Lesen in der Informationsgesellschaft. Das Ende der Gutenberg-Galaxis?

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Author/Authoress:

Böck, Margit

Title: Lesen in der Informationsgesellschaft. Das Ende der Gutenberg-Galaxis?
Year: 1999
Source:

Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 10. Jg., 1999, H. 1-4, S. 17-33.

Ausgangsüberlegungen

Meldungen über ein nachlassendes Interesse am Lesen oder steigende Zahlen sekundärer AnalphabetInnen begegnen uns mit zuverlässiger Regelmäßigkeit in den Medien. Fragt man aber genauer nach, so fehlen meist seriöse empirische Grundlagen. Oder Forschungsergebnisse werden in einer Weise interpretiert, daß die gerade in dieser Frage traditionell sehr starken kulturkritischen Ressentiments eine Bestätigung und Fortsetzung finden: Eine unmündige Gesellschaft, abhängig von audiovisuellen Medien, löse die Buchkultur ab, Bildung und Kultur gingen verloren - solche und ähnlich wenig reflektierte Meinungen stehen hinter dieser oft modernisierungsfeindlichen, aber nichtsdestotrotz auch und gerade im Computerzeitalter sehr gesellschaftsfähigen Haltung.

Auch wenn die Theorien über einen Verfall der Lesekultur spätestens bei der Analyse vorliegender Daten wenig plausibel sind, ist die Aufmerksamkeit für vermutete Veränderungen in der Lesebereitschaft und der Lesefähigkeit berechtigt und wichtig. In einer Zeit, in der der Stellenwert von Kommunikation und Information in beinahe allen Lebensbereichen wächst, gewinnen kommunikative Basiskompetenzen enorm an Bedeutung. Neue Klüfte und Desintegrationsprozesse werden künftig durch Defizite in diesen Bereichen entstehen bzw. sich vergrößern.

Die Kulturtechnik Lesen hat als besonders anspruchsvolle Form der Informationsverarbeitung in diesem Zusammenhang einen herausragenden Stellenwert. Es geht dabei nicht nur darum, daß nach wie vor weite inhaltlich-thematische Bereiche überwiegend oder nahezu ausschließlich über den Code der Schrift [S. 17] festgehalten und verbreitet bzw. zugänglich gemacht werden. Lesen ist als kommunikative Handlung im Kontext des Kommunikationsverhaltens allgemein und des Medienumgangs im besonderen zu sehen, und offensichtlich gibt es Zusammenhänge zwischen den Lesegewohnheiten und der Lesekompetenz einerseits und dem Umgang mit anderen Medien als den Lesemedien sowie interpersonalen Kommunikationsgewohnheiten andererseits. Ein immer wieder bestätigtes Ergebnis der Mediennutzungs- und Leseforschung ist z.B., daß habituelle LeserInnen eine größere Medienvielfalt nutzen als Wenig- oder Nicht-LeserInnen und daß sie vor allem informationsorientierte Inhalte und - sowohl was den Inhalt als auch die Rezeption betrifft - anspruchsvollere Medien häufiger rezipieren (vgl. z.B. Böck 1998, Kiefer 1996a, Saxer u.a. 1989, Stiftung Lesen 1993). Diese Korrelationen sind unabhängig vom Bildungsniveau bzw. treffen sie auf Personen aus niedrigeren Bildungsschichten, die viel lesen, besonders deutlich zu, sodaß den Lesegewohnheiten auch die Funktion zugeschrieben wird, bis zu einem gewissen Grad Bildungsnachteile auszugleichen (vgl. z.B. Fritz 1989). Zu berücksichtigen ist allerdings eine unumgängliche Differenzierung in der Betrachtung dieser Zusammenhänge, weil "Lesen" unterschiedlich anspruchsvolle Rezeptionsmuster und -modalitäten umfaßt - doch dazu noch ausführlicher in einer Anmerkung zu methodischen Problemen der Leseforschung.

Weiters konnte gezeigt werden, daß Personen, die viel lesen, auch von anderen Medien stärker profitieren können, weil sie offensichtlich besser dazu in der Lage sind, z.B. Fernsehsendungen Informationen zu entnehmen (vgl. z.B. Bonfadelli/Saxer 1986). Offenbar findet "ein Transfer von beim Lesen erworbenen Kompetenzen auf die Nutzung anderer Medien" (Schön 1998, S. 65) statt. Dieser Prozeß dürfte aus den besonderen kognitiven, emotionalen und auch kreativen Anforderungen resultieren, die das Lesen an den Leser bzw. die Leserin stellt: Komplexe kognitive Leistungen sind für das Entschlüsseln und Verarbeiten des literalen Codes sowie für das Herstellen von Sinnbezügen und Interferenzen erforderlich, um Zusammenhänge mit dem vorhandenen Wissen herzustellen oder neue Wissensbezüge aufzubauen (vgl. z.B. Hurrelmann 1996, S. 20ff. oder Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995). Durch regelmäßiges Lesen werden diese Fähigkeiten gefordert und gefördert.

Auch wenn diese Zusammenhänge aufgrund ihrer Komplexität zum Teil empirisch erst wenig überprüft sind, sind sie die Grundlage für das Schlagwort der Lesekompetenz als "Basiskompetenz für jede Art von Medienalphabetisierung" (Saxer 1993, S. 338). Als einer der wichtigsten Wege, sich Wissen und Fertigkeiten anzueignen, ist die Lesekompetenz aber auch eine der zentralen Variablen, die über den schulischen, den beruflichen [S. 18] und den sozialen Erfolg der und des einzelnen mitbestimmt. Die besondere Brisanz liegt dabei darin, daß Probleme mit der Lesekompetenz in sich gegenseitig verstärkenden Wechselbeziehungen mit weiteren Faktoren, wie etwa Aspekten des Umgehen-Könnens mit Information generell oder der Wissensaneignung, stehen.

