Author/Authoress: | Plutzar, Friedrich |
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Title: | Bildungsfürsorge an Arbeitslosen |
Year: | 1934 |
Source: | Friedrich Plutzar (Hrsg.), Kalenderjahrbuch 1934 des Wiener Volksbildungsvereines, Wien o. J., S. 35-38. |
[S. 35] Die wachsende Arbeitslosigkeit hat allen Volksbildungseinrichtungen neue Aufgaben gebracht. So hatte auch der Wiener Volksbildungsverein sich darauf einzustellen. Arbeitslosigkeit, besonders wenn sie zu einer Dauererscheinung wird, führt nicht nur zu materieller, sondern auch zu geistiger und seelischer Verarmung. Ein Volksbildungsverein kann mit seinen Hilfsmitteln nicht die Arbeitslosenfrage lösen. Seine Mitarbeit daran liegt in den Zielen der Erwachsenenabteilung mitbeschlossen, welche die Menschen [S. 36] anpassungsfähiger, kenntnisreicher, aufgeschlossener und einsichtiger machen will. Es ist auch nicht seine Aufgabe, Schäden der materiellen Verarmung zu lindern. Er kann aber auf seinem Gebiet der seelischen und geistigen Armut entgegenwirken, welche den Arbeitslosen bedroht, der sich hoffnungslos stumpfer Untätigkeit ergibt. Dieser Aufgabe hat sich unser Verein von Anfang an nicht verschlossen.
Man hat sich bemüht, den Arbeitslosen die bestehenden Einrichtungen leicht zugänglich zu machen. Die Abendkurse an den Volkshochschulen des Vereines, stehen wie auch jene an den anderen Volkshochschulen, den Erwerbslosen, schon seit Jahren zu sehr herabgesetzten Gebühren offen. Die Anzahl der Arbeitslosen wuchs von Jahr zu Jahr. Im Studienjahr 1925/26 waren nur 5-6% der Hörer Arbeitslose, 1930/31 bereits 15-18%. Im Winter 1932/33 sind ein Drittel der Hörer, welche Abendkurse besuchen, ohne Stellung. Aehnliche Ziffern weisen die 12 Volksbüchereien des Vereines aus. Auch hier ein ständiges Ansteigen der durch ermäßigte Gebühren begünstigten arbeitslosen Leser, bis zu 30% des gesamten Standes.
Statistische Aufzeichnungen über den Anteil der Arbeitslosen an den verschiedenen Kursen wurden zunächst nicht geführt. Es ließ sich aber feststellen, daß jene Gebiete bevorzugt wurden, welche unmittelbaren Nutzen für den bereits ausgeübten oder neuangestrebten Beruf versprachen. So grundlegende Fächer wie Rechtschreiben, Sprachlehre, im weitesten Ausmaß fremde Sprachen, vor allem Englisch. Englisch ist ja noch immer die beliebteste Fremdsprache, die z. B. in der Volkshochschule Margareten fünfmal so viele Hörer an sich zieht wie Französisch, das den zweiten Platz besetzt. Daneben besteht aber bei den Arbeitslosen auch ein ziemlich starkes Interesse für rein wissenschaftliche Vorlesungen jeder Art.
Im März 1932 machte die Wiener Urania den Versuch, eigene Vormittagskurse für Arbeitslose aus Englisch und Französisch einzurichten. Aehnliche Einrichtungen bestanden schon an deutschen Volkshochschulen. Für Wien war dies neu, wenn man von den anders aufgebauten, übrigens sehr bedeutungsvollen Nach- und Umschulungskursen der Industriellen Bezirkskommission absieht. Der geglückte Versuch der Urania bewog auch den Volksbildungsverein in seinem Margaretner Volksbildungshaus solche Kurse zu veranstalten. Neben Englisch wurde noch Deutsche Sprachlehre und Rechtschreibung, kaufmännisch-gewerbliches Rechnen und Kurzschrift aufgenommen. Der Erfolg war sehr befriedigend. An 400 Arbeitslose fanden sich als Besucher ein. Die guten Erfahrungen veranlaßten uns im Herbst 1932 das Programm dieser Kurse noch zu erweitern. Zu den bereits gelehrten Fächern kamen noch Französisch, Russisch, Buchhaltung, im Sommersemester auch noch Verkaufskunde. Wir erzielten im Wintersemester eine Frequenz von 1150 Hörern. Zählt man dazu die Vormittagsbesucher der Volkshochschule Wien Volksheim und der Wiener Urania, die arbeitslosen Frequentanten der Abendkurse an unseren und den übrigen [S. 37] Volkshochschulen, so kommt man zu mehr als 6000 Personen. Immerhin eine recht beachtliche Anzahl.
Es ist eine Freude, einem solchen Kurs beizuwohnen. Die Lehrer bemühen sich mit viel Geschick, frisch und lebendig zu sein. Die Hörer sind voll Aufmerksamkeit und Eifer dabei. Der graue öde Alltag ist vergessen, es gibt wieder ein Ziel, eine Aufgabe. Und diese Wirkung dauert noch über die Kursstunden hinaus. Wieviel angeregter, lebendiger kommen die Leute die Treppe herunter, welche sie ein, zwei Stunden vorher meist mit müdem verdrossenen Gesicht hinaufgestiegen sind. Viele werden daheim das Gelernte wiederholen, Aufgaben machen – arbeiten.
Die Anziehungskraft der einzelnen Vormittagskurse war nicht gleich. An erster Stelle stand, wie zu erwarten, die englische Sprache, die ein Fünftel der Hörer anzog. Dann folgten mit 9-10% Kurzschrift, Buchhaltung, Rechtschreiben, Französisch und Russisch. Merkwürdigerweise fand elementares Rechnen so wenig Nachfrage, daß wir den Kurs bald einstellen mußten. Heute scheint die Wirtschaftskrise jeden rechnen zu lehren.
Die Menschen, welche sich da einfinden, weisen eine ähnliche buntscheckige Zusammensetzung auf, wie die Hörerschaft der Abendkurse. Junge Burschen neben Grauköpfen, Bubiköpfe neben altmodischen Frisuren. Doch sind gewisse Unterschiede da. Stärker als in den Abendkursen ist die Jugend vertreten. Fast 60% gehören zur Altersstufe zwischen 18 und 25 Jahren, und nur wenige sind älter als 35. Wenn sich in den Abendkursen Männer und Frauen fast die Wage halten, so gehören nur ein Viertel der Vormittagskurse zum weiblichen Geschlecht. Hauswirtschaftliche Betätigung mag da eine Rolle spielen. In der Hörerschaft sind die verschiedensten Berufe vertreten. Es überrascht nicht, daß die Angestellten mit 42% die größte Gruppe stellen, da ihnen ja am leichtesten berufsnahe Kurse geboten werden können. Schwerer ist der große Anteil der Metallarbeiter zu erklären (23%). In den Anmeldekarten findet man aber alle Berufe vertreten, neben den ungelenken Buchstaben des Hilfsarbeiters liegen die ausgeschriebenen Schriftzüge der akademisch Gebildeten, sie alle eint das gleiche schwere Schicksal …… Arbeitslosigkeit.
Die zunehmende Zahl von Arbeitslosen brachte nicht nur volksbildnerische, sondern auch schwierige Fragen finanzieller Art. Die Uebung der ersten Jahre, den Arbeitslosen freien Zutritt zu den Abendkursen und in die Büchereien zu gewähren, ließ sich auf die Dauer nicht durchführen. Freilich lassen sich nur bescheidene Beiträge einheben. So ist für einen doppelstündigen Vormittagskurs monatlich 50 Groschen zu bezahlen. Die Masse der Teilnehmer macht es möglich, damit die wichtigsten Barauslagen zu decken, umsomehr, wo ein großer Teil der notwendigen Verwaltungsarbeit von einigen arbeitslosen Hörern freiwillig geleistet wird. Die Schichtung der Arbeitslosen bringt es mit sich, daß die Belastung mit den Beiträgen ungleichmäßig empfunden wird. Denn nur 40% [S. 38] der Teilnehmer stehen im Bezuge der ordentlichen Unterstützung, der Rest bezieht nur die Notstandshilfe oder ist ausgesteuert. Dankbar sei anerkannt, daß eine Anzahl von Gewerkschaften ihren Angehörigen die Spesen vergütet. Ebenso, daß die Gemeinde Wien, bezw. die Industrielle Bezirkskommission Fahrscheine für entfernt wohnende Hörer zur Verfügung stellt. Leider war es bis heute noch nicht möglich, irgend welche Sondersubventionen für diese Bildungsfürsorge zu erlangen, wenn auch die öffentlichen Stellen die Arbeit voll anerkennen.
Nicht nur in unserem Kurswesen und in unseren Büchereien, auch bei den Veranstaltungen wird auf die Arbeitslosen Rücksicht genommen. Durch Freikarten und Ermäßigung wird die Teilnahme an bildenden Vorträgen, an künstlerischen Darbietungen erleichtert. Eine besondere Stellung nehmen die Filmvorführungen ein, die allwöchentlich an einem Vormittag für Arbeitslose zu einem billigen Eintrittspreis veranstaltet werden. Es werden Kulturfilme und Spielfilme von volksbildnerischem Wert gezeigt. Das Interesse ist recht groß. Viele tausend Besucher haben an diesen Veranstaltungen in den letzten zwei Jahren ihre Freude gehabt.
Wir sind uns natürlich bewußt, daß alle diese Kurse und Veranstaltungen keine Lösung der Arbeitslosenfrage vorstellen. Dies wurde schon eingangs betont. Es sind auch keine Versuche, die Erwerbslosen über ihr Schicksal hinwegzutäuschen. Auch der beste Kurs kann die Arbeit nicht ersetzen. Es ist aber eine unerläßlich geistige Fürsorge, die da geboten wird, eine Hilfe, die nicht nur im Interesse der Arbeitslosen, sondern im Interesse der Gemeinschaft liegt. Die beste Fürsorge ist diejenige, welche den Befürsorgten in Stand setzt, sich selbst zu helfen. Der Arbeitslose ist immer in Gefahr, nach anfänglichem Aufbäumen dumpf und stumpf zu werden, Lebensmut und Lebensenergie zu verlieren, nicht mehr selbst zu versuchen, sich wieder in das Getriebe einzupassen. Hier im Bildungswesen wird dem Ziellosen wieder eine Aufgabe gestellt und damit geistiger und moralischer Halt geboten, in ein leer gewordenes Dasein Inhalt gebracht, freudlose in frohe Stunden gewandelt. Wir bewundern es immer wieder, daß Menschen nach jahrelanger Arbeitslosigkeit doch noch die Energie aufbringen, Kurse zu besuchen, Vorträge zu hören, daß Menschen, die die Straßenbahn nicht mehr leisten können, stundenweit zu Fuß gehen, um einen Abend der Woche im Volksbildungshaus verbringen zu können. Wir haben wahrlich keinen Grund, uns darüber zu freuen, daß tausende Arbeitslose unsere Kurse, Veranstaltungen und Büchereien zu finden sind, wenn wir an die Ursachen denken, welchen wir diesen Zustrom verdanken. Wir freuen uns aber, helfen zu können. Der große Umfang, welche diese Hilfe annimmt, ist ein neuer, schlagender Beweis für die große allgemeine Bedeutung der Volksbildungsarbeit und damit für die Daseinsberechtigung unseres Vereines. Mögen alle, die noch helfen können, mit dazu beitragen, dieses Werk fortzuführen.
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