Author/Authoress: | Hartmann, Ludo Moritz |
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Title: | Zur Ausgestaltung der volkstümlichen Universitätskurse |
Year: | 1900 |
Source: | Zentralblatt für Volksbildungswesen, 1. Jg., 1900/01, Nr. 1/2 (ausgegeben am 15. November 1900), S. 17-22. |
[S. 17] Dank der staatlichen Subvention, die es ermöglichte, die Lehrenden angemessen, wenn auch nicht glänzend zu honorieren und den Lernenden nicht allzu grosse materielle Opfer zuzumuten; dank der Leitung durch die Universität, die Lehrenden und Lernenden Vertrauen zu dem neuen Unterrichtssysteme einflösste; dank der Wissbegier der Bevölkerung, welche die Lehrenden zu begeistertem Eifer anspornte und den Eifer der Lernenden niemals erlahmen liess ‒ haben sich die Wiener volkstümlichen Universitätskurse in den 5 Jahren ihres Bestehens überraschend entwickelt. Die Zahl der Kurse konnte in Wien von 58 auf 77 vermehrt werden, und die Durchschnittszahl der Besucher stieg trotzdem von 107 auf 123, die Gesamtzahl von 6200 auf 9500. Nahezu drei Viertel der eingeschriebenen Hörer waren in den letzten Vorträgen der Kurse noch anwesend. Zugleich breitete sich [S. 18] die Bewegung auf dem Lande aus, und im letzten Jahre wurden ausserhalb Wiens 21 von der Wiener Universität veranstaltete Kurse von 6372 Personen besucht1. Kurz nach Beginn der Wiener Kurse haben nahezu alle österreichischen Universitäten das in Wien gegebene Beispiel befolgt2, und es wirkte auch anregend und ermunternd auf die Bewegung in Deutschland, welche die gleichen Ziele verfolgt.
Je grösser die Freude an der Schnelligkeit der Entwicklung, die sogar die anfänglichen Erfolge der University Extension in England übertrifft, desto zwingender auch die Pflicht, den weiteren Entwicklungstendenzen entgegenzukommen und in der Organisation keinen Stillstand eintreten zu lassen. Die Richtung der Fortentwicklung muss sich aus den erwachsenden Bedürfnissen ergeben; ist ja doch das vielleicht der Hauptvorzug der neuen Unterrichtsorganisation, dass sie innerhalb gewisser Grenzen unbedingt anpassungsfähig ist. Innerhalb gewisser Grenzen: denn es versteht sich nahezu von selbst, dass alles Politische gemäss den Statuten von den Universitätskursen strengstens ferngehalten werden muss, will man nicht die Institution nach unten und nach oben in gleicher Weise gefährden; die Politik gehört überhaupt nicht in den Rahmen einer allgemeinen Unterrichtsorganisation, und der politische Unterricht mag füglich den politischen Parteien überlassen werden. Eine andere Beschränkung legt der Hochschulcharakter auf: die Universitätskurse müssen auf den eigentlichen Elementarunterricht verzichten; die grossen Lücken, welche unser Volksunterricht in Österreich lässt, müssen auf andere Weise ausgefüllt werden; manches leisten die Arbeiterbildungsvereine, anderes könnte, wie in Dänemark, durch Leistungen der Studentenvereine, die sich sozial bethätigen wollen, geschehen.