So sind SchülerInnen durch eine mangelnde Lesefertigkeit in ihrem schulischen Fortschritt insgesamt erheblich benachteiligt. Massive Probleme beim Erlernen des Lesens sind ohne gezielte Maßnahmen meist nur schwer aufzuholen. In Langzeituntersuchungen, die leseschwache Kinder begleiteten, wurde die Bedeutung der Lesefertigkeit für die kognitive, aber auch emotionale Entwicklung deutlich. So konnte mit Hilfe spezieller Verfahren gezeigt werden, daß bei lese- und schreibschwachen Kindern depressive Verhaltensweisen zunahmen (vgl. Goldstein/Dundon 1987, zitiert in Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 271 sowie Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1993). Die Entwicklung eines negativen Selbstkonzepts aufgrund ihrer Mißerfolge führt zu einer sinkenden Lernmotivation und einem Gefühl der Hilflosigkeit (vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 271), was zu einer Verstärkung der Lernschwierigkeiten noch zusätzlich beträgt. Auch wenn sich bei leseschwachen SchülerInnen die Lesefähigkeit in der Zeit nach der Pflichtschule meist noch weiterentwickelt, setzen sich die Probleme nach der Schule fort, weil die Lesefähigkeit beschränkt bleibt (vgl. dazu ebd., S. 225). Diese "Negativspirale einer mangelnden Lesefähigkeit" wird durch Befunde einer OECD-Studie bestätigt, daß Personen mit einer unterdurchschnittlichen Lesekompetenz überproportional oft von Arbeitslosigkeit betroffen sind oder ihr Gehalt deutlich unter dem Durchschnitt liegt (vgl. Jones 1995, S. 58f.).

Überträgt man Ungleichverteilungen von kommunikativen Kompetenzen und Chancen auf die gesamtgesellschaftliche Ebene, so wird deren Relevanz für Polarisierungen in "informations-/kommunikationsreiche" und "informations-/kommunikationsarme Gruppen" erkennbar. Ein Ergebnis der sogenannten Wissenskluft-Forschung ist, daß in der Entstehung und Schließung von Wissensklüften neben z.B. der Bildung und dem sozialen Status auch das Leseverhalten eine bedeutende Einflußgröße ist. "Leseförderung als Sozialtechnologie" - dieses Schlagwort beschreibt die Bedeutung des Lesens und der Lesekompetenz in einer Gesellschaft, in der Prozesse der Integration bzw. Desintegration nicht unabhängig von Mediennutzung und Medienkompetenz sind.

Neben diesen vorwiegend die kognitiven Aspekte und Leistungen der Kulturtechnik Lesen betreffenden Implikationen eröffnet das Lesen von vor allem literarischen Texten im Bereich des sozial-emotionalen Erlebens besondere Gratifikationen - dies speziell im Vergleich mit der Rezeption fiktionaler audiovisueller Inhalte. In der schriftlichen Kommunikation können Gefühle, Zustände, Erlebnisweisen etc. nur über den Weg der Sprache mitgeteilt werden. Eine Erweiterung des persönlichen Erlebens kann unterstützt werden, indem ein literarischer Text "Emotionen in ästhetischen Strukturen und Geschichten in [S. 19] Sprache umsetzt und sie damit auch der Reflexion zugänglich macht" (Hurrelmann 1996, S. 23). Beim literarischen Lesen können auch soziale Interaktionsformen durch Empathie, Projektion und Identifikation erfahren und eingeübt werden - und zwar ohne die Zwänge der realen Situationsbedingungen (vgl. Schön 1995, S. 101 ff.).

Aus der individuellen, sozialen, ökonomischen und politischen Relevanz der Kulturtechnik Lesen leitet sich die Notwendigkeit einer "Leseförderung als informationsgesellschaftlicher Aufgabe" (Saxer 1993, S. 332) ab. Leseförderung richtet sich dabei nicht nur auf die Vermittlung einer ausreichenden Lesekompetenz, es geht hier vielmehr um "die Fähigkeiten und Erfahrungen, die durch das Lesen gewonnen werden und die allgemeineren Kompetenzen zugute kommen - nicht zuletzt auch im verständigen Gebrauch der anderen Medien -unresolved-, die Option für ein Bildungskonzept, dem es auf die Entfaltung grundlegender geistiger Fähigkeiten der Heranwachsenden ankommt" (Hurrelmann 1996, S. 19).

Aktuelle Forschungsergebnisse: Lesen in Österreich

Ausgehend von diesen Überlegungen wurde am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien unter der Leitung von Wolfgang R. Langenbucher eine Repräsentativerhebung konzipiert, deren zentrales Ziel es war, Daten für die Konzeption von Leseförderungsmaßnahmen bereitzustellen.1 Es sollte der Stellenwert des Lesens, speziell des Buchlesens, in der medialen Vielfalt am Ende der 90er Jahre dieses Jahrhunderts ermittelt werden. Dies wurde vor allem dadurch möglich, daß in wesentlichen Bereichen eine Arbeit aus 1987 fortgesetzt wurde (Fritz 1989), wodurch eine Reihe von Daten direkt verglichen werden konnte. Das Lesen wurde im Kontext des Medienumgangs untersucht, sodaß auch Befunde über die Veränderungen der Mediennutzung der ÖsterreicherInnen für einen Zeitraum vorliegen, in dem sich die Bedingungen dafür grundlegend verändert haben.

Es wurden 2.000 Personen, repräsentativ für die österreichische Bevölkerung ab 14 Jahren, im Rahmen standardisierter Interviews befragt. Die Befragung wurde vom Österreichischen Gallup-Institut durchgeführt und fand im Herbst/Winter 1996/97 statt.

