Author/Authoress: | Borinski, Fritz |
---|---|
Title: | Erwachsenenbildung und Völkerverständigung |
Year: | 1952 |
Source: | Die Österreichische Volkshochschule. Sondernummer zum Salzburger internationalen Treffen für Erwachsenenbildung, Juni 1952, S. 7-9. |
[S. 7] In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 wird ein im weitesten Sinn politisches Bildungsziel aufgestellt. Es heißt im zweiten Absatz des Artikel 26:
„Die Bildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen und religiösen Gruppen fördern und die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Friedens begünstigen.“
Wer das hier in seiner politischen Zielsetzung umrissene Grundrecht auf Bildung anerkennt, bejaht zugleich die mitbürgerliche Aufgabe und Verpflichtung der Erwachsenenbildung. Denn so wichtig die elementare Erziehung des Kindes und des Jugendlichen in Elternhaus und Schule auch ist, sie kann erst bei erwachsenen und erfahrenen Menschen zur mitbürgerlichen Reife gelangen. So wie einst Grundtvig in der Krise seines Volkes nicht warten wollte, bis eine Schulreform dem dänischen Staat und Volk bessere Mitbürger erzogen hatte, sondern bewußt bei den Erwachsenen ansetzte und die Volkshochschule zur Schule des neuen Gemeinschaftslebens machte, so müssen wir heute in einer von Katastrophen bedrohten, schnellebigen Welt, die nur durch ein neues menschliches Verhalten in Ordnung gebracht werden kann, beim erwachsenen Menschen beginnen. Unser Beginnen aber muß den freien und verantwortlichen Mitbürger zum Ziel haben, es muß politisch sein, denn in der gesellschaftlichen und politischen Existenzkrise unserer Zeit ist alle Erwachsenenbildung politisch. Sie muß sich an der Behandlung und Bewältigung politischer Probleme, an der politischen und sozialen, d. h. mitbürgerlichen Erziehung und Bildung ihrer „Hörer“ und „Schüler“ bewähren. Diese mitbürgerliche Bildung macht nicht halt an den Grenzen der einzelnen Länder. Es geht nicht nur um den österreichischen, italienischen oder deutschen Mitbürger, der als Österreicher, Italiener oder Deutscher seine Rechte und Pflichten in Staat und Gemeinde mit Umsicht wahrnimmt und gewissenhaft erfüllt, es geht zugleich um den Mitbürger einer großen, übernationalen Lebensordnung, den Träger eines größeren, übernationalen Bewußtseins, der sich um „Duldsamkeit und Freundschaft zwischen den Völkern“ bemüht.
Wie kann die Erwachsenenbildung diesem Ziel dienen? Ich kann hier keine nur halbwegs erschöpfende Aufzählung der Möglichkeiten, der von unseren Freunden und Kollegen in den verschiedenen Ländern bereits beschrittenen Wege einer übernationalen Erwachsenenbildung geben. Ich will nur einige Gesichtspunkte herausstellen.
1. Völkerverständigung setzt Verstehen – Verständnis für den anderen voraus. So müssen die Stätten der Erwachsenenbildung zum Verständnis für andere Völker und für internationale Zusammenhänge erziehen. Sie müssen in ihren Kursen, Arbeitsgemeinschaften und Vorträgen über die anderen Völker und Länder, ihre Geschichte und ihre gesellschaftliche Lebensweise, sachlich informieren, nationalistische Vorurteile durch reale, konkrete Fakten ersetzen und überwinden. Verständnis verlangt Kenntnisse; die lebendige Kenntnis einer anderen Nation setzt den lebendigen persönlichen Eindruck, das persönliche Erlebnis von Land und Leuten voraus. Deshalb müssen sachliche Kenntnisse durch menschliches Kennenlernen, durch (sachlich wohl vorbereitete) Reisen und internationale Sommerschulen ergänzt werden. Es genügt aber bei der heutigen Weltlage nicht, eine Anzahl anderer Länder zu kennen. In einer Zeit, wo Technik, Wirtschaft und Politik die Grenzen und Maßstäbe des Nationalstaates gesprengt haben, wo anstatt der Nationen Kontinente Geschichte machen, muß die Erwachsenenbildung mit besonderem Nachdruck die Gegebenheiten, die gesellschaftlich-politischen Formen und Strukturen des internationalen Lebens studieren und darstellen. Deshalb bekommen die Probleme und Zusammenhänge des internationalen Lebens („International Relations“), bekommt für unsere europäischen Länder die Europakunde einen besonderen Vorrang in der Arbeit der Erwachsenenbildung. Aus diesem Grunde haben z. B. die Volkshochschulen Niedersachsens die Fragen und Probleme der europäischen Einheit und Vereinigung in den letzten beiden Jahren zum Schwerpunkt und Hauptthema ihrer Arbeit gemacht.