Das Gebiet, das durch diese Grenzen abgesteckt ist, ist noch weit genug. Wenn bei der Zusammensetzung der Kurse bisher vor allem darauf gesehen wurde, dass Gegenstände allgemeineren Interesses in wissenschaftlicher Weise behandelt wurde, um die Denkfähigkeit der Hörer durch Beispiele in der einen oder der anderen Richtung zu schärfen, so wird dieser Zug nach der allgemeinen Bildung, nach einer Erweiterung und Vertiefung des elementaren Wissens und Denkens, das die allgemeine Volksschule vermittelt, wohl auch künftig der Mittelpunkt der Entwickelung bleiben. Es ist aber andererseits natürlich, dass, wie sich auch durch die Statistik herausgestellt hat, von den einzelnen vielfach diejenigen theoretischen Kurse bevorzugt werden, welche ihnen als Ergänzung ihrer praktischen Thätigkeit erschienen3, von den Photographen Chemie, von den Monteuren Elektrotechnik, von Zeichnern und Bildhauern Kunstgeschichte u. s. w. Es wurden auch schon vielfach von Fachgruppen Wünsche laut, die sich auf die Berücksichtigung ihrer besonderen Bedürfnisse bezogen. Man wird sicherlich diesen Wünschen entgegenkommen, ja die Interessenten aneifern müssen, diese Wünsche zu äussern. So stellen z. B. die Angestellten im Handels- und Speditionsgewerbe einen nicht [S. 19] unbeträchtlichen Teil der Hörer: sie wünschen Kurse über Handelsgeographie, und es ist nicht unmöglich, dass, wenn dieser Wunsch berücksichtigt wird, die geographischen Kurse, die bisher wenig besucht waren, stärkeren Zuspruch finden werden. Auf dem Lande wird man in nichtindustriellen Gegenden landwirtschaftliche Kurse einrichten müssen, die sich z. B. in Dänemark so gut bewährt haben u.s.w. Auch die Kurse für Lehrer, also für einen Stand, der schon bis 1898 mehr als 8% der Hörer stellte, gehören in diese Kategorie; gewiss wird es in nächster Zukunft eine der Fragen sein müssen, welche zu lösen sind, in welcher Weise Universitätskurse für Lehrer einzurichten sind, welche auf die höhere Vorbildung der Lehrer Rücksicht nehmen. Allein es wäre unseres Erachtens ein Irrtum, zu glauben, dass solche Kurse für Lehrer die volkstümlichen Universitätskurse überhaupt ersetzen könnten, wenn die Lehrer dann ihrerseits die Vermittelung der so erworbenen Kenntnisse an die weiteren Kreise übernähmen. Denn es genügt nicht für einen gedeihlichen Unterricht, wenn der Lehrende gerade nur über die Kenntnisse verfügt, die er weiter vermitteln soll; der Lehrende muss über dem Lehrstoff stehen; in der Auswahl und Disposition des Stoffes, die allerdings viel sorgfältiger sein muss, als im Universitätskolleg, liegt eine grosse Schwierigkeit, die der Lehrer, der den Stoff frisch in sich aufgenommen hat, kaum wird bewältigen können. Der Lehrer, der nicht Spezialist ist, wie der Universitätslehrer, kann niemals das enge Verhältnis zu seinem Stoffe gewinnen, wie der Forscher selbst und könnte bei aller Hingebung und trotz der grössten pädagogischen Erfahrung nur ein Surrogat dessen, geben, was der Universitätslehrer bietet, wenn er einmal populär vorzutragen gelernt hat. Wenn man aber auch den Volksschullehrern die ihnen von manchen zugedachte Rolle nicht wird zuteilen wollen, bevor sie nicht selbst eine ganz andere Bildungsgrundlage gewonnen haben, als unter den heutigen Verhältnissen möglich ist, so wird man doch anerkennen müssen, dass Kurse für Lehrer von besonders grosser Bedeutung sind, weil jede Förderung der Lehrerbildung unendlich vervielfältigt zurückwirkt auf die elementare Bildung der heranwachsenden Generation.
Wenn solche Kurse für bestimmte Fachgruppen oder mit besonderer Berücksichtigung bestimmter Fachgruppen schon einen unmittelbar praktischen Zweck verfolgen, so wird man auch den Beschluss des Wiener Ausschusses für volkstümliche Universitätskurse, im Jahre 1900-1901 provisorisch fakultative Prüfungen und Zeugnisse einzuführen, als einen weiteren Schritt in dieser Richtung betrachten können4. Bisher schloss sich an jeden Vortrag nur eine freie Fragestellung von seiten der Hörer oder des Vortragenden an, und diese Besprechungen, die sich namentlich in Arbeitergegenden, sobald die Hörer einmal die erste Scheu überwunden haften, sehr lebhaft gestalteten, waren für Lehrer und Hörer nicht der am wenigsten belehrende Teil des Abends. Die Einführung von Zeugnissen wird nun gewiss nicht nur den Ehrgeiz einzelner anspornen, sondern auch für viele von praktischem Nutzen [S. 20] sein, wenn auch noch keine Berechtigungen mit der Ablegung einer solchen Prüfung verbunden sind. Der Monteur, der nachweisen kann, dass er mehrere Kurse über Elektrotechnik, Mechanik u. s. w. mit gutem Erfolg gehört hat, wird gewiss bei seinem Fortkommen einen Vorsprung vor seinen Kollegen haben. Allerdings ist es notwendig, dass zur Erreichung dieses praktischen Zieles die Prüfungen von vornherein ernsthaft behandelt werden, und so hat der Ausschuss vorsichtigerweise, um den Wert dieser Zeugnisse nicht herabzusetzen, beschlossen, nur solche Hörer zur Prüfung (oder richtiger „Besprechung“) zuzulassen, welche nachweisen können, dass sie mindestens 3 Kurse, welche ein grösseres Wissensgebiet in Fortsetzungen behandeln, gehört haben.
