Author/Authoress: | Koessler, Ludwig |
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Title: | Neue Wege und Ausblicke |
Year: | 1922 |
Source: | Vorstand der Wiener Urania (Hrsg.), Neue Wege und Ausblicke. Das Volksbildungshaus Wiener Urania im Jahre 1920-1921, Wien 1922, S. 3-5. |
Subject descriptor: | Urania Wien |
Immer deutlicher wurde es im dritten Nachkriegsjahre 1920/21, dass es eine ernste Volksbewegung war, die in den letzten Jahren zu den Bildungsstätten drängte. Je mehr in dem Wirbel des Hungers und der Entbehrungen fast alles zu versinken schien, was früher feststand, desto deutlicher wurde der Wille des Volkes von Wien, an der alten Kultur der Heimat festzuhalten. Immer dichter wurden die Scharen derjenigen, die zu den ernsten Stätten der Volksbildung strömten, um sich Gesundung, Kraft und Lebensmut aus den unversiegbaren Quellen des Geistes und der Kunst zu holen.
So war es unserem Volksbildungshause beschieden, nicht nur sein Dasein zu erhalten, sondern es auch widerstandsfähiger zu machen und es konnte sein altes volksbildnerisches Programm ausbauen, vertiefen und ausbreiten. Der folgende Bericht zeigt die Entwicklung und die Ausgestaltung des volkstümlichen Vortragswesens, der Schülervorträge und unserer Volkssternwarte, die rege Tätigkeit auf dem Gebiete der Volkskunstabende usw.
Die besondere Bedeutung gibt dem Berichtsjahre die Auffindung und Beschreitung neuer Wege, die Einbeziehung der deutschen Schauspielkunst in das Bildungsprogramm, das erfolgreiche Vorgehen zur Kinoreform, die Einführung der zeitgemäßen Handfertigkeitskurse mit Ausstellungen der Arbeiten der Kursteilnehmer, die Neueinrichtung des ununterbrochenen Sommerbetriebes, die Errichtung der Leihzentrale zur Versorgung der ländlichen Bildungsstätten mit Vortragenden, Vorträgen, Lichtbildern und anderen Lehrmitteln, sowie die Einrichtung eines regelmäßigen Vortragswesens in den meisten Wiener Bezirken, am umfänglichsten in den Arbeiterheimen im X., XVI. und XXI. Bezirke und in der Volkslesehalle im XXI. Bezirke; damit hat die Wiener Urania den Weg zu den breitesten Schichten der Wiener Bevölkerung gesucht und gefunden. Zu dieser mächtigen Ausbreitung des Wirkungsgebietes der Wiener Urania über das Stammhaus am Aspernplatz hinaus kommen die unter ihrer Anleitung und nach ihrem Vorbilde an zahlreichen Orten Österreichs neu entstandenen Uraniavereinen, von denen die in Graz, Innsbruck und Wiener–Neustadt die blühendsten sind.
Das sprunghafte Anwachsen der Anzahl der Mitglieder und der Teilnehmer an allen volksbildnerischen Darbietungen unseres Volksbildungshauses ist Ursache und Wirkung zugleich seiner emporstrebenden Entwicklung. Die Überschreitung der Million Teilnehmer an unseren vielgestaltigen volksbildnerischen Darbietungen im abgelaufenen Jahre beweist uns, dass unsere Wege der Volksbildung das Volk und seine Willen auch wirklich erreichen; sie bedeutet unserer Anstalt die Ehre und die Verantwortlichkeit des volksbildnerischen Lehramtes. Als dessen Bestätigung gilt uns die am 24. Februar d. J. vom Wiener Gemeinderat einstimmig beschlossene unentgeltliche Überlassung des städtischen Baugrundes im VI. Bezirke an der Mariahilferstraße zur Errichtung des um die Hälfte größeren Mariahilfer Zweighauses, dessen Werden die gewerbefleißige Bevölkerung des Wiener Westens mit starkem Verlangen erwartet. Damit eröffnet sich der Ausblick auf eine größere Zukunft nicht bloß unseres Institutes, sondern überhaupt des heimischen Volksbildungswesens, deren Wirkungen auf die gesamte Volkskultur sich jetzt noch kaum absehen lassen. Wenn der alte Wunsch breiter Schichten der Bevölkerung, dass jeder Wiener Bezirk sein Volksbildungshaus haben soll, seiner Verwirklichung näher kommt, dann wird auch die Erkenntnis allgemeiner werden, dass das freie Volksbildungswesen für uns eine Lebensangelegenheit von der größten Bedeutung ist. [S.
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Es ist nicht das erste Mal, dass wir in diesen Blättern, die unsere Jahresarbeit auf ein paar Seiten zusammenfassen, des Wesens volksbildnerischer Arbeit als Schaffung einer menschlichen Gemeinschaft, als menschlicher Fühlungnahme gedenken. Man kann es nicht genug betonen, besonders heute, wo vielfach – vor allem in Kreisen von Fernstehenden und Laien – die kulturbildende Kraft der deutschen Volksbildung arg missverstanden wird. Wer mit weitem Sinn und ohne parteiliche Enge durch lange Jahre verfolgt hat, wie die Bildungsfähigen des Volkes ihren Beschäftigungen, Neigungen, Gewohnheiten und Liebhabereien nachgehen und wie sie nach einer freieren Übersicht über ihr Gebiet das Verlangen haben, der weiß ja längst, wie man Bildungsstoffe und Volksgemeinschaft zueinander in Beziehung zu setzen hat. Gewiß nicht, indem man mit „populären Vorträgen“ (wie man sie einst nannte) kommt und Wissenschaft in Verdünnung bietet. Das war der Fehler der ersten volksbildnerischen Versuche, bei denen die volkstümliche Darstellung der gesamten Wissensstoffe die Hauptsache war. So viel Wertvolles dieses Bemühen (man kann ja in der Volksbildung vorläufig doch immer nur von einem Bemühen sprechen) enthält, die Fehlerhaftigkeit dieser Idee war offensichtlich: sie lag in der Inkongruenz der Stimmung zwischen Vortragenden und Volksgemeinschaft. Das Volk lebt in einer ganz anderen Atmosphäre als in der Wissenschaft, so dass aus der Unbekanntheit und Fremdheit sehr bald, wenn einmal die erste Neugierde befriedigt ist, Unlust, Gleichgültigkeit, Langeweile sich einstellen. Es sind der Voraussetzungen allzu viele. Nur das lebt, das durch ein inneres Erleben angeschaut werden kann und an Beschäftigungen, Neigungen, Gewohnheiten und Liebhabereien anknüpft. Und so sind für solche Zuhörer nur die Gedanken wahr, die irgendwie die Leute selbst schon bewegt haben, Gedanken, Bilder, Vergleiche, Umstände, Verhältnisse, Schicksale, die irgendwie ins Leben, das heißt in sinnlich anschaubare Wirklichkeiten ausmünden. Schon die dänische Volkshochschule Nikolai F. S. Grundtvigs (1783-1872) hat erfolgreich diesen Zielen zugestrebt und bedeutet darum, in eine spätere Zeit übertragen, eine energische Korrektur der anglo-amerikanischen Methode. Der Vortragende ist Volkslehrer, er darf nicht auf dem Isolierschemel einer anderen Welt stehen, die nur durch Hörensagen ins Volk dringt; er will doch die Besonderheit der Volksseele, den Willen und den inneren Menschen, das heißt sein Individuelles an Gedanken, Erfahrungen, Empfindungen und Gemütsrichtungen zu erreichen imstande sein. Lehrt übrigens nicht alle Volkskunde, daß meist nicht die Bildung das Volk gewandelt, sondern daß umgekehrt das Volk den überkommenen Bildungsschatz nach seinem Willen und seiner Wesensart oft herrisch verändert und aus eigenen Kräften heraus zur Bedeutsamkeit erhoben hat? Die Bildung ist nicht allein ein Ziel, sondern auch ein Weg, und zwar ein Weg zu sich selber hin, eine Art biologische Funktion, kraft welcher der Gesamtgeist sich selbst erhält. Wir denken, um zu leben. Aber jeder lebt sein eigenes Leben, sein eigenes geistiges Schicksal, und was er als Bildung an sich hat, sind Äußerungen dieses Lebens. Alles geistige Geschehen ist irgendwie verwachsen mit dem ganzen Leben, und so ist auch das, was man Bildung nennt, Lebensergänzung und Förderung des gesamten Lebensgefühles. Auch unsere geistige Existenz wird von der Naturordnung getragen und umfangen. Darum kann nur der an diesem Leben irgendwie als Lehrer, Führer oder Mitarbeiter Anteil haben, der an diese ganze Lebensstimmung oder an diese gerade diesen Menschenkreisen erlebbare Umgebung anknüpft. Aber da meinen wir nicht Dinge des Schulunterrichtes, denn Volksbildung ist doch Gesinnungsunterricht auf praktisch-nützlicher Grundlage, wir meinen das, was jedem als bestimmte Erkenntnisstufe innerlich eigenst angehört als Kraft, Tätigkeit, Verbindlichkeiten und Verantwortungen des Lebens, das Bedürfnis nach Freude, Schwächen, Fehler, falsche Auffassungen, Beunruhigungen und Unzufriedenheit geistiger, das heißt logischer Art. Nur so kann man in der Volksbildung Leben und Wissen vereinen, aber wir vereinen sie, indem wir gemäß der individuellen Begabung und Neigung, der Naturgrundlage arbeiten. Jeder Erzieher weiß, dass alles vergebens ist, wenn wir ohne Kenntnis der Naturanlage und des Gedankenkreises des Zöglings sind, dass erfolgreiche Arbeit nur dem beschieden ist, der die anstoßgebenden Gedanken seines Handelns kennt, die Anlage und die Eigenart zur vollen Entfaltung bringt. Wir erziehen doch mit der Eigenart des Zöglings, nicht gegen die Eigenart. Auch das, was die Volksbildung bietet, muß in gleicher Weise der Begabung nach Art und Maß aufs feinste angepasst sein. Nur so werden Menschen mit selbständigem Urteil und geistiger Selbsttätigkeit erzogen, die dann in der Lage sein werden, sich und andere von der erniedrigenden Herrschaft des Schlagwortes und von dem [S.
4] Dünkel zu befreien, im Besitze der Wahrheit zu sein. Gerade dieser Sehnsucht nach geistiger Selbständigkeit und Selbsttätigkeit, nach Lernfreude, die mehr ist als Wissensfreude, nach eigenem Menschentum, versucht unser Haus entgegenzukommen. Freilich, das alles ist nur möglich, wenn Lehren und Lernen anders ist als ein gewöhnlicher zwangweiser Schulbetrieb, aber auch anders als jenes gewisse seichte und platt popularisierende weder belehrende noch unterhaltende Gerede, das so gar nichts zur Förderung der aktiven Teilnahme des Höreres beiträgt. Gilt es doch, einen zusammenhängenden Willen zu schaffen, darin das Wollen des Vortragenden und das Wollen des Zuhörenden sich finden müssen. Sonst ist alles vergebens. Wo diese starke Beziehung zum Leben fehlt und Anlagen, Umkreis der geistigen Möglichkeiten und Aufgaben nicht gekannt werden, kommt niemals persönliche lebendige Auffassung zustande und es werden Gebildete und Ungebildete dauernd verschiedene Sprachen sprechen.
Es ist schon öfters gegen uns bemerkt worden, dass wir den radikalen Versuchen, die Naivität des Volkes gänzlich zu zerstören, widerstreben. Was ist um diese Sache? Es gibt ein „Erziehen“ des Volkes, das einem Zwange gleichkommt, indem man ihm Erlebnisse zumutet, die es einfach nicht haben kann. Jemanden zu Gedanken zwingen ist keine freie Volksbildung mehr und wer zwingt, arbeitet nicht mehr aufbauend von unten, er leistet nicht Erweckungs- und Anregungsarbeit für die Selbstentwicklung, sondern verbiegt Eigenart und Bestimmung. Das Denken des echten Volkes hat seine eigenen Gesetze, es hat seine vulgäre Logik und seine besondere geradlinige Weise der geistigen Verarbeitung, seinen unverdorbenen Sinn für das Einfach-Hohe, Anlagen, die jeder wissenschaftlichen Läuterung trotzen. Jede seelen- und volkskundliche Betrachtung einer großen werdenden Bildungsgemeinde macht das Gesagte noch deutlicher, wenn man bedenkt, wie Naturgrundlage, Charakter, Geschichte, Stand und Beruf und innerhalb dieser wieder Rase, Leidenschaft, Alter, Temperament, Wirklichkeitssinn, Aberglaube in Natur- und Heilkunde, in Geschehnissen, die auf das Seelenleben Einfluß haben, gegebene Elemente sind, mit denen der Volkslehrer zu rechnen hat. Ja, sie sind, als die Naturformen des Menschenlebens, die Voraussetzung der volksbildnerischen Bestrebungen, wenn er lebendig und wahrhaft bleiben will. Wer das seelische Geschehen an einem Menschen, oder in unserem Falle das „Bildungsleben“ nicht auf dessen Bedingtheiten durch seine natürliche Grundlage oder Naturgestalt zurückzuführen vermag und nicht mit ihnen zusammen weckt und bildet, hat wenig Aussicht auf Erfolg; wer dieses Herniederbeugen zu den noch nicht Reifen nicht kennt, vermag nicht jene neue und doch individuelle Lebensentwicklung oder Wiedergeburt anzubahnen, die im Kern aller Erziehung steckt. Die erworbene Bildung muß zur Naturgrundlage und erlebbaren Umwelt passen. Die Urteilsklarheit hängt davon ab. Innere Berufung, äußerer Beruf, Stand und Bildung gehören zusammen. So wird die Bildung ein dauernder Weg, jene Bildung, die auf die Folge unseres Lebens und seiner Neigungen eine große Wirkung ausübt und die wir gar nicht von dem übrigen Leben abtrennen können; sie ist das Symptom der gesamten Lebensführung und persönlichen Zustände. [S.
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