Wie vergleichbare Arbeiten der kommunikationswissenschaftlichen Leseforschung (z.B. Bonfadelli/Fritz 1993, Köcher 1993, Stiftung Lesen 1993) war auch diese Studie mit - nach wie vor ungelösten - Problemen der Definition und Messung von zentralen Dimensionen des Forschungsgegenstandes konfrontiert. Es geht dabei um die grundlegende Frage, was unter dem so allgemein- und selbstverständlichen Begriff "Lesen" nun eigentlich zu verstehen ist. An der - auf den ersten Blick recht einfachen - Frage "Haben Sie in den letzten zwölf Monaten ein Buch gelesen?" (vgl. z.B. infas Sozialforschung 1997) zeigen sich die Abgrenzungsprobleme sehr anschaulich: Was ist unter "gelesen" zu verstehen? Zählen das Blättern in einem Buch, das Nachschlagen, das Anlesen einzelner Stellen auch dazu? Und was ist alles ein "Buch"? Gehören - um typische Beispiele zu nennen - das Telefonbuch, das Kochbuch oder ein Computerhandbuch hier auch dazu? Bezieht sich diese Fragestellung auf das allgemein verbreitete Verständnis von Buchlesen als "Lesen von Geschichten aller Art" (Eggert/Garbe 1995, S. 1), also auf die Lektüre von mehr oder weniger anspruchsvoller Belletristik oder Unterhaltungsliteratur, oder sind Fach- und Sachbücher ebenso zu berücksichtigen? Je nach Ausführlichkeit und Differenzierung dieser elementaren Fragestellung wird die Problematik ihrer unscharfen Formulierung meist dem Alltagsverständnis der Befragten überantwortet: Neben der Überfrachtung des Fragebogens könnte eine Aufsplittung der Frage möglicherweise auch den Effekt des Antwortens im Sinne der sozialen Erwünschtheit vergrößern, ist doch Lesen nach [S. 20] wie vor ein sozialer Indikator für Bildung und kulturelles Interesse.

Damit hängt ein weiteres Problem der Leseforschung zusammen, nämlich die "qualitative Binnendifferenzierung der Buchkultur" (Eggert/Garbe 1995, S. 20), die Festlegung unterschiedlicher Gattungen oder Kategorien von Büchern/Literatur. Relativ global, aber sehr gebräuchlich ist die Unterscheidung zwischen unterhaltender und informierender Lektüre. Aber auch hier bestehen erhebliche Spielräume, die bei der Einordnung von Forschungsergebnissen zu berücksichtigen sind.

Das von Heinz Bonfadelli (1998, S. 87) für den deutschsprachigen Raum konstatierte "Defizit an Lese(r)forschung" dürfte eine der Ursachen für den auch in der Wissenschaft ausstehenden Konsens darüber sein, wie "Lesen" nun eigentlich zu beschreiben und zu messen sei. Dies führt unter anderem zu einer häufig sehr eingeschränkten Vergleichbarkeit von Forschungsergebnissen, "weil eben praktisch jede neue Untersuchung das, was unter »Lesen« verstanden wird, wieder anders definiert" (ebd., S. 82). Anders als in der Mediaforschung fehlen für die Beobachtung des Buchlesens verbindliche Kennzahlen, was auch damit zu tun hat, daß das Buch kein Werbeträger ist.

Es bleibt zu wünschen, daß auch die Grundlagenforschung vom gerade in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Interesse am (Buch-)Lesen profitiert. So sind es die medialen Entwicklungen, die für die Leseforschung auch [S. 21] eine Reihe neuer Perspektiven und eine deutliche Ausweitung ihres Forschungsgegenstandes mit sich bringen. Die zunehmende Multimedialität des Lesens und die Einbeziehung auch des Schreibens als produktiver Tätigkeit sind dafür zwei wichtige Beispiele (vgl. z.B. Bonfadelli 1998, Böck/Langenbucher 1998).

Die Medienumwelt des Buches 1987 - 1996/97

Sowohl die Erst- als auch die Folgeerhebung sind Momentaufnahmen von bedeutenden Umbruchphasen der österreichischen Medienlandschaft, deren Dynamik an der Veränderung der Besitzdaten abzulesen ist. Mit der Vervielfältigung und Vervielfachung der Medienausstattung der Haushalte ändern sich die Ausgangsbedingungen für das Buchlesen, und in den Nutzungsgewohnheiten der ÖsterreicherInnen sind Umschichtungen zu erwarten.

Die Vollversorgung mit Radio- und Fernsehgeräten war bereits zum Zeitpunkt der Ersterhebung gegeben. Der Zugang zum erweiterten Programmangebot des Fernsehens über Kabelanschluss ist in Österreich seit 1984 möglich. 1987 hatten 15% der Befragten in ihrem Haushalt Kabelfernsehen. Seit Ende der 80er Jahre entwickelte sich mit der Satellitentechnologie der Anteil der Haushalte mit Kabel-/Satellitenfernsehen geradezu sprunghaft: 1996/97 können bereits 70% der Befragten aus einem Programmangebot von 20 und mehr Sendern auswählen, die restlichen 30% sind überwiegend auf die beiden Programme des ORF angewiesen.

Die Veränderungen betreffen aber nicht nur die Programmempfangsmöglichkeiten des Fernsehens; auch der Videorecorder zählt zunehmend zur medialen Grundausstattung. 1987 hatten 25% der Haushalte einen Videorecorder, zehn Jahre später ist dieser Anteil auf 70% gestiegen. Von 6 auf 28% hat sich der Computerbesitz im Vergleichszeitraum mehr als vervierfacht. Zugang zum Internet von zu Hause aus haben zum Zeitpunkt der Erhebung lediglich 4% der Befragten - dieser Anteil hat sich im Zuge der Gebührenreduktion mittlerweile mehr als verdreifacht. [S. 22]

Während man für die Ersterhebung davon ausgehen kann, daß sie den Status einer Bestandsaufnahme des Medienumgangs der ÖsterreicherInnen noch vor der breiteren Einführung vor allem des Kabel- und Satellitenfernsehens sowie des Computers hat, so gibt die aktuelle Studie darüber Auskunft, welcher Stellenwert den einzelnen Medien - hier speziell dem Buch - in einer "Multimedia-Gesellschaft" eingeräumt wird.

