„Geistige Stadtbefreiung“ oder: die wissenschaftliche, künstlerische und literarische Avantgarde in der frühen Erwachsenenbildung
Bevor der Begriff „Public Relations“ im Medienzeitalter erfunden wurde und auch auf dem Gebiet von Kunst, Kultur und Wissenschaft praktisch zur Anwendung kam, spielten die Volkshochschulen als Drehscheibe von Bildungs- und Wissensvermittlung sowie zur Popularisierung von Kunst und Kultur jenseits der bürgerlichen Salons eine einzigartige Rolle. Bis 1934, wo durch eine erste Säuberungswelle seitens des austrofaschistischen Systems Vortragende aus dem Programm entfernt wurden, beziehungsweise bis knapp vor dem „Anschluss“ 1938 boten die Volkshochschulen eine Plattform, die von Trägern großer Namen oder solchen, die es einmal werden sollten, aus den Bereichen der Literatur, Kunst und Musik sowie auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, Rechts- und Staatslehre oder Ökonomie gerne genutzt wurde, um ihre Fachgebiete beziehungsweise ihre künstlerische Produktionen außerhalb eines engeren fachspezifischen Interessentenkreises vorzustellen und populär zu machen.
Eines der prominentesten Ereignisse ist mit dem Namen
Albert Einstein verbunden. So kam der weltberühmte Physiker im Jänner 1921 auf Einladung der Wiener Urania nach Wien, um im Wiener Konzerthaus vor über 3000 Zuhörerinnen und Zuhörern einen öffentlichen Vortrag über die allgemeine und spezielle Relativitätstheorie zu halten.
Neben dem Wiener Volksbildungsverein und der Wiener Urania zog vor allem die Volkshochschule (Volksheim) Ottakring in den zwanziger Jahren eine große Zahl namhafter Persönlichkeiten in ihren Bann. Unterstützt und promoted wurde diese erste „Volksuniversität“ unter anderen von
Ludwig Boltzmann, Ernst Mach, Marie von Ebner-Eschenbach, Rosa Mayreder, Ferdinand von Saar, Karl Seitz, Eugen Philippovich, Eduard Sueß oder Emil Zuckerkandl, um nur einige Namen zu nennen. Finanzielle Unterstützung erhielt diese Einrichtung von Karl Wittgenstein und der Familie Rothschild. PEN-Club Präsident H. G. Wells spendete Bücher und der Vater der Psychoanalyse Sigmund Freud war ordentliches, wenn auch „nicht kursbesuchendes“ Mitglied, wie es in den Dokumenten heißt, – und das, obgleich sein abtrünniger Schüler Alfred Adler das psychologische Lehrgeschehen der Einrichtung weitgehend bestimmte. Da verwundert es nicht weiter, dass ein solcher Ort auch durch die Namen der Vortragenden das wissenschaftliche und kulturelle Zeitgeschehen widerspiegelte. Hans Kelsen und Adolf Loos zählten zu ihnen, prominente Vertreter des »Wiener Kreises« wie Otto Neurath oder Friedrich Waismann referierten über Philosophie und Mathematik, die Schönberg-Schüler Josef Polnauer und Paul Amadeus Pisk leiteten die Musikfachgruppe beziehungsweise das Musikreferat, Kurt Pahlen das Theaterstudio oder Walter Sorell das Opernstudio.
Die Volkshochschulen waren Orte der sozialen Begegnung ebenso wie Stätten intensiver intellektueller Auseinandersetzung in Form von Kursen, Vorträgen, Diskussionen sowie Bücher- und Zeitschriftenlektüre in den komfortablen Lesezimmern und den teils überaus gut ausgetatteten Bibliotheken der einzelnen Fachgruppen. Kammermusikkonzerte, Theateraufführungen, Chorauftritte, Kunstausstellungen, Kulturfilme oder Autorenlesungen führten das Laienpublikum an verschiedene Bereiche des künstlerischen Ausdrucks heran.
Eine Reihe von Literaten, deren Namen heute die Wiener Moderne verkörpern, und die zum Teil schon zu jener Zeit bekannt waren oder gerade reüssierten, stellten an der Volkshochschule Ottakring ihre Werke einem breiteren Publikum vor. So las Arthur Schnitzler 1902 aus dem „Grünen Kakadu“, nach dem Ersten Weltkrieg füllten Autorenlesungen von Alfons Petzold, Franz Karl Ginzkey, Felix Salten, Anton Wildgans, Egon Friedell, Robert Musil, Thomas Mann, Franz Theodor Csokor, Elias Canetti, Heimito von Doderer, Karl Brunngraber, Theodor Kramer oder Stefan Zweig die Säle, der dänische Schriftsteller Martin Andersen-Nexö las 1929 in der Urania gar vor 500 Hörern und Hörerinnen. Hermann Broch trug mehrfach an der Volkshochschule (Volksheim) Ottakring vor, wo er zum ersten Mal aus seinem noch unveröffentlichten Roman „Die Schlafwandler“ vorlas, und wo er den jungen Elias Canetti zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentierte. Im Volksheim wurde auch der junge Anton Wildgans literarisch entdeckt. Jean Améry verdankte gar die Entdeckung und Förderung seines literarischen Talents der Volkshochschule Ottakring, die ihm über einige Jahre hinweg geistige Heimat bot, zunächst als Hörer, später als Leiter der kleinen Buchhandlung in der Zirkusgasse und als Dozent für Literatur.
Viele der Vortragenden und im administrativen Bereich Mitarbeitenden mussten nach dem „Anschluss“ 1938 in die Emigration fliehen oder kamen in den NS-Konzentrationslagern ums Leben. Die „Vertreibung der Vernunft“ betraf die Volkshochschulen in besonders hohem Maß, da die zur Flucht gezwungenen oder ermordeten (jüdischen) Intellektuellen, Wissenschafter, Künstler, Schriftsteller oder Musiker durch ihre volksbildnerische Mitarbeit entscheidend zum Flair und zum Charakter jener Einrichtungen beigetragen hatten.
Der Exodus der literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Intelligenz des Landes bedeutete eine folgenschwere und nachhaltige Niederlage für das andere, demokratische Österreich.