oder Modelle und Projekte von neuen Produkten angekündigt bzw. ausgestellt, die auch bestellt und gehandelt werden konnten. Die Agentur bot Übersetzungsdienste an, um die Transaktionen zu erleichtern. Bald suchte Bianchi um Erlaubnis an, die Wiener Öffentlichkeit systematisch über die Entwicklung und Verbesserung auf dem Gebiet des Handels zu informieren, d. h. auf diesem Gebiet das zu tun, was die Landwirtschaftsgesellschaften für die Landwirtschaft [S.
8] und die Mechanik- und Mineralogievorlesungen für die Sektoren Gewerbe und Bergbau leisteten. Im März 1771 wurde ihm von der Regierung die Erlaubnis erteilt, eine Wochenschrift zu publizieren, die sowohl alle neuen Erfindungen auf den Gebieten der Künste, Wissenschaften, Handwerk, Hauswirtschaft und Landwirtschaft als auch Tagesnachrichten wie Ankunft und Abfahrt von Schiffen, Marktpreise und neue Handelsbestimmungen bekannt machte. Nach einiger Zeit befaßte sich die Zeitschrift auch mit literarischen und kulturellen Belangen. Unter dem Namen Wiener Realzeitung wurde dies die langlebigste periodisch erscheinende Publikation der österreichischen Aufklärung. Sie bestand bis 1786.15
Kaum hatte Bianchi mit der Publikation seiner Wochenzeitschrift begonnen, als er um Genehmigung ansuchte, die Informationen seiner Zeitschrift durch einen öffentlichen Lesesaal und eine Leihbücherei („Lectur-Cabinet“) zu ergänzen, die wie die Zeitschrift einen kommerziellen Schwerpunkt haben sollte. Der Kommerzienrat betrachtete eine solche Einrichtung als durchaus geeignet, den Handel positiv zu beeinflussen. Ende 1771 konnte daher in der Realzeitung die Eröffnung eines „Lectur-Cabinets“ bekanntgegeben werden. Dieser Vorankündigung zufolge war dessen Hauptzweck, rechtschaffenen Patrioten das Studium der Ökonomie und anderer nützlicher Wissenschaften zu erleichtern in Anbetracht der Tatsache, daß die öffentlichen Büchereien der Stadt für diesen Zweck denkbar ungeeignet waren. Der erste Bibliothekskatalog des „Lectur-Cabinets“ wies 103 Werke über Ökonomie, Handel und Finanzwesen aus, unter anderem Sonnenfels´ „Grundsätze der Polizei-, Handlung- und Finanzwissenschaft“, die Pflichtlektüre für wirtschaftliche und administrative Studien an allen Universitäten Österreichs. 1773 eröffnete Bianchi eine ähnliche Institution in Brünn, der Hauptstadt Mährens.16
Schulreform
So viel zu den Initiativen der Erwachsenenbildung, die aus dem Bestreben entstanden, die erwarteten positiven Auswirkungen der Bildungsreform auf die Wirtschaft vorwegzunehmen. Wir wollen uns nun einer Maßnahme zuwenden, die durch die Bildungsreform selbst notwendig wurde. Vor der Reform, die nach dem Siebenjährigen Krieg von der Regierung mit ungewohnter Beharrlichkeit und Ausführlichkeit verfolgt wurde, lag die Dorfschule in der Verantwortlichkeit der Dorfgemeinde und des Pfarrers, die beide der weltlichen Ausbildung wenig Bedeutung beimaßen. Daher war in der großen Mehrheit der Dorfgemeinden der Schulunterricht nicht viel mehr als eine Nebenbeschäftigung des Kirchenorganisten und Dorfmusikers. In den 1770er Jahren erfolgte eine umfassende Reform des Volksschul-[S.