Die relativ geringe Verbreitung des Internetzugangs läßt für eine weitere Folgeuntersuchung spannende Befunde erwarten. Die aktuellen Daten haben im Hinblick auf die Netzkommunikation annähernd den Charakter einer Nullerhebung.

Der veränderte Stellenwert des Buchlesens

Beschäftigt man sich mit der Frage nach Stellenwertveränderungen der verschiedenen Medien in Verbindung mit dem medialen Wandel, so rücken die jeweiligen Medienspezifika in den Vordergrund. "Alte Medien" werden nur in jenen Bereichen von "neuen Medien" oder neuen (inhaltlichen/formalen) Angebotsformen verdrängt, wo letztere die Funktionen der älteren "besser" erfüllen. Treten neue Medien(-angebote) auf den Markt, so beginnt ein Prozeß der Neuorientierung, einer neuen Stellenwertbestimmung, bei dem die Stärken der jeweiligen Medien besondere Akzentuierung finden. Diese Entwicklung verläuft in Wechselwirkung mit der Nutzung bzw. mit den sich in Veränderung befindenden Funktionszuweisungen durch die RezipientInnen.

Dies bringt es einerseits mit sich, daß intermediale Verschiebungsprozesse sehr differenziert, bezogen auf die jeweiligen Angebote bzw. Funktionen, betrachtet werden müssen. Andererseits würde eine - noch ausstehende - Abklärung der Funktionspotentiale der unterschiedlichen Medien Prognosen über etwaige Konkurrenzbeziehungen oder Substitutionsprozesse, wie sie ja gerade beim Buchlesen sehr stark befürchtet werden, ermöglichen: "Eine klarere Vorstellung vom Problemleistungspotential von Medien, das eben medienspezifisch ist, würde auf jeden Fall auch die vor allem in der Öffentlichkeit sehr breit und wenig überzeugend thematisierte Frage der Medienkonkurrenz klären helfen" (Saxer 1995, S. 265). Mehr erfahren würde man freilich auch über die komplementären Beziehungen zwischen den Medien, denn Medien werden vor allem in ihrer funktionalen Komplementarität genutzt.

Die jeweiligen Medienspezifika sind auch zu berücksichtigen, wenn Nutzungsdaten verglichen werden. Dies gilt besonders für das Buch und die tagesaktuellen Medien. Abgesehen von den unterschiedlichen Anforderungen an die Rezeption selbst (z.B. Konzentration, Möglichkeit der Nebenbei-Nutzung oder der gemeinsamen Medienrezeption, zeitliche und räumliche Flexibilität der Medien etc.) legen Radio, Fernsehen und Tageszeitung alleine durch ihre Periodizität einen eher täglichen - medieninduzierten - Nutzungsrhythmus nahe, während das Buch stärker auf die Rezeptionsmotivation des Lesers/der Leserin angewiesen ist. Auch die Form des Zugangs zu bzw. der Beschaffung von Medien - das Buch ist im Gegensatz zu den audiovisuellen Medien ein "Hol-Medium" - spielt hier eine bedeutende Rolle. Das Lesen eines Buches setzt diesbezüglich bereits in der sogenannten präkommunikativen Phase ein vergleichsweise hohes Maß an Eigenaktivität voraus.

Stellt man die Nutzungshäufigkeit der tagesaktuellen Medien der des Buches gegenüber, so nutzen 1996/97 90 Prozent der ÖsterreicherInnen zumindest drei- bis viermal pro Woche Radio und Fernsehen und knapp 80 Prozent die Tageszeitung. Lediglich 27 Prozent lesen hingegen zumindest mehrmals pro Woche Bücher, insgesamt tun dies 42 Prozent zumindest ein- bis zweimal wöchentlich. Während so gut wie niemand angibt, ‚nie' Radio zu hören oder fernzusehen, und der Anteil jener, die ‚nie' Zeitung lesen, bei rund 9 Prozent liegt, ist der Anteil der Nicht-BuchleserInnen mit 33 [S. 23] Prozent vergleichsweise hoch. Was den Computer betrifft, so wird dieser von rund einem Viertel der Befragten zumindest wöchentlich in der Freizeit genutzt, 60 Prozent beschäftigen sich ‚nie' damit.

Bezogen auf die Reichweite liegt das Buch nach den tagesaktuellen Medien, den Zeitschriften und Tonträgern - vor Video und Computer - an fünfter Stelle.

Kann man - auf der Ebene der Häufigkeit und Reichweite - für die tagesaktuellen Medien von einer relativ homogenen Nutzung ausgehen, so ist die Buchlektüre, aber auch die Nutzung der neuen Medien weit stärker individualisiert (vgl. Bonfadelli 1996, S. 58). Interessant ist nun aber, wie sich die zentralen Daten des Medienumgangs im Langzeitvergleich verändert haben.

Übereinstimmend mit der Entwicklung der Besitzdaten haben besonders das Fernsehen und die neuen Technologien im Medienalltag der ÖsterreicherInnen deutlich an Stellenwert gewonnen. 1996/97 wird regelmäßiger und länger ferngesehen als 1987. Der Anteil der Personen, die (fast) täglich fernsehen, ist von 53 auf 74% gestiegen, der durchschnittliche tägliche Zeitaufwand für das Fernsehen - bezogen auf die Gesamtstichprobe - von 116 auf 140 Minuten. Der Hörfunk hat hingegen an Stellenwert verloren, es wird vor allem weniger gezielt Radio gehört, und die tägliche Nutzungsdauer ist von 176 auf 145 Minuten gesunken. Die Tageszeitung kann ihren Stellenwert behaupten, die durchschnittliche Lesedauer ist sogar um 5 Minuten auf 32 Minuten gestiegen.2 Für die neuen Medien Computer und Internet wenden die NutzerInnen relativ viel Zeit auf: Die Computernutzungsdauer - rund ein Viertel der Befragten hat sich am letzten Arbeitstag und/oder am Wochenende vor der Befragung in ihrer Freizeit mit dem Computer beschäftigt3 - liegt bei den NutzerInnen bei 95 Minuten täglich, das Internet (Reichweite: 3%) wird von den NutzerInnen durchschnittlich 48 Minuten genutzt.