Die neue Einrichtung wird aber auch durch den Zwang zum Nachstudieren, den sich der einzelne freiwillig auflegen wird, indem er Handbücher über den Gegenstand durcharbeitet, wie sie z. T. in den kleinen, viel benutzten Kursbibliotheken oder in den Volksbibliotheken zur Verfügung stehen, zur Intensivierung des Lernens beitragen. Aus den schon bisher üblichen Besprechungen, aus vielen Eingaben, die an die Leitung der volkstümlichen Kurse gemacht wurden, ergiebt sich das Bedürfnis, das die Elite der Hörerschaft empfindet, noch weiter in den vorgetragenen Gegenstand einzudringen, als dies selbst durch Anhören von 3-4 Fortsetzungskursen möglich ist; man verlangt nach allgemeinen Kursen Spezialkurse auf Grund der Kenntnisse der Grundlinien das Eindringen in die Methoden. Ein Vortragender berichtet, dass sich 38 Teilnehmer an seinen Kursen an ihn mit der Bitte wendeten, eine Organisation schaffen zu helfen, in welcher die Möglichkeit gegeben wäre, unter der Leitung des Vortragenden eingehendere Studien zu machen, und bemerkt, dass, da sich die Zahl der Vorgeschrittenen beständig eben durch den beharrlichen Besuch der volkstümlichen Kurse und das dadurch angeregte und geleitete Privatstudium vermehrt, das Bedürfnis nach besonderen Vorträgen für besser Vorgebildete geradezu geschaffen wird.5 Kaum einer von den Vortragenden wird nicht mit dem einen oder dem anderen seiner Hörer in engere Beziehung getreten sein, um ihn weiter nach der einen oder der anderen Richtung hin anzuleiten, wird nicht den Wunsch empfunden haben, eine Anzahl seiner Hörer durch Lektüre und Erklärung von Quellenschriften, durch praktische Übungen weiterzuführen. Hier liegt ein starkes Bedürfnis vor, das befriedigt werden muss und das zu seiner Befriedigung einer Organisation bedarf.
Im Rahmen unserer volkstümlichen Universitätskurse lassen sich die Fortsetzungskurse ausbauen, die Besprechungen stärker betonen, vielleicht auch „Sommer-Meetings“ im Sinne der englischen ins Auge fassen. Doch würde dies alles wohl nicht allein genügen. Nachdem die Universitätslehrer zum Volke gegangen sind, will nun das Volk zu den Universitätslehrern gehen, um sich unter ihrer Leitung auch selbstthätig zu bewähren. Wie die Kollegien in den Seminaren, so fordern die Kurse in einer analogen Einrichtung ihre Ergänzung, nur dass die Berührung zwischen Lehrer und [S. 21] Lernenden umso enger sein muss, der Lehrende um so mehr von sich ausgeben muss, je unbehilflicher die neuen Schüler sind; der Umgang um so zwangloser, je mehr er auf Freiwilligkeit beruht. Es ist schwer anzunehmen, dass die Universität in ihrer heutigen Organisation als solche auch dieses Experiment unternehmen wird. Genug vorläufig, dass sie durch die volkstümlichen Kurse die Grundlage geschaffen hat, die einen weiteren Ausbau ermöglicht, und die Lehrer stellt, die sich Vertrauen erworben haben und zur Mitleitung der neu zu schaffenden Organisation bereit sind. Diese selbst muss aus der Selbstthätigkeit der Interessenten, d. i. der Hörer der volkstümlichen Kurse hervorgehen.