9]wesens, basierend auf den neuen Unterrichtsmethoden, die in Berlin entwickelt und von Johann Ignaz Felbiger, Abt des Augustinerklosters Sagan in Schlesien, für die Bedürfnisse katholischer Schulen adaptiert worden waren. In Wien und allen Provinzhauptstädten wurden Modellvolksschulen (Normalschulen) gegründet. Zusätzlich zu den üblichen vier Klassen wurde an all diesen Schulen eine Klasse geführt, in der angehende Lehrer in der neuen Unterrichtsmethode unterwiesen wurden. Es gibt keine zuverlässigen Informationen über das Durchschnittsalter der auszubildenden Lehrer (Praeparanden), und es läßt sich auch nicht sagen, wieviele Erwachsene sich auf diesen neuen Beruf umschulen ließen.
Bei dieser Reform war die Regierung mit dem Problem konfrontiert, daß viele schon im Dienst stehende Lehrer überhaupt nicht für ihren Beruf ausgebildet worden und wegen ihrer unzureichenden Qualifikation berüchtigt waren. Von ihnen konnte nicht erwartet werden, daß sie anhand von Felbigers „Methodenbuch“ den neuen Prinzipien gemäß unterrichten würden. Genauso wenig konnten sie alle unter Maria Theresias „milder“ Regierung einfach entlassen werden. So entschied man sich, so viele der im Dienst stehenden Dorfschullehrer wie möglich auf die neuen Methoden umzuschulen – eine schwierige und oft frustrierende Aufgabe!
Das grundlegende Prinzip der Umschulung wurde zuallererst vom Tiroler Pfarrer Philip Tangl, dem Pionier der Volksschulreform dieses Landes ausgearbeitet. Tangl hatte in Schlesien Felbigers Methodenbuch vor Ort studiert. Beeindruckt von dieser neuen Methode, forderte er daher im zweiten Absatz seiner „Schulordnung für das Land Tirol“, daß in Zukunft ausschließlich Lehrer, die nach dieser Methode ausgebildet worden waren, eingesetzt werden durften. Er schrieb weiters:
„Es sollen (...) alle und jede bereits in wirklichen Schuldiensten stehende Schul- und Lehrmeister sich des Genusses ihres Stücklein Brotes zwar noch ferner zu erfreuen haben, jedoch aber ausdrücklich verbunden sein und von den Gerichtsobrigkeiten unter Verlust ihres Schuldienstes angehalten werden, sich die Erlernung der neuen Schulmethode und verbesserten Lehrart in irgendeiner Schule, wo diese schon vollkommen eingeführt und in Beobachtung ist, mit Ernste angelegen zu halten, um einen soviel als möglich gleichförmigen Unterrichts-Plan durchgängig zu erzielen.“17
Zwei Jahre später, 1774, wurde diese Regelung auf alle Länder des Habsburgerreiches ausgeweitet, indem sie in Maria Theresias „Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen“ aufgenommen wurde.18 Genaue Untersuchungen über Tirol beweisen, daß diese Regelung in die Praxis umgesetzt wurde. So wurden etwa im Mai 1775 die Lehrer aus sechs Bezirken zu einem Umschulungslehrgang an die Normalschule in Innsbruck beordert. Nur sehr alte Lehrer und solche, deren Moral so berüchtigt war, daß man keine Verbesserung ihres Unterrichts erwarten konnte, wurden nicht zur Fortbildung geschickt. Die Unterhaltskosten der Lehrer mußten für die Dauer des Lehrgangs von ihrer jeweiligen Dorfgemeinde aufgebracht werden; der Tagsatz dafür betrug 24 Kreuzer.
In den folgenden Jahren wurden die Lehrer des Inntals und Wipptals zur Fortbildung einberufen. Es gab vehemente Proteste – sowohl von Seiten der Lehrer wegen der Unannehmlichkeiten als auch von Seiten der Dorfgemeinden wegen der Kosten. Obwohl einige der Proteste Dispensierungen nach sich zogen, wurden von 1774 bis 1779 an der Innsbrucker Normalschule elf Umschulungskurse abgehalten, an denen insgesamt über 300 im Dienst stehende Lehrer teilnahmen. Diese Kurse dauerten zwischen eineinhalb und zwei Monaten bei täglich fünf Stunden theoretischem und praktischem Unterricht, und sie schlossen mit einer Prüfung und der Verleihung eines Zeugnisses ab. Die Schulinspektoren sollten die umgeschulten Lehrer kontrollieren und ihnen helfen, das Gelernte beim Unterrichten umzusetzen. Seit 1779 wurde den besten Schulen [S.