Für das Buch ist - bezogen auf die Reichweite - ein deutlicher Stellenwertverlust festzustellen. Haben 1987 noch 52 Prozent der Befragten angegeben, daß sie am letzten Arbeitstag und/oder Wochenende in einem Buch gelesen haben, so trifft dies 1996/97 nur mehr auf 43 Prozent zu. Auch die durchschnittliche [S. 24] tägliche Buchlesedauer ist - bezogen auf alle Befragten - deutlich gesunken, und zwar von 40 auf 34 Minuten. Dieser Rückgang dürfte aber überwiegend auf den Reichweitenverlust zurückzuführen sein.4

Betrachtet man aber die Entwicklung der Buchlesehäufigkeit - und dabei können wir uns auf einen längeren Vergleichszeitraum beziehen -, so zeigt sich, daß seit Anfang der 70er Jahre die Buchlesehäufigkeit deutlich zugenommen hat und der Anteil der Personen, die ‚nie' lesen, gleichzeitig signifikant gesunken ist. Seit den 80er Jahren sind die Daten zur Buchlesehäufigkeit in Österreich relativ stabil.

Tabelle 1: Entwicklung der Buchlesehäufigkeit der österreichischen Bevölkerung ab 14 Jahren - 1972 bis 1996/97 (Angaben in Prozent)

Buchlesehäufigkeit

Erhebungsjahr (fast) täglich 3-4 x pro Woche 1-2 x pro Woche zumind. 1-2 x pro Woche ein- bis zweimal pro Monat seltener im letzten Jahr nicht/nie
1972* 8 13 8 29 8 15 43
1980* 12 19 13 44 10 8 38
1989* 13 13 9 35 15 48
1996/97 15 12 16 42 12 13 33

Quellen: * IFES 1989

In einer Langzeitbetrachtung der Daten für Deutschland seit Ende der 50er Jahre stellt Erich Schön (1998, S. 41) fest, "daß die zentralen Daten sehr stabil sind", daß diese Stabilität aber Polarisierungsprozesse verdecke und zwar dahingehend, daß regelmässige LeserInnen eher mehr lesen, während "der befürchtete »Verlust der Lesekultur« am anderen Ende des Verhaltens-Spektrums tatsächlich festzustellen" (ebd., S. 49) ist. Eine vergleichbare Interpretation liegt auch für die - auf den ersten Blick - widersprüchlich erscheinende Entwicklung der Buchreichweite und -lesehäufigkeit in Österreich nahe.

Bei einer differenzierten Analyse der Reichweitenveränderung zeigt sich allerdings, daß diese besonders in jenen Gruppen überproportional gesunken ist, die zwar nach wie vor am häufigsten und am längsten Bücher lesen, gleichzeitig aber auch die neuen Medien überdurchschnittlich nutzen: nämlich bei den Jugendlichen und den höher Gebildeten.5 Die Feststellung "Wer viel liest, liest immer mehr; wer wenig liest, liest immer weniger" (ebd.) wäre auf Basis unserer Ergebnisse damit dahingehend zu relativieren, daß Personen, die viel lesen, dies auch nach wie vor tun, aber offensichtlich mit einer etwas geringeren Häufigkeit.

Diese Entwicklung deutet auf Effekte der wachsenden intermedialen Konkurrenz hin. Es ist höchst plausibel, daß Personen, die kompetenter mit Medien umgehen, Vorteile und Möglichkeiten, die neue Angebote eröffnen, schneller erkennen und für ihre Interessen und Bedürfnisse einsetzen - und habituellen Leserinnen und Lesern wird ja allgemein eine höhere Medienkompetenz zugeschrieben als Wenig- oder Nicht-LeserInnen. Die schnellere Integration der neuen Technologien in den Medien- und Kommunikationsalltag wirkt sich aber offensichtlich gerade bei jenen Gruppen besonders auf den Zeitaufwand für das Buch aus, die überdurchschnittlich viel lesen, da sich - auch bei einer steigenden Nebenbei-Nutzung - das Medienzeitbudget stärker ausdifferenziert und auf mehr Medien verteilt (vgl. z.B. Groebel 1998, S. 40).

Funktionen des Buches, die durch die neuen Medien oder durch zusätzliche Medienangebote ähnlich oder besser erfüllt werden können, werden langfristig von diesen übernommen werden. Man denke etwa an multimedial aufbereitete Enzyklopädien auf CD-ROM oder die Möglichkeiten effektiveren Lernens durch die Integration multimedialer Darstellungs- und Vermittlungsformen (vgl. Hurrelmann 1998, S. 193). Ebenso können aber auch Bereiche des unterhaltungsorientierten Lesens z.B. durch das Fernsehen ersetzt werden, und zwar "in gewissem Umfang bei solcher Literatur, die sich in den Funktionen von Escapismus, Relax, erotischer Anregung, mood control etc. erschöpft (»Trivialliteratur«)" (Schön 1998, S. 68). Ein solcher Substitutionsprozess zeichnet sich beispielsweise beim deutlichen Rückgang der Lektüre von Heftchenromanen im Vergleich zu 1987 ab. 1987 haben 25 Prozent der Befragten angegeben, daß sie Heftchenromane lesen, zehn Jahre später nur mehr 16 Prozent. Schön (vgl. 1998, S. 77) spricht in diesem Zusammenhang von einer polarisierenden Entwicklung von operationalem und literarischem Lesen (ebd., S. 77)