[S. 8] 2. Das Verständnis für den anderen setzt Selbsterkenntnis und Selbstkritik voraus. Das gilt für das persönliche Leben ebenso wie für das Leben der Völker, und damit gilt auch, daß diese gerechte und gesunde Selbstkritik kein krankhaftes Wüten gegen uns selbst bedeuten darf, sondern Teil eines gesunden persönlichen wie nationalen Selbstbewußtseins sein muß. Die Erwachsenenbildung dient damit der Völkerverständigung ebenso wie der echten nationalen Volkserziehung, wenn sie die Minderwertigkeitsgefühle der „zu spät gekommenen“ Völker bekämpft und überwindet, wenn sie uns frei macht von den Rückgefühlen und Empfindlichkeiten der lauten Selbstanpreisung und Selbstbeweihräucherung nationaler Unsicherheit.
Wir müssen zu Kritik erziehen gegen die billigen summarischen Verallgemeinerungen, die Kollektivurteile über ein Volk (den Österreicher, Italiener, Franzosen, Deutschen), die durch Propaganda und unkritische Verallgemeinerungen zufälliger persönlicher Eindrücke in unser Denken eingedrungen sind, nun jedoch der konkreten Wirklichkeit widersprechen und den Weg zum Menschen des anderen Volkes versperren.
Die Erwachsenenbildung muß zur Selbstbesinnung führen und fragen, wie unsere Völker das Ausland sehen und wie das Ausland uns zu sehen gewohnt ist. Sie muß untersuchen, welchen Platz unser Volk und Land in der Geschichte und in der Gegenwart zwischen den großen Mächten des Westens und des Ostens einnimmt, und sie muß das Geschichtsbild des einzelnen Volkes, das erfüllt ist von der Selbstgerechtigkeit des eigenen politischen Handelns und der Anklage gegen die Frevel unserer Nachbarn, reinigen von einer zu engen nationalstaatlichen Argumentation und weiter zu der größeren Geschichtsauffassung Europas. (Denken wir nur an die Fragen des „geschichtlichen Rechts“ auf die Grenzgebiete, die heute noch zwischen Deutschen und Dänen, Franzosen und Deutschen, Österreichern und Italienern, Italienern und Jugoslawen stehen!)
3. So wie alle echte Volksbildung dem Massenbetrieb und der Massenpropaganda widerstrebt, so muß auch ihre mitbürgerliche Bildungsarbeit, ihre Arbeit an der Völkerverständigung und der Entstehung eines gemeinsamen übernationalen Bewußtseins eine Arbeit auf lange Sicht, ein stilles, intensives Schaffen mit kleinen Gruppen und Kreisen sein. Sie darf sich nicht auf internationale Massentreffen und Ferienlager beschränken, darf nicht der äußerlichen Angeberei und Sensation, dem Tagungsbummler und Summer School Tramp verfallen, sondern muß den ernsthaften, wesentlichen, aktiven Menschen ansprechen, durch ihn den Verständigungswillen in seinem Volk bilden und stärken und somit auf die verschiedenen Völker und Verbände wirken.
4. Es kommt gewiß viel auf den Menschen, seine Ermutigung zur Selbstlosigkeit, zur „Politik des guten Willens“ an. Aber es genügt nicht, einen Bund der Weltbürger und Friedensfreunde durch unsere Bildungsarbeit zu schaffen. Ein solcher Bund würde sofort zu einer der vielen Sekten werden, die mit Rezepten und Patentlösungen der Menschheit Weh und Ach kurieren wollen und vor der komplizierten Wirklichkeit scheitern müssen. So wie eine Fahrt ins Ausland nur dann ihren volksbildnerischen und völkerverbindenden Wert hat, wenn sie sachlich solide vorbereitet und unterbaut ist, so hat auch das Zusammentreffen von Menschen verschiedener Nationen nur dann eine willensbildende Kraft und politisch gestaltende Wirkung, wenn dabei die realen Gegensätze und Interessenkonflikte offen ausgesprochen und kameradschaftlich ausgefochten werden. Wir dürfen bei aller berechtigten Betonung der Bedeutsamkeit unserer internationalen Fragen und Entscheidungen nicht die politischen, wirtschaftlichen, sozialen Nöte unserer Völker vergessen, die mit den internationalen Konflikten tausendfach verwoben sind und mit ihnen gelöst werden müssen.
5. Echte Erwachsenenbildung geschieht nicht durch Akte privater Wohltätigkeit oder als Veranstaltung kommunaler oder staatlicher Institute. Sie ist ein integrierender Bestandteil der demokratischen Selbsterziehung und will von demokratischen Bildungsbewegungen getragen sein, in denen die Lehrer und Hörer selbst ihre Bildungsarbeit, ihre Bildungsgemeinschaft tragen, verwalten und gestalten. Deshalb finden wir in den „klassischen Ländern“ der Erwachsenenbildung als Träger ihrer Arbeit überall demokratische Volksbildungsbewegungen. Auch die mitbürgerliche Aufgabe der Völkerverständigung sollte nicht von oben her durch wohlmeinende Stadtväter und Regierungsstellen veranstaltet, sondern von der Bewegung der Hörer und Lehrer her getragen und geformt werden.
Schon bald nach dem ersten Weltkrieg ist mit diesem Ziel ein „Weltbund für Erwachsenenbildung“ (World Association for Adult Education) geschaffen worden. Leider [S. 9] hat dieser Bund den zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Dafür ist aber am Ende dieses Krieges eine internationale Vereinigung der Arbeiterbildungsvereinigungen (International Federation of Workers’ Educational Associations) entstanden. Es scheint mir grundsätzlich wichtig zu sein, daß wir nicht nur durch unsere Lehre der Völkerverständigung dienen, sondern daß wir auch in unserer Organisation den nationalstaatlichen Rahmen sprengen und unseren Willen zur übernationalen Zusammenarbeit durch die Schaffung einer internationalen Volksbildungsbewegung bekräftigen und bewähren.
In der Präambel der UNESCO-Verfassung vom 10. November 1945 lesen wir
„Ein Friede, der ausschließlich auf die politischen und wirtschaftlichen Abmachungen der Regierungen gegründet ist, ist kein Friede, der sich die einmütige, dauernde und ehrliche Unterstützung der Völker der Welt sichern kann; darum muß der Friede, wenn er nicht scheitern will, auf der geistigen und moralischen Solidarität der Menschheit aufgebaut werden.“
Die Erwachsenenbildung hat die Aufgabe, diese geistige und moralische Solidarität ihren Völkern zum praktisch verpflichtenden Bewußtsein zu bringen. Tagungen wie die Konferenzen in Salzburg sollen diesem Ziele dienen. Wir Deutschen wünschen der Salzburger Tagung ein gutes, erfolgreiches Gelingen.
(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original kursiv hervorgehobenen Wörter wurden ebenfalls kursiv gesetzt. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)