10] des Landes das Prädikat „Musterschule“ verliehen; an diesen Schulen konnten Lehrer, die nicht nach Innsbruck gereist waren, kürzere und eher informelle Umschulungskurse besuchen, die der „Musterlehrer“ geringfügig abgegolten bekam. In den Jahren 1782 und 1783 wurden schließlich die Dorflehrer des armen und entlegenen Pustertals auf Umschulungskurse an die Musterschule in Sillian geschickt. Diese Kurse, die der tatkräftige Schulinspektor Ignaz Mattinger organisierte, bildeten im großen und ganzen den Abschluß des Umschulungsprogramms in Tirol.19 Gemäß der Allgemeinen Schulordnung von 1774 benötigten nun auch Privatlehrer ein Zeugnis über den erfolgreichen Besuch des Lehrkurses, um weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen zu dürfen. Diese Bestimmung wurde erstmals 1787 in Tirol durchgeführt und hatte die „Einberufung“ von Hauslehrern ohne ein solches Zeugnis zur Folge.20 Inwieweit all diese Maßnahmen die einheitliche Anwendung der neuen Unterrichtsmethoden in der Volksschule gewährleisteten, läßt sich nur vermuten.
Initiativen von Privatpersonen
Bis jetzt haben wir die Bemühungen hinsichtlich der (Weiter)Bildung von Erwachsenen betrachtet, die direkt aus dem umfassenden Reformprogramm der Regierung unmittelbar nach dem Siebenjährigen Krieg hervorgingen. Anders ausgedrückt, war bis jetzt von Erwachsenenbildung als Ergebnis von Regierungsmaßnahmen die Rede. In dem Ausmaß, in dem diese Bemühungen erfolgreich waren und tatsächlich das Bildungsniveau und das Wirtschaftsleben positiv beeinflußten und bei gewissen Bevölkerungsschichten Bildungshunger, Lust am Lesen, Diskutieren und kritischen Reflektieren weckten, bereiteten sie den Weg für Eigeninitiativen von unten, d. h. Maßnahmen von Einzelpersonen oder Gruppen ohne Anstoß oder Unterstützung seitens der Regierung. Auf diese Eigeninitiativen soll im folgenden näher eingegangen werden.
Lektur-Kabinette
Als Immanuel Kant 1784 die Aufklärung als das Heraustreten des Menschen aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bezeichnete, drückte er das aus, was der Leser im Zeitalter der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts durch die Lektüre aller verfügbarer Literatur zu erreichen versuchte. Lesen, Reflektieren und Diskutieren waren für die Aufklärer nicht bloß Unterhaltung, sondern unterhaltende und stimulierende Beschäftigungen, die zu geistiger Reife und Emanzipation führen sollten. In Anbetracht der Menge und der Kosten der Lektüre, die bewältigt werden mußte, war die Lesegesellschaft eine für das Zeitalter der Aufklärung typische Vereinigung. Eine solche Lesegesellschaft unterhielt einen Lesesaal, ein Kaffeehaus und eine Leihbücherei; [S.