Die zunehmende Nutzung des Buches als Informations- und Weiterbildungsmedium wird bestätigt. Die durchschnittliche tägliche Nut-[S. 25]zung des Buches zum Zweck der Weiterbildung liegt mit 23% z.B. aber noch 10 Prozentpunkte unter der Reichweite des Unterhaltungslesens. Personen, die zwecks Weiterbildung lesen, wenden allerdings mehr Zeit für ihre Lektüre auf als Personen, die Bücher zur Unterhaltung lesen (67 vs. 56 Minuten) (vgl. dazu auch Schön 1998, S. 61). Neben der besonderen Funktion des Buches in der Zur-Verfügung-Stellung und Vermittlung von zusammenhängenden Wissensbeständen und der Bedeutung der Kulturtechnik Lesen für die Akkumulation von Wissen zeigen sich in dieser Entwicklung auch Konsequenzen des allgemeinen gesellschaftlichen Wandels. Die Anforderungen des lifelong learning machen selbständige Weiterbildung zu einer Notwendigkeit, und das insgesamt gestiegene Bildungsniveau bringt ein größeres Interesse an Aus- und Weiterbildung mit sich.

Wer liest Bücher? Konturen des Buchlesens

Um einzelne Indikatoren zu verdichten und ein Bild des Buchlesens zu erhalten, das über die Betrachtung z.B. der Lesehäufigkeit hinausgeht, wurde auf Basis der Lesehäufigkeit und -dauer, der Anzahl der jährlich gelesenen Bücher sowie der Freude am Buchlesen eine "Typologie der Buchleseintensität"6 entwickelt.

Viel-LeserInnen (24 Prozent der Befragten) lesen gerne Bücher und tun dies zumindest drei- bis viermal pro Woche. Ihre durchschnittliche tägliche Lesedauer liegt bei knapp 100 Minuten. Die Anzahl der jährlich gelesenen Bücher liegt dementsprechend hoch. Durchschnittliche LeserInnen (25 Prozent lesen überwiegend gerne, aber eher in einem wöchentlichen Rhythmus. Bei den Wenig-LeserInnen (19 Prozent) ist der Großteil jener Personen anzutreffen, die dezidiert nicht gerne bzw. eher weniger gerne lesen. Rund zwei Drittel dieser Gruppe lesen seltener als ein- bis zweimal pro Monat in einem Buch. Der Anteil der Nicht-LeserInnen, die angeben, nicht einmal gelegentlich Bücher zu lesen, entspricht mit 33 Prozent dem in einem internationalen Vergleichsgutachten der Stiftung Lesen ermittelten Durchschnittswert (vgl. Stiftung Lesen 1995, S. 19f. sowie auch infas Sozialforschung 1997).

Die bekannten Zusammenhänge zwischen Buchlesen und Geschlecht sowie Alter und Bildung werden bestätigt. Am größten sind dabei die geschlechts- und bildungsspezifischen Differenzen. Mit knapp zwei Drittel stellen die Frauen in der Gruppe der Viel-LeserInnen einen weit überdurchschnittlichen Anteil. Frauen lesen Bücher häufiger zur Unterhaltung, bei den Män-[S. 26]nern steht die Weiterbildungsfunktion des Lesens im Vordergrund. Diese Differenzen verringern sich allerdings mit steigender Bildung, und sowohl von Männern als auch von Frauen mit mindestens Matura wird die Multifunktionalität des Buches stärker genutzt.

Die instrumentellere Leseweise der Männer (vgl. Schön 1998, S. 53), die mit ihrer überwiegenden Weiterbildungslektüre übereinstimmt, entspricht den zum Teil sehr großen Abweichungen ihrer Angaben zu den Lesegewohnheiten im Vergleich mit denen der Frauen (die Daten beziehen sich dabei auf Personen, die zumindest gelegentlich Bücher lesen): Nur 47 Prozent der Männer, aber 70 Prozent der Frauen geben an, daß sie Bücher lesen, ohne etwas auszulassen. 29% der Männer blättern manchmal nur oder lesen Stellen an, bei den Frauen trifft das auf 20% zu. Frauen wiederum lesen signifikant häufiger als Männer in einem Buch, sobald sie (auch nur kurz) Zeit dazu haben (36 vs. 22 Prozent).

Die bildungsspezifischen Unterschiede werden besonders deutlich, wenn man die Verteilung der Leseintensität der höheren und niedrigeren Bildungsgruppen einander gegenüberstellt: Bei den Befragten mit mindestens Matura liegt der Anteil der Viel-LeserInnen mit 48 Prozent mehr als dreimal so hoch wie bei den PflichtschulabsolventInnen (15 Prozent). Umgekehrt lesen 47 Prozent der niedriger Gebildeten, aber nur 11 Prozent der höher Gebildeten nicht einmal gelegentlich Bücher. Perso-[S. 27]nen mit Fach- bzw. Berufsausbildung weichen in ihrer Leseintensität zwar nur wenig vom Durchschnitt ab, eine Trennlinie verläuft am ehesten zwischen jenen mit bzw. ohne Reifeprüfung. Die Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen sind beim Qualifizierungslesen größer als beim Unterhaltungslesen: Jeweils 18 Prozent der Befragten mit niedrigerer und mittlerer Bildung, aber 48 Prozent der höherer Gebildeten haben am letzten Arbeitstag und/oder Wochenende zur Weiterbildung gelesen. Die Reichweite der Unterhaltungslektüre liegt bei den PflichtschulabsolventInnen bei 26 Prozent, bei den Personen mit Fach- bzw. Berufsausbildung bei 32 Prozent und bei den Befragten mit mindestens Matura bei 49 Prozent.

Die Länge und die Anforderungen einer höheren Schulbildung tragen offensichtlich dazu bei, daß vor allem auch die Funktion des Buches als Wissensträger kennengelernt und eingesetzt wird. Zusammenhänge zwischen Bildung und Berufsstatus sowie den sehr unterschiedlichen Anspruchsniveaus schriftlicher Aufgabenstellungen im Berufsleben sind hier aber ebenso zu berücksichtigen. Während höher Gebildete durch ihr berufliches Lesen und Schreiben ihren "Kompetenzvorsprung" ausbauen, fällt für Personen, die ihre Ausbildung mit der Pflichtschule abgeschlossen haben und auch an ihrem Arbeitsplatz nur wenig mit (anspruchsvolleren) schriftlichen Aufgaben konfrontiert sind, diese Form der Stützung ihrer Fähigkeiten oft weg.

