GERHARD BISOVSKY
Gerhard Niedermair, Professor am Institut für Pädagogik und Psychologie der Johannes Kepler Universität Linz und Leiter der Abteilung für Sozialpsychologie, Personalentwicklung und Erwachsenenbildung, legt mit der aktuellen Nummer der von ihm herausgegebenen Schriftenreihe einen Sammelband vor, der sich einem in der berufspädagogischen Forschung weitgehend vernachlässigten Thema widmet, der Förderung von Benachteiligten in der beruflichen Bildung. Dabei ist dieser Teil der beruflichen Bildung zumindest in Deutschland und Österreich nicht mehr wegzudenken. Zahlreiche arbeitsmarktpolitische Maßnahmen werden hierzulande vom Arbeitsmarktservice und vom Sozialministeriumservice in Auftrag gegeben bzw. gefördert und in den Berufsschulen steht das Thema Förderung von Benachteiligten seit vielen Jahren auf der Tagesordnung.
Genau in diesem Spektrum zwischen Berufsschule und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen bewegen sich die Beitrag in dem Sammelband, die sich mit dem "Übergangssystem" befassen, das zumindest in Deutschland mittlerweile auch schon als "dritter Sektor" der beruflichen Bildung gilt. (S. 359)
Benachteiligung ist eine "dynamische Kategorie", die sich laufend verändert. Sie bezieht sich auf die jeweilige gesellschaftliche Situation, auf die Entwicklung von Institutionen, auf die vorherrschenden politischen Paradigmen und ist mit der Problematik der Stigmatisierung, der Diskriminierung und Ausgrenzung von Benachteiligten verbunden. Die Ursachen für Benachteiligungen sind manigfaltig, sie umfassen individuelle Beeinträchtigungen (z. B. Lernprobleme, Verhaltensauffälligkeiten, physische Beeinträchtigungen), soziale Faktoren (z. B. Geschlecht, Nationalität, Religion, soziale Zugehörigkeit) sowie strukturelle und institutionelle Diskriminierungen. Eine individuelle Defizitzuschreibung ist jedenfalls nicht hinreichend, Benachteiligung ist als "gesellschaftliche Deprivation" zu verstehen (S. 8). Benachteiligungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen manifestieren sich beispielsweise im fehlenden Schulabschluss oder in einer nicht abgeschlossenen bzw. nicht verwertbaren Berufsausbildung. Solche niedrig qualifizierte Personen gelten als beruflich benachteiligt, ihre Chancen am Arbeitsmarkt sollen durch gezielte Fördermaßnahmen, die in einem Übergangssystem verortet sind, verbessert werden.
Im ersten Kapitel werden sowohl ideengeschichtliche als auch bildungs- und arbeitsmarktpolitische Rahmungen bearbeitet. Ein Beitrag aus Österreich findet sich hier: Peter Schlögl, Professor an der Universität Klagenfurt, befasst sich in einem historischen Rückblick mit Industrie-, Arbeits- und Produktionsschulen. Im zweiten Kapitel werden konkrete Modelle der Förderung von Benachteiligten in Deutschland und in Österreich (LLL-Leitlinien in der ESF-Praxis, ein Beitrag von Gabriele Pessl und Mario Steiner) analysiert. Zwei Beiträge befassen sich explizit mit der Erwachsenenbildung und mit der Volkshochschule (Schmidt-Lauff und Schlüter). Im dritten Kapitel wird der Fokus auf spezielle Zielgruppen gelegt: "Flüchtlingsbeschulung" an beruflichen Schulen und hochbegabte Underachiever in beruflichen Ersatzmaßnahmen. Das vierte und letzte Kapitel widmet sich ausgewählten Forschungsbereichen und Handlungsfeldern. Ein Beitrag befasst sich sich auch mit den Wirkungen von Unterstützungssystemen (Ratschinski, S. 359-375), ein weiterer mit Strategien zur Benachteiligtenförderung in Europa. (Schreier, S. 397-416)
Der Sammelband ist sehr lesefreundlich gestaltet. Die Thesen jedes der insgesamt 18 Beiträge werden kapitelweise beschrieben, sodass der/die LeserIn die Möglichkeit hat, die Fachbeiträge gezielt anzusteuern.
Besonders zu empfehlen auch für Projekt- und ProduktentwicklerInnen in der Erwachsenenbildung.