11] Mitglied wurde man durch Zahlung des Jahresbeitrags. Der erste solche Verein wurde in Wien im Jahr 1776 unter dem Namen „Lectur-Cabinet“ gegründet und wurde als preisgünstigste und angenehmste Methode angepriesen, um „mit den großartigen Ereignissen des Weltgeschehens und dem Fortschritt des menschlichen Geistes in den Wissenschaften und Künsten mitzuhalten“. Der Mitgliedsbeitrag betrug jährlich 12 Gulden für den Zutritt zum Lesesaal und 18 Gulden für die Leihbücherei. Im Jahr 1777 übernahm Wiens größter Drucker und Buchhändler Johann Thomas Edler v. Trattner das „Lectur-Cabinet“. Die Bibliothek führte weiterhin sowohl die bekanntesten österreichischen, deutschen und ausländischen Zeitungen und Periodika, als auch eine beeindruckende Anzahl von Büchern in den Bereichen Philosophie und Ästhetik, Dichtung und Theater, Wissenschaften und Belletristik in Deutsch, Französisch und Englisch.21
Das „Lectur-Cabinet“ in Wien ist der einzige lückenlos dokumentierte Leseverein des Habsburgerreiches, doch zweifellos gab es solche Vereine auch in anderen Städten.22 Man kann sogar mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß jede Freimaurerloge ihren Mitgliedern eine solche Einrichtung zur Verfügung stellte. Ab den 1770er Jahren gab es zumindest eine Loge in jeder Provinzhauptstadt. Die Auswahl der Lektüre, die den Mitgliedern geboten wurde, richtete sich danach, welcher Freimaurertradition sich die einzelne Loge verpflichtet fühlte. Die Logen der Strikten Observanz mit ihrer Betonung des mystischen Elements, konzentrierten sich wohl auf esoterische Literatur von geringem allgemeinbildendem Wert. Österreichs führender Freimaurer hingegen, der Mineraloge Ignaz Edler v. Born, der 1782 bis 1786 Meister vom Stuhl der angesehenen Loge „Zur wahren Eintracht“ war, schränkte das mystische Element ein und legte das Schwergewicht auf vernünftige, wissenschaftliche und erzieherische Aktivitäten. Born war in Siebenbürgen geboren und hatte seine Laufbahn in der Verwaltung der Königlichen böhmischen Bergwerke begonnen. Er veranlaßte die Prager Freimaurer zur Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaft, deren Haupttätigkeit darin bestand, der Öffentlichkeit die neuesten Forschungsergebnisse in einer wöchentlichen Publikation zugänglich zu machen. Diese Zeitschrift erschien ab 1775 unter dem programmatischen Titel Abhandlungen einer Privatgesellschaft in Böhmen zur Aufnahme der Mathematik, der vaterländischen Geschichte und der Naturgeschichte.23 Nach seiner Übersiedlung nach Wien versuchte Born, die Loge „Zur wahren Eintracht“ zu überreden, dieselbe Richtung einzuschlagen. Er schlug vor, die Sitzungen, die bisher dem Verlesen von Regelungen und der Besprechung des Zeremoniells (Instruktionslogen) gewidmet waren, in Zukunft zugunsten des Verlesens und Be-[S.
12]sprechens von Abhandlungen über Ethik, Mathematik und Naturwissenschaften im weitesten Sinne (Übungslogen) aufzugeben. Es sollten auch Mitglieder anderer Logen zu diesen Zusammenkünften eingeladen werden, und Abhandlungen über allgemeinbildende Themen, die auch für Nicht-Mitglieder informativ und unterhaltend waren, sollten veröffentlicht werden. Diese Vorschläge wurden in einem demokratischen Verfahren diskutiert und danach von der Mehrheit der Logenmitglieder befürwortet. Hierbei war die Ansicht Karl Haidingers, eines Fachkollegen Borns, charakteristisch und für die Bestrebungen der Erwachsenenbildung richtungweisend:
„Ich kenne daher keinen Unterschied zwischen profanen und Maurerischen Wissenschaften, und sehe nicht, warum man fürchtet, die Maurerey aus dem Gesichte zu verlieren, wenn man die Behandlung was immer für einer Wissenschaft sich vorgesetzt hat. Jede Wissenschaft ist Licht, und dieses muß der Maurer suchen. Ist das Studium der Geometrie ein dem Maurer angebotenes Geschäft, warum soll es nicht eine eben so Maurerische Arbeit seyn, ihre Töchter Physik, Naturgeschichte, Astronomie, Mechanik etz. zu studieren. Wenn der Maurer Nutzen schafft, so hat er seinen edelsten Zweck erfüllt, er muß für die profanen wie für seine Brüder arbeiten, daher ist jede nützliche Entdeckung in jeder Wissenschaft eine dem Maurer wünschenwerthe Sache.“24
Mit der Ausführung von Borns Vorschlag zur Förderung der Wissenschaften im Sinne Haidingers stellte die Loge „Zur wahren Eintracht“ einen Ersatz für das bis dahin noch nicht realisierte Projekt der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften dar. Die Arbeit dieser freimaurerischen Akademie war durchaus nach außen hin orientiert, da sie sich als Bildungsmotor der Gesellschaft verstand. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit der „einträchtigen Freunde“ wurden zur Information und zur Erbauung ihrer Mitmenschen veröffentlicht. (Physikalische Arbeiten der einträchtigen Freunde in Wien, 7 Ausgaben/Folgen, 1783-87).25
Wie einflußreich dieser Geist in der Freimaurerei des Habsburgerreiches war, macht die Tatsache ersichtlich, daß die Loge St. Andreas im siebenbürgisch-sächsischen Herrmannstadt sich ebenso wie viele andere Logen in eine gelehrte Gesellschaft verwandelte, ausgestattet mit Bibliothek, Lesegesellschaft, botanischem Garten und Mineraliensammlung, wenngleich wegen ihrer geringen Ressourcen in kleinerem Maßstab. Die Mitglieder verliehen ihrer Überzeugung Ausdruck, daß gemeinsame wissenschaftliche Tätigkeit erfolgreicher sei als individuelles Studium und daß Geographie, Wirtschaft und Geschichte Siebenbürgens es wert seien, erforscht zu werden.26
Salzburg mußte auf seine Lesegesellschaft bis zum Auftreten Lorenz Hübners, des bayrischen Aufklärers und Publizisten, warten. Er kündigte ihre Gründung 1784 mit den mittlerweile zu solchen Anlässen schon oft strapazierten Phrasen an – die Einrichtung würde die Entwicklung „einer landesgedeihlichen Aufklärung“ fördern. Der Mitgliedsbeitrag von 12 Gulden ermöglichte die Anschaffung von nicht weniger als 79 Periodika. Diese spiegelten wohl Hübners Sympathien für die Illuminaten wider, die der Grund war, warum er Bayern verlassen hatte müssen, wo diese rationalistische und literaturfördernde geheime Gesellschaft streng verfolgt wurde.27
Die „Deutsche Union“
Wir haben gesehen, wie die Reformbestrebungen der aufgeklärten absolutistischen Herrscher und aufgeklärten Bürger sich überschnitten und parallele und einander ergänzende Bildungsergebnisse erbrachten. Diese fruchtbare Zusammenarbeit dauerte nicht lange. Um 1800 hatte sie praktisch schon geendet, da hinter den einander ergänzenden Maßnahmen zwar sich überlappende, aber nicht identische Zielsetzungen standen. Die Herrscher waren in erster Linie um Effizienz in der Produktion und [S.
13] bereitwillige Kooperation der Untertanen mit der Regierung bemüht. Sie waren zwar bestrebt, einen gewissen Grad an geistiger Selbständigkeit herbeizuführen, aber nicht mehr, als notwendig war, damit den Absichten der Regierung gemäß althergebrachte minderproduktive Arbeitsmethoden aufgegeben wurden. Die aufgeklärten Bürger wollten ebenfalls die Produktivität mit Hilfe der vernünftigen Anwendung von mehr und nützlicherem Wissen steigern. Aber je mehr sie und ihre Zuhörerschaft ihre kritischen Fähigkeiten schärften, desto weniger waren sie bereit, ihre kritische Aufmerksamkeit allein auf die Arbeitsprozesse zu beschränken, die für das Reformprogramm relevant waren. Schon bald erwachte in ihnen das Verlangen, eine kreativere Rolle zu spielen als die gutgeölter Zahnräder in einem Getriebe. Sie wurden sich ihres Wunsches nach moralischer und politischer Selbstbestimmung bewußt und waren bald von ihrem Recht auf Selbstbestimmung überzeugt, was sie auch offen zum Ausdruck brachten. Diese unterschiedlichen Auffassungen kamen in einer Meinungsverschiedenheit über die Bildungsreform der späten 1780er Jahre zum Ausdruck. Dem Reformkaiser Joseph II war es ein Anliegen, daß seine Untertanen gebildet genug waren, um tatkräftig bei politischen Maßnahmen, über die er selbst entschied, mitwirken zu können. Sein aufgeklärter Vorsitzender der Studienhofkommission, Gottfried van Swieten, bestand jedoch darauf, Methoden und Wissen zu vermitteln, die das kritische Denken fördern und der Allgemeinheit den Weg ebnen würden, sich mit öffentlichen Angelegenheiten zu befassen.28 In anderen Staaten, vor allem im Bayern Karl Theodors und im Preußen Friedrich Wilhelms II, traten diese Meinungsverschiedenheiten drastischer zutage als in Österreich. Dort versuchten einige Minister und Ministerien, die Rede- und Pressefreiheit einzuschränken und die orthodoxen Lehrsätze wieder verbindlich zu machen, die längst von den Aufklärern aufgegeben worden waren. Aber als dies geschah, hatten die Aufklärer bereits genug Selbstvertrauen in ihren Status und Einfluß, um gegen einen solchen Richtungswechsel in der Regierungspolitik Widerstand zu leisten. In derart zuversichtlicher Stimmung rief der rationalistische Theologe und Pädagoge Karl Friedrich Bahrdt 1787 eine literarische Korrespondenzgesellschaft, die „Deutsche Union“, ins Leben. Ihre Zielsetzung war, der in Bayern und Preußen wiedererstarkenden religiösen und politischen Orthodoxie entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck sollten die Produktion und Verbreitung von Aufklärungsliteratur intensiviert werden.
Die Union sollte aus einem kooperativen Selbstverlag, einer Autorengemeinschaft, die die Bücher schreiben, und einem dichten Netzwerk von Lesegesellschaften, die sie kaufen, lesen und diskutieren würden, bestehen. An der Reaktion auf Bahrdts Initiative zeigt sich, daß er das Selbstvertrauen und den Kampfgeist der Aufklärer nicht überschätzt hatte. Er erhielt auf seine Einladung zum Beitritt über hundert Zuschriften allein aus den Ländern des Habsburgerreiches, die vor allem dem Wunsch nach mehr Lesegesellschaften Ausdruck verliehen. Der aus Reutlingen eingewanderte Georg Philip Wucherer, der führende Verleger kritischer politischer Bücher im Wien Josephs II, erklärte sich bereit, als Vertreter der Union für das Gebiet Österreichs zu fungieren.29
Reaktion – Repression
Doch die Zeit fehlte, um diese ehrgeizigen Pläne in die Tat umzusetzen. In einer Reihe von aufeinander abgestimmten Maßnahmen gingen die Herrscher von Preußen, Sachsen und Österreich gegen die Aktivisten der „Deutschen Union“ vor. Bahrdt wurde im April 1789 festgenommen. Wucherer wurde im Juli desselben Jahres aus den Ländern des Habsburgerreiches ausgewiesen, gerade als die Französische Revolution losbrach.30 Im Zuge der politischen Radikalisierung der Aufklärung, wie sie in der Deutschen Union zum Ausdruck [S.
14] kam und sich später in den Entscheidungen der französischen Nationalversammlung noch drastischer manifestierte, wurden Freimaurerlogen und Lesegesellschaften den Regierungen zunehmend suspekt als Brutstätten politischer Subversion und des „Jakobinismus“. In Österreich überdauerten sie kaum den Ausbruch des Krieges gegen das revolutionäre Frankreich. Schon 1793, dem ersten vollen Kriegsjahr, wurden die Logen vom Polizeiministerium unter Druck gesetzt, alle ihre Versammlungen und Aktivitäten einzustellen.31
Die Lesegesellschaften verfielen zusehends, da sie mit den Logen ihre Triebfeder verloren hatten. 1798 wurden sie offiziell verboten, mit der Begründung, „schädlich anstatt nützlich geworden zu sein“.32
Schon im nächsten Jahr erfolgte das Verbot der Leihbüchereien.33
Hatte die Regierung das Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung aufgegeben, um deren etwaige ungewollte Nebenwirkungen zu vermeiden? Bis zu einem gewissen Grad war das bestimmt der Fall. Aber soweit Entwicklung und Modernisierung noch weiter betrieben wurden, versuchte die Regierung Franz II (I) konsequent, Berufsbildung von der Förderung unabhängigen kritischen Denkens zu trennen.34 Bildungsliteratur, die für eine breite Leserschaft bestimmt war, mußte sich von nun an strikt auf Themen wie verbesserte Methoden der Bienenzucht oder das Diagnostizieren von Rinder- und Pferdekrankheiten beschränken. Pressefreiheit und politische Diskussion wurden als Grundübel der Gesellschaft angeprangert, welche zur Unzufriedenheit eines Volkes mit sich selbst und mit seinen Herrschern führten. Wer unter diesen Umständen noch immer Erwachsenenbildung betreiben wollte, mußte lernen, Ironie und Andeutungen einzusetzen, während die Leser lernen mußten, zwischen den Zeilen zu lesen.
Anmerkungen:
1 Zur Aufklärung als Bildungsbewegung, vgl. E. Heimpel-Michel, Die Aufklärung. Eine historisch-systematische Untersuchung (= Göttinger Studien zur Pädagogik, Bd. 7), Langensalza 1928, insbesondere S. 70-75.
2 Vgl. Ernst Wangermann, The Austrian Achievement 1700-1800, London 1973, Kapitel II.
3 Zit. in: Ernst Wangermann, “Joseph II – Fortschritt und Reaktion”. In: Richard Georg Plaschka/Grete Klingenstein (Hrsg.), Österreich im Europa der Aufklärung, Wien 1985, 37-38.
4 Ebd.
5 H. Hubrig, Die patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts (= Göttinger Studien zur Pädagogik, Bd. 36), Weinheim 1957, S. 21f.
6 K. Dinklage, Geschichte der Kärntner Landwirtschaft, Klagenfurt 1966, S. 151 ff. Der Ausdruck von der „Ignoranz und der blinden Erfahrung“ stammt aus der Rede, mit der Graf Wenzel Purgstall die erste Sitzung der Steirischen Landwirtschaftlichen Gesellschaft eröffnete. Vgl. ebd. S. 161f.
7 Ebd., S. 157; vgl. auch Statut 10, ebd., S. 156.
8 Ebd., S. 172.
9 Vgl. Ernst Wangermann, Aufklärung und staatsbürgerliche Erziehung. Gottfried van Swieten als Reformator des österreichischen Unterrichtswesens 1781-1791, Wien 1978, S. 34-41.
10 Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Studienhofkommission (bis 1791), F. 36, Lyzeum Laibach, Philosophie, 8 ex 1768, 11 ex 1770, 51 ex 1775.
11 AVA, a.a.O., F. 31, Landwirtschaft, 16 ex Julio 1780, 27 ex Dez. 1780.
12 AVA, a.a.O., F. 59, Kataloge aus Innerösterreich.
13 Das Patent ist mit 10. März 1763 datiert. In: Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Allgemeines Verwaltungsarchiv, Studienhofkommission (bis 1791), F. 30, Prag, Philosophie/Metallurgie u. Mineralogie, 36 ex 1763.
14 H. Kunnert, Die montanistische Ausbildung in Salzburg nach Schemnitzer und Freiberger Vorbild unter Fürsterzbischof Hieronymus. In: T. Veiter (Hrsg.), Volkstum zwischen Moldau, Etsch und Donau. Festschrift für F. H. Riedl, Wien 1971, S. 160-162.
15 A. Jesinger, Wiener Lekturkabinette, Wien 1928, S. 24-27. Daß sächsische Vorbilder in Wien nachgeahmt wurden, zeigt E. Rosenstrauch-Königsberg, Die Realzeitung als Kommunikationsmittel in der Habsburger Monarchie. In: I. Fried/Hans Lemberg/Edith Rosenstrauch-Königsberg (Hrsg.), Zeitschriften und Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts in Mittel- und Osteuropa (= Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa VIII), Berlin 1986, S. 117-122.
16 Jesinger, Wiener Lekturkabinette, a.a.O., S. 27-51.
17 Zit. nach: R. Gönner, Die österreichische Lehrerbildung von der Normalschule bis zur pädagogischen Akademie, Wien 1967, S. 27.
18 Klauseln III und XIX. Die Schulordnung ist abgedruckt in Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Bd. 3, Wien 1984, S. 491-501.
19 A. Stoll, Geschichte der Lehrerbildung in Tirol (= Studien zur Erziehungswissenschaft, Bd. 4), Weinheim 1968, S. 68-77; für die Steiermark vgl. W. Pietsch, Die Theresianische Schulreform in der Steiermark, Graz o. J., S. 38-41.
20 Stoll, Geschichte der Lehrerbildung, a.a.O., S. 85f.
21 Jesinger, Wiener Lekturkabinette, a.a.O., S. 55-77 u. 96-132.
22 A. Martino, Lekturkabinette und Leihbibliotheken in Wien (1772-1848). In: H. Zeman (Hrsg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750-1830), Graz 1979, S. 125-127.
23 J. Kalousek, Geschichte der königl. Gesellschaft der Wissenschaften. Bd. I, Prag 1884, S. 1-41; M. Teich, Bohemia: From darkness to light. In: R. Porter/M. Teich (Hrsg.), The Enlightenment in National Context, Cambridge 1981, S. 151-153, erwähnt einige zusätzliche Fakten, ignoriert aber Kalouseks Werk.
24 Zit. nach: E. Rosenstrauch-Königsberg, Eine Freimaurerische Akademie der Wissenschaften. In: J. H. Schoeps/Imanuel Geiss (Hrsg.), Revolution und Demokratie in Geschichte und Literatur. Zum 60. Geburtstag von W. Grab (= Duisburger Hochschulbeiträge, Bd. 12), Duisburg 1979, S. 162.
25 Meine Informationen über Born und seine Freimaurerische Akademie stammt aus ebd., S. 158-163.
26 H. Stanescu, Deutschsprachige wissenschaftliche und Lesegesellschaften der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts in Siebenbürgen und im Banat. In: E. Amburger et. al. (Hrsg.), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa (= Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa, Bd. III), Berlin 1976, S. 188-193.
27 F. Martin, Die Museums-Gesellschaft. Salzburgs ältester Verein. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, 1935, H. 75, S. 119-121; L. Hammermayer, Die Aufklärung in Salzburg (1715-1803). In: H. Dopsch/H. Spatzenegger (Hrsg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land. Bd. II/I, S. 437.
28 Wangermann, Aufklärung, a.a.O., S. 76-80.
29 G. Mühlpfordt, Lesegesellschaften und bürgerliche Umgestaltung. Ein Organisationsversuch des deutschen Aufklärers Bahrdt vor der Französischen Revolution. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1980, H. 28, S. 745-747; siehe auch G. Mühlpfordt, Europarepublik im Duodezformat. Die internationale Geheimgesellschaft „Union“ – Ein radikalaufklärerischer Bund der Intelligenz (1786-1796). In: Helmut Reinalter (Hrsg.), Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, Frankfurt 1983, S. 343.
30 Ernst Wangermann, From Joseph II to the Jacobin Trials, 2. Aufl., Oxford 1969, S. 40-43.(Dt. Fassung unter dem Titel: Von Joseph II. zu den Jakobinerprozessen, Wien-Frankfurt-Zürich 1966).
31 Ebd., S. 130-131.
32 Martino, Lekturkabinette, a.a.O., S. 127.
33 Ebd.
34 W. Sauer, Von der „Kritik“ zur „Positivistik“. Die Geisteswissenschaften in Österreich zwischen josephinischer Aufklärung und franziszeischer Restauration. In: H. Schnedl-Bubenicek (Hrsg.), Vormärz: Wendepunkt und Herausforderung (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Institutes für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 10), Wien 1983, S. 30-37.
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