In der Analyse der Daten zeigt sich, daß - unabhängig von der Bildung - eine Korrelation zwischen der Häufigkeit von (anspruchsvollen) beruflichen Lese- und Schreibaufgaben und der Buchleseintensität in der Freizeit besteht. Dieser Befund stimmt mit den Ergebnissen des "International Adult Literacy Surveys" der OECD überein, daß die Entwicklung der Lesekompetenz nicht mit dem Ende der Schullaufbahn abgeschlossen ist. Sie wird durch berufliche und ausserberufliche Anforderungen weiterentwickelt (vgl. Jones 1995, S. 82f.).

Tabelle 2: Soziodemographische Strukturen der Buchlesetypen (Angaben in Prozent)

Buchlesetypen

Soziodemographische Faktoren gesamt Nicht-Leser-Innen Wenig-Leser-Innen Leser-Innen Viel-Leser-Innen
Geschlecht            
Männer 48 54 55 45 37
Frauen 52 46 46 56 64
Alter            
14 bis 19 Jahre 9 6 7 13 9
20 bis 29 Jahre 22 21 21 23 24
30 bis 44 Jahre 25 26 25 24 25
45 bis 59 Jahre 25 22 30 27 25
60 Jahre und älter 19 26 18 13 18
Bildung            
Pflichtschule 26 37 24 23 16
Berufs-/Fachausbildung 55 56 63 55 46
Matura/Studium 19 6 13 22 38

Basis (100 Prozent) N = 2000

Nach wie vor lesen die Jugendlichen am regelmäßigsten Bücher, was aber in erster Linie ein Effekt der schulisch bzw. ausbildungsbedingten Pflichtlektüre ist. Dies zeigt sich z.B. in einem Auseinandertreten von Buchlesehäufigkeit und der Freude am Lesen. Der Anteil jener, die weniger oder ausdrücklich nicht gerne lesen, ist bei den 14- bis 19jährigen am höchsten. Ein weiterer Indikator für die extrinsisch motivierte Buchlektüre der Jugendlichen ist, daß sie vor allem in der Gruppe der durchschnittlichen LeserInnen überrepräsentiert sind und nicht bei den Viel-LeserInnen. Mit dem Ende der Ausbildung - und dem Wegfall dieser Lesemotivation - gleicht sich die Leseintensität dem Durchschnitt an, der bekannte "Leseknick" nach der Schule wird bestätigt.

Wie sich nun das Verhältnis der mit einer umfassenden Medienvielfalt aufwachsenden Kohorten zum Medium Buch in weiterer Zukunft entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Bemerkenswert ist aber, daß in allen Altersgruppen der Anteil der Viel-LeserInnen nicht signifikant vom Durchschnitt abweicht, also auch in der Gruppe der 14- bis 19jährigen jede/r Vierte Freude am Lesen hat und viel Zeit dafür aufwendet. Dies trifft aber ebenso auf die 60jährigen und Älteren zu, während gleichzeitig der Anteil der Nicht-LeserInnen in dieser Altersgruppe am höchsten ist. Letzteres dürfte vor allem auf gesundheitliche Einschränkungen sowie auf Effekte des niedrigeren Bildungsniveaus zurückgehen. Auch die eher weniger lesefreundlichen Bedingungen des Aufwachsens in der Kriegs- und Nachkriegszeit spielen für die größere Buchferne der SeniorInnen eine Rolle.

Der gleichbleibende Anteil der Viel-LeserInnen im Generationenvergleich trotz des enorm gestiegenen Bildungsniveaus ist aber gerade wegen der Korrelation zwischen Bildung und Buchlesen erstaunlich. Es ist wohl eine Frage des Standpunktes, ob dies nun als eine "enttäuschende Stagnation" oder als eine - vor dem Hintergrund des medialen Wandels [S. 28] - "beruhigende Konstanz" zu interpretieren ist. Was dieses Ergebnis mit Sicherheit aufzeigt, ist, daß einerseits eine stabile Beziehung zum Buchlesen durch sehr viel mehr Faktoren beeinflußt wird als durch die Bildung und deshalb die Hoffnung, daß mit der steigenden Bildung das Buchlesen einen Boom erleben würde, nur enttäuscht werden konnte (vgl. Muth 1993, S. 8f.). Andererseits stellt sich die Frage, inwieweit es - auch angesichts des bereits erwähnten "Leseknicks" nach dem Verlassen der Schule - "überhaupt sinnvoll ist, Lesen als ein lebenslanges Interesse und dessen Zurückstufung oder Aufgabe als ein erklärungsbedürftiges Phänomen zu betrachten" (Köcher 1993, S. 229).

Übereinstimmend mit vorliegenden Befunden nutzen überdurchschnittliche LeserInnen nicht nur die neuen Technologien häufiger als Wenig- oder Nicht-LeserInnen. Auch was "traditionelle" Angebote, wie Zeitungen, Zeitschriften oder Tonträger, betrifft, ist ihr Medienumgang vielfältiger. Qualitative Nutzungsunterschiede werden in unserer Studie ebenfalls bestätigt (vgl. Schön 1998, S. 64ff.). So relativiert sich das auf quantitativer Ebene sehr ähnliche Fernsehen der Lesetypen, wenn man die inhaltlichen Orientierungen berücksichtigt. Viel-LeserInnen sehen "anders" fern, nämlich mit einer deutlichen Präferenz für informative Inhalte, was auf eine gezieltere Programmauswahl schließen läßt (vgl. Stiftung Lesen 1993, S. 27). Auch im Radio und in der Tageszeitung rezipieren sie informationsorientierte Angebote häufiger als Wenig- oder Nicht-LeserInnen. Sie ziehen anspruchsvolle Zeitungen den Boulevardblättern vor, und besonders die Politikberichterstattung in der Zeitung hat in ihrem Informationsverhalten einen überdurchschnittlichen Stellenwert. Diese Zusammenhänge bestehen unabhängig von der Bildung bzw. sind sie bei Viel-LeserInnen mit niedrigerer und mittlerer Bildung zum Teil noch stärker ausgeprägt als in der Gruppe der höher Gebildeten. Für Nicht-LeserInnen sind vor allem die Unterhaltungsangebote des Fernsehens von überproportionaler Bedeutung, Viel-LeserInnen nutzen diese hingegen deutlich seltener.

