Wunsch und Wirklichkeit in der Programmbildung

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Author/Authoress:

Witthalm, Karl

Title: Wunsch und Wirklichkeit in der Programmbildung
Year: 1935
Source:

Fünfundzwanzig Jahre Uraniagebäude 1910-1935, Wien 1935, S. 21.

Wenn von Programmbildung im Volksbildungshaus die Rede ist, müßte eigentlich von der inneren Zielsetzung der Volksbildungsarbeit und deren Programmfolgerungen gesprochen werden; das Menschenbild, das der Volksbildungsarbeit als erstrebenswertes Ideal vorschwebt, müßte in seinen wichtigsten Zügen entworfen werden und es wäre auseinanderzusetzen, mit welchen Mitteln und unter welchen Voraussetzungen die Formung und Entwicklung des Menschentypus von morgen angebahnt und erreicht werden soll, dem die Volksbildungsarbeit von heute dienen will.

Da hier aber von den praktischen Fragen und Aufgaben der Volksbildung gehandelt werden soll, wollen wir uns darauf beschränken, unter Programmbildung den Inbegriff aller Vorbereitungen und Maßnahmen, Ueberlegungen und Entscheidungen zu verstehen, die vom ersten Anstoß bis zur tatsächlichen Durchführung einer Vortragsveranstaltung reichen. Je nach dem, von wo aus jener erste Anstoß erfolgt, unterscheiden wir vorerst ganz grob zwischen Vortragsplanungen, die vom Volksbildungshaus selbst ausgehen, und zwischen solchen, die ihm von außen zukommen. Es scheint auf den ersten Blick klar, daß eine Volksbildungsarbeit, die weiß, was sie will und was sie soll, in erster Linie und vor allem auf die initiative Programmbildung Wert legen muß. Es dürfte aber ebenso begreiflich sein, daß ein Programm, dem die gegenständliche Reichhaltigkeit und zahlenmäßige Fülle eignet, wie dem der Urania, mit den der eigenen Initiative entspringenden Vorträgen nicht das Auslangen finden kann, weil es einfach unmöglich ist, für die große Zahl von Veranstaltungen, die wir im Laufe eines Jahres ins Programm aufnehmen können und müssen, in jedem einzelnen Falle die von uns als berufen erkannten Persönlichkeiten zu den von uns als wünschenswert bezeichneten Themen zu gewinnen. Vielfach wird sich die Initiative auf die Auswahl der einzuladenden Persönlichkeiten selbst beschränken müssen, wobei dann der Programmbildung die Aufgabe bleibt, die auf diesem Wege erhaltenen Themenvorschläge zeitlich und sachlich ins Programm einzufügen. Die Programminitiative des Volksbildungshauses kann ja überhaupt nur in verhältnismäßig wenigen Fällen in der Ausarbeitung und Verwirklichung eines Wunsch- oder Sollprogramms (Beispiel-Lehrplan hat das Eduard Weitsch auch einmal genannt) bestehen, wie zum Beispiel bei den Vortragsreihen und kürzeren Kursen. Ein besonderes Feld eigener Betätigung bietet sich der Programmgestaltung dort, wo es sich darum handelt, Mitarbeiter von auswärts dem Tätigkeitsbereich des Volksbildungshauses einzugliedern. Hier ist es möglich, nach Persönlichkeiten Ausschau zu halten, denen eine geistige Leistung und der Ruf geistiger Führerschaft vorangehen, hier ist die besondere Gelegenheit gegeben, den Vortragsbesuchern die unmittelbare Begegnung mit irgendwie schöpferischen Zeitgenossen zu vermitteln. Wir wissen sehr gut, daß solchen Einzelvorträgen bemerkenswerter Persönlichkeiten nicht immer und unbedingt eine Bereicherung des Sachwissens zuzuschreiben sein wird, dagegen ist uns die Macht der Persönlichkeit bekannt, die in solchen Vorträgen zur Geltung kommt und die Zuhörer von der Seite des geistigen und seelischen Erlebnisses her zu beeindrucken vermag.

Anders stellt sich die Programmarbeit dar, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der dem Volksbildungshaus von außen zukommenden Anregungen und Vorschläge betrachtet. Wir dürfen aus Erfahrung sagen, daß die volksbildnerische Verantwortung gegenüber diesem Anbotprogramm ungleich schwieriger und bedeutungsvoller ist, als die des initiativen Teiles unserer Arbeit. Mehr noch als bei unseren eigenen Plänen und Projekten müssen wir den von außen her kommenden Vorschlägen, Anregungen und Wünschen gegenüber unseren eigenen festen Standpunkt, unsere eigene sachliche Ueberzeugung besitzen und vertreten, das heißt, gerade bei diesem Teil unserer Arbeit müssen wir wissen, nicht nur, was wir wollen und sollen, sondern namentlich, was wir dürfen und nicht dürfen.

Dabei ist uns zur Genüge bewußt, wie weit in allen Fällen die Wirklichkeit von dem Wunschbild entfernt bleibt und bleiben muß, das wir uns bei unserer Arbeit vor Augen halten. Nichtsdestoweniger müssen wir mit doppelter Aufmerksamkeit in jedem einzelnen Fall streng sachlich prüfen, und Erwägungen, die nicht aus unserer volksbildnerischen Einstellung und Ueberzeugung stammen, auszuschalten trachten. Aber nicht nur dort, wo es heißt, persönlichen Schwierigkeiten und Widerständen zu begegnen, gilt es, den volksbildnerischen Standpunkt zu wahren und zu verteidigen, sondern auch in jenen Fällen, wo äußerlicher Erfolg und billige Sensation zum Verlassen der klar erkannten volksbildnerischen Richtlinien verlocken. Man kann sich bei solchen Entscheidungen nicht oft genug vor Augen halten, was für unsere Arbeit immer wieder betont und wiederholt werden muß, daß Volksbildungsarbeit nicht vom Tage her gesehen und betrieben werden darf, sondern vielmehr, daß Volksbildungsarbeit als eine Saat für die Zukunft gelten muß, vor deren Urteil wir um so eher werden bestehen können, je mehr die Wirklichkeit unserer Programmarbeit dem Wunschbild gleicht, das wir von ihr im Herzen tragen.

 

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Hervorhebungen im Original durch Sperrung werden in Kursivsatz wiedergegeben. Ausdrücke in runden Klammern stehen auch im Original in runden Klammern.)

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