Ein Verein der Hörer der volkstümlichen Universitätskurse muss sich bilden, dem sich vielleicht auch die Leser der Volksbibliotheken anschliessen und an dessen Leitung und Thätigkeit die Universitätslehrer teilnehmen. Zunächst ein kleines Heim, etwa einige Zimmer in den westlichen Vororten, ist nötig, in dem Lernmittel, Bücher und Demonstrationsobjekte, konzentriert werden, als Sammelpunkt für die Lernenden und die Lehrenden. An jedem Wochentage werden sich hier einige Dozenten einfinden und diesen auf bestimmte Fragen Auskunft geben, jenen Anleitung zur richtigen Lektüre in ihrem Fache erteilen; an einem Wochentage wird von einem kleinen Kreise etwa ein philosophischer Schriftsteller gelesen und erläutert werden, an einem anderen werden physikalische Experimente angestellt, an einem dritten wohl auch ein Fortbildungskurs gehalten, an einem weiteren Hörer zur Führung in ein Museum vorbereitet. Der physikalische Apparat der volkstümlichen Kurse, der in Vorbereitung ist6, die kleinen schon bestehenden Kursbibliotheken können als Ansätze für diese intensivere Bildungsthätigkeit dienen; andere Vereine mögen zum Zwecke der Bibliotheksgründung kooperieren: eine Verbindung mit der Zentralbibliothek wäre sehr wünschenswert. Auch andere Hilfskräfte, Lehrer, Studenten mögen zu bestimmten fest umgrenzten Arbeiten herangezogen werden. So kann etwas den analogen englischen Instituten Ähnliches entstehen, zunächst das, was in Frankreich als Volksuniversität bezeichnet wird und was Deherme zuerst in Paris ins Leben gerufen hat, ohne dass er eine Anlehnung an volkstümliche Universitätskurse gehabt hätte, wie sie bei uns möglich ist.7
Man kann die Schaffung einer solchen Institution bei uns nicht als Utopie bezeichnen; es muss nur der letzte Schritt in dieser Richtung noch gethan werden, und die „Volksuniversität“ wird sein ehe man sich‘s versieht. Sie wird aber dann auch das einigende Band für alle ähnlichen Bestrebungen und Vereine, die der Volksbildung dienen, sein. Das Volksbibliothekswesen und das Vortragswesen sind bei uns schon auf eine relativ so hohe Stufe gebracht, dass sie zur Konzentration und Zusammenarbeit hindrängen. Und der weitere Schritt, der dann gethan werden muss, führt zum Volkspalaste. Die Errichtung eines Volkspalastes ist bei uns eigentlich nur noch eine [S. 22] finanzielle Frage. Wenn er stände, könnten wir ihn mit Büchern und Lesern, mit Vorträgen und Schülern und mit allen anderen nötigen Einrichtungen in einmütiger zielbewußter Arbeit der schon bestehenden Korporationen prächtig füllen. So darf man die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich auch bei uns einmal die Mittel zu einem gemeinnützigen Unternehmen so grosser Art finden und dass der Rahmen für das schöne Bild nicht fehlen wird.
Anmerkungen
1 Vgl. den beiliegenden Bericht für 1899-1900, S. 10f.
2 Vgl. den Bericht für 1898-1899, S. 21ff.
3 Vgl. den Bericht für 1897-1898, S. 49.
4 Die Innsbrucker volkst. Univ.-Kurse haben ebenso wie die englischen, solche Prüfungen von vornherein in ihren Statuten vorgesehen.
5 Vgl. den Bericht für 1899-1900, S. 22.
6 Vgl. den Aufsatz von Lampa, S. 22. [Diese Anmerkung bezieht sich auf den Beitrag von: Anton Lampa: Über Anlage und Nutzen einer physikalischen Sammlung für die Zwecke der volkstümlichen Universitätskurse. In: Zentralblatt für Volksbildungswesen, 1. Jg., 1900/1901, Nr. 1/2, S. 22-26.]
7 Wir werden demnächst eine ausführliche Darstellung Herrn Dehermes über die Pariser Organisation „La coopération des idées“, ihre Entwicklung, gegenwärtigen Stand und nächste Ziele bringen. Die Red.
(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt. Fußnoten wurden in fortlaufend gezählte Endnoten umgewandelt.)