Die Mediennutzung der Nicht-LeserInnen zeigt Ähnlichkeiten mit dem Nutzungsprofil des in der deutschen Studie Massenkommunikation als "Informationsvermeider" bezeichneten Typus, der den (politischen) Informationsangeboten der Medien aus dem Weg geht, überdurchschnittlich auf die Zeitung verzichtet und die Medien vor allem unterhaltungsorientiert nutzt (vgl. Kiefer 1996a, S. 189ff.). Marie-Luise Kiefer (ebd.) weist hier auf Zusammenhänge mit der Veränderung des Medienangebots hin, daß "Unterhaltungsorientierung 1995 jederzeit mit einem entsprechenden Unterhaltungsangebot interagieren kann, Unterhaltungspräferenz und Programmangebotsschwerpunkt sich zirkulär verstärken" (S. 280). Wachsende Polarisierungen zwischen Informierten und Nicht-Informierten sind erwartbare Folgen dieser Entwicklungen.

Die "the more/the more-Regel", daß Viel-LeserInnen auch andere Medien und - vor allem deren Funktionsvielfalt - häufiger nutzen (vgl. Saxer 1975), hat nach wie vor Gültigkeit. Eine kausale Interpretation, daß diese Zusammenhänge auf das Buchlesen zurückzuführen wären, ist allerdings nicht zulässig. Persönlichkeits- und soziodemographische Merkmale, individuelle Lebensbedingungen, Sozialisationserfahrungen etc. sind hier wichtige Einflußfaktoren, aber ebenso die bereits erwähnten sich wechselseitig verstärkenden Privilegierungszusammenhänge (vgl. Bonfadelli 1994, S. 105f.), bei denen das Lesen als Kulturtechnik und Mittel der Wissensaneignung eine Rolle spielt. Die Brisanz dieser komplexen Korrelationen wird vor allem bei einer langfristigen Betrachtung deutlich, "insofern mit steigendem formalen Bildungsniveau und/oder höherem Sozialstatus quantitativ der Nutzungsumfang, medial die Wahl der informationsreichen Printmedien und bezüglich der Rezeptionsmodalität die Aufmerksamkeit und Informationsorientierung zunehmen" (ebd., S. 106). [S. 29]

Schlußbemerkung: Zur Zukunft des Lesens

Eine Prognose über die Zukunft des Lesens und des Buches erfordert zum einen einen sehr differenzierten Blick. So ist zu hinterfragen, ob es grundsätzlich ein Verlust ist, wenn Trivialliteratur durch Fernsehunterhaltung ersetzt wird. Andererseits kommt man nicht umhin, das Buch in den Kontext anderer Medien zu stellen und das Lesen im Zusammenhang mit anderen Rezeptionsformen zu betrachten. Erst in der Analyse der medienspezifischen Besonderheiten des Buches und seiner Lektüre werden ihre sich in ständigem Wandel befindlichen Funktionspotentiale erkennbar, in denen auch ihre künftige Bedeutung liegt.

Eines dieser Medienspezifika ist sicherlich die immense Auswahl an Lesestoffen, die sowohl im belletristischen als auch im informativ-qualifizierenden Bereich ein größtmögliches Ausmaß an Individualität und Differenzierung erlaubt. Lesen zu können bedeutet ja auch, daß Möglichkeiten offenstehen, den Kommunikationsalltag zu gestalten. Gerade in einer Gesellschaft, in der immergleiche Fernsehangebote die Abendunterhaltung bestimmen oder immergleiche Themen die Titelblätter von Zeitschriften zieren, gewinnen Aspekte eines individualisierten Medienumgangs an Relevanz.

Dazu kommt die hohe Flexibilität der Nutzung von Büchern und anderen Lesemedien, sowohl was Ort und Zeit der Lektüre als auch den Rezeptionsprozeß selbst betrifft: die Unabhängigkeit von vorgegebenen Sendezeiten und Rezeptionsgeschwindigkeiten, das Verweilen bei Textstellen und das unproblematische Noch-einmal-Lesen, das Vorblättern und Überfliegen, die Lektüre der letzten Seite als Einstieg in einen Roman oder Entscheidungshilfe, ob man sich damit näher auseinandersetzt, und anderes mehr.

Als Medium der Wissensvermittlung wird das Buch auch in Zukunft einen herausragenden Stellenwert haben, weil z.B. die neuen Technologien mit ihren besonderen Nutzungsbedingungen die Aneignung von komplexem, zusammenhängendem Wissen nicht gerade vereinfachen: Die Gefahr des Orientierungsverlusts, die Nicht-Überblickbarkeit des Umfangs und Inhalts im Vergleich mit gedruckten Texten, die Anforderung an die NutzerInnen, Kohärenz zwischen den (mehr oder weniger dekontextualisierten) Informationen interaktiver Texte herzustellen, sind Beispiele für mögliche Schwierigkeiten bei der Rezeption interaktiv aufbereiteter Informationen (vgl. z.B. Jäckel 1998). Eine "Verschiebung der Aufmerksamkeitsstruktur" (Wingert 1996, S. 201f.) weg vom Inhalt hin zum Navigieren ist ein weiteres Problem: "Nicht mehr das ