Author/Authoress: | Virchow, Rudolf |
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Title: | Über den Einfluss des naturwissenschaftlichen Unterrichts auf die Volksbildung |
Year: | 1861 |
Source: | Tageblatt zur 36. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Speyer. Vom 17. bis 24. September 1861. Beilage, S. 70-72. o.O., o.J. [Zusammenfassung] |
[S. 70] […] wirft der Redner zunächst einen Blick auf die Zeit, in welcher vor nunmehr fast 40 Jahren die Naturforscher-Versammlung begründet ward, und auf den Mann, welcher zuerst den Gedanken derselben fasste und ins Leben führte. Drei Jahre vorher hatten die Carlsbader Beschlüsse, welche wesentlich gegen die Universitäten und die Presse gerichtet waren, der freien Forschung, der fortschreitenden Wissenschaft Gewalt anzuthun versucht, und es war eine kleine Versammlung, welche auf Oken’s Ruf zusammentrat. Erst jetzt erfahre man, dass Männer aus Oesterreich dabei waren, und Oken selbst sei, fast ein Flüchtling, in der Fremde gestorben. Aber dass sein Gedanke richtig war, davon lege nicht bloss diese glänzende Versammlung Zeugniss ab, sondern noch mehr die fast unzählbare Menge von Wanderversammlungen, die gegenwärtig in Deutschland bestünden und die gerade in diesem Jahre so glänzend dargethan hätten, wie voll und frei wiederum das deutsche Leben in allen Richtungen pulsire. Noch immer jedoch stehe die Naturforscher-Versammlung als das unerreichte Modell da; nicht bloss die erste aller solcher Wander-Versammlungen sowohl in Deutschland, als in der Welt überhaupt sei sie gewesen, sondern sie habe das Princip der individuellen Freiheit am vollständigsten gewahrt. Sie binde keinen Einzelnen durch Gesammtbeschlüsse, sie verfolge keinen unmittelbar praktischen Zweck, sie baue nicht selbst die Wissenschaft, denn die Wissenschaft sei keine Angelegenheit eines Volkes und ihre Wahrheiten würden nicht durch Abstimmungen festgestellt. Mit guter Ueberlegung habe man sie als eine deutsche Versammlung berufen, ihr eine nationale Aufgabe beigelegt, weil sie, ein Protest gegen den Geist der Carlsbader Beschlüsse, dazu berufen sei, die Wissenschaft mit dem Leben, die Gelehrten mit dem Volke in unmittelbare Berührung zu setzen. In dem innigen, dauerhaften persönlichen Verkehr, den sie überall, und so auch hier, mit sich bringe, liege ihre grosse Bedeutung. Nicht nur helfe sie dazu, den durch wissenschaftliche Streitigkeiten der ernstesten Art getrennten Forschern eine Aussöhnung, eine Verständigung möglich zu machen, sondern sie wirke zugleich vermittelnd und unmittelbar bildend in das ganze Volk hinein, welches in dem Verkehr mit den Naturforschern der Wissenschaft selbst näher trete.
In der ersten Sitzung der medicinischen Section habe ein College aus Wien hervorgehoben, dass kürzlich ein österreichischer Minister ausgesprochen habe, Wissenschaft sei Macht. Freilich sei dieser Satz keine neue Erfindung, denn er stamme bekanntlich von einem englischen Minister, demselben, der für die Naturwissenschaft die Methode des strengen Denkens begründet habe, von Baco. Scientia est potentia. Aber gewiss könne man daran die Grösse des Fortschrittes ermessen, der seit 40 Jahren gemacht sei, wenn jetzt selbst jener Staat, welcher sich der freien Forschung am längsten widersetzt hatte, die Naturwissenschaft als eine Helferin der Staatsmänner anerkenne. Das frühere System habe dahin geführt, dass die älteste deutsche Universität, die von Prag, welche schon vor Jahren ihre fünfte Säcularfeier begangen, in Gefahr stehe, czechisirt zu werden. Mit der Unterdrückung der Wissenschaft leide jedesmal der Geist der Nation, deren Einheit sich nicht dadurch zurückerobern lasse, dass man den alten Glauben durch Gewalt zurückführe oder festhalte.
[S. 71] In seiner Eröffnungsrede habe der erste Geschäftsführer mit gerechtem Schmerz darauf hingewiesen, dass die Zerrissenheit der Nation so lange bestehe, als die Einheit des Glaubens verloren gegangen sei. Aber man dürfe nicht übersehen, dass diese Einheit weit früher erschüttert worden sei, als man gewöhnlich annehme. Die ganze moderne Bildung sei ursprünglich durch den christlichen Clerus getragen worden: die Einheit des Glaubens fiel damals zusammen mit der Einheit des Wissens, denn dieselben Personen waren die Träger beider: in denselben Individuen vereinigte sich kirchliche und weltliche Bildung. Speyerer Urkunden lehrten, dass noch im 13., ja noch im Anfange des 14. Jahrhunderts, Geistliche als physici, ja als apotecarii thätig waren. Der physicus aber war Arzt und Naturforscher zugleich, denn die Trennung der medicinischen und naturwissenschaftlichen Disciplinen ist ja von sehr jungem Datum. Im frühen Mittelalter war das Alles Eins, und das Wissen von der Natur fügte sich dem System der kirchlichen Anschauungen organisch ein.
So war es, als der heilige Bernhard von Clairvaux die gesamte Christenheit zum Kreuze rief. Wohl mochte es ein erhebendes Schauspiel sein, als er hier in dem Speyerer Dome dem Kaiser die Fahne des Kreuzes übergab und alles Volk in den Ruf ausbrach: Gott will es! Aber der Erfolg der Kreuzzüge war nicht der, welchen der Heilige erwartet hatte. Aus dem Morgenlande, aus den Schulen der Araber wurde ein neues Wissen von der Natur eingeführt; unter den Stürmen des Krieges entwickelte sich das deutsche Städtewesen, und sehr bald wurden die Städte zugleich die Träger der Freiheit und der Wissenschaft. Ein freies Bürgerthum erwuchs und auch die Wissenschaft ward bürgerlich. Die Einheit des Glaubens ging damit unwiederbringlich verloren, und der moderne Staat, der bürgerliche Staat würde vergeblich darnach streben, dem Volke eine Weltanschauung aufzuzwingen, welche der wissenschaftlichen Erkenntniss widerstreitet. Unwiderstehlich dringt die naturwissenschaftliche Wahrheit in das Volk ein, und am Staate ist es, die neue Bildung möglichst allgemein zugänglich zu machen.
Denn es ist falsch, zu glauben, dass der Gewinn, welchen die Naturwissenschaft dem Staate bringt, nur ein materieller ist. Es mag sehr gut sein, dass die Staatsmänner einsehen, welche Quellen des Wohlstandes für die Bürger, welche Bürgschaften des Bestehens für die Staaten selbst in der Anwendung der Naturkenntnisse gegeben sind. Aber das entscheidet nicht. Vielmehr ist es der ideelle Gewinn, welcher ins Auge zu fassen ist. Zweierlei kann erreicht werden, sobald der Unterricht in den Naturwissenschaften auf den Schulen gehörig organisirt wird: Vollständigkeit des Wissens und methodisches Denken.
Zunächst muss man fordern, dass Jedermann doch mindestens eine allgemeine Vorstellung von der Natur und dem Wesen der Dinge, von den Ursachen der Vorgänge habe, welche ihn täglich umgeben und von welchen sein eigenes Geschick, sein Leben und Wohlsein, seine Nahrung, seine Beschäftigung unmittelbar abhängen. Der Schulunterricht muss den Einzelnen wenigstens so weit bringen, dass er seine Sinne wirklich gebrauchen lernt, dass er sich sein Urtheil unabhängig bilden kann und dass er nicht auf jedem Schritte durch überwundene Vorurtheile gehemmt werde. – Sodann (die Erfüllung dieser Forderung ist von der Erfüllung der ersteren abhängig) handelt es sich darum, die von Baco begründete Methode des Denkens, des eigentlich naturwissenschaftlichen Denkens zu der allgemeinen zu machen. Hier ist der Punkt, wo die Naturwissenschaft ein Wörtchen mit der Philologie zu sprechen hat. Nicht die Grammatik mit ihrem Schematismus todter Gesetze und Ausnahmen gewährt die Grundlage einer Denkerziehung, welche für das Leben vorbereitet, sondern die Naturwissenschaft, welche auch in der Ausnahme des Gesetzes, in dem Gesetz die Freiheit erkennen lehrt. Die [S. 72] Wissenschaft macht frei, aber ihre Freiheit ist nicht die gesetzlose, willkürliche Freiheit, welche Staat und Gesellschaft gefährdet. Der Naturforscher erkennt die wahre Freiheit in der ungehinderten Entfaltung des Gesetzes, gleichwie er in dem plötzlichen Offenbarwerden des Gesetzes das Wunder schaut. Freilich ist erst vor Kurzem in einer anderen Versammlung das Wort gefallen, es gebe überhaupt keine freie Wissenschaft, denn selbst die Philosophie sei an die Gesetze des Denkens gebunden. Aber in der That ist menschliche Freiheit nichts anderes, als die ungehinderte Herrschaft des Gesetzes, und alles Streben nach Freiheit richtet sich oder darf sich richten nur auf die Beseitigung der Schranken, welche der Herrschaft des Gesetzes entgegenstehen. Das freie Denken ist das methodische Denken, welches auf das Wesen und die Ursache der Dinge dringt, und das in unsern Schulen einzuführen, sei die wichtigste Aufgabe der praktischen Naturwissenschaft.
Die Medicin hat nun allerdings noch eine andere Forderung an die Schulen. Es ist nicht mehr zu leugnen, dass die Schule als solche für die Gesundheit unserer Kinder die schlimmsten Gefahren mit sich bringt, dass insbesondere die einseitige Entwickelung des Geistes (und zwar nur der formellen Seite des Geisteslebens) die körperliche Ausbildung, die leibliche Gesundheit unserer Jugend beeinträchtigt, und dass der anhaltende Aufenthalt der Kinder in den Schulen in der bisherigen Weise unzulässig ist. Deshalb, erklärt der Redner, habe er schon in der letzten Versammlung der Naturforscher zu Königsberg den Satz aufgestellt, dass die eigentliche Schulzeit auf die Hälfte des Tages zu verkürzen und durch Verbesserung der Lehrmethode das gleiche Resultat in der Hälfte der Zeit zu erreichen sei. Er freue sich, dass vor kurzer Zeit der Herzog von Cambridge vom militärischen Standpunkte zu demselben Schlusse gelangt sei. Die andere Hälfte des Tages sei der körperlichen Ausbildung, insbesondere dem Turnunterricht zuzuwenden, und man müsse endlich dahin kommen, das Gymnasium der Alten, welches ja wesentlich eine körperliche Erziehungsanstalt gewesen, so mit dem Gymnasium der Neuern, welches wesentlich eine geistige Erziehungsanstalt sei, zu verschmelzen, dass beide nur Eines seien. Dann würde man auch wieder einheitliche Menschen erziehen, bei denen Wissen und Können zusammenfielen und bei denen nicht verschiedene Naturen und Ueberzeugungen mit einander im Kampfe lägen. Alle unsere kleinlichen Parteistreitigkeiten in Kirche und Politik würden sich auf natürliche Weise lösen, wenn man erst wieder dahin komme, ganze Menschen zu haben. Dann würde nicht nur die Einheit von Glauben und Wissen, sondern auch die des Wollens und Könnens wieder gewonnen werden, eine Einheit, die nicht bloss dem Einzelnen, sondern auch dem gesammten Vaterlande zu Nutze kommen werde.
Von dieser Hoffnung sei die Naturforscher-Versammlung getragen. Im vorigen Jahre hatte sie ihren Sitz in einem Theil des Vaterlandes genommen, der politisch dem allgemeinen Bunde entzogen ist, obwohl deutsche Thatkraft ihn eroberte und deutsches Wissen von da aus seine mächtigste Förderung erhalten hatte. Als in Königsberg die deutsche Fahne über dem Sitze des ersten Geschäftsführers sich entfaltete, da war es ein nationales Ereigniss. Und so sei die Versammlung auf das linke Rheinufer gekommen, nicht allein um von deutschem Wissen Zeugniss abzulegen, sondern auch um darzuthun, dass in den gelehrten Kreisen, wie im Volke, die Ueberzeugung lebendig sei, dass ein so schönes und ächtes Glied dem Vaterlande nicht verloren gehen dürfe, und dass in den Zeiten der Gefahr die streitbaren Arme nicht fehlen werden, welche deutscher Geist zur edlen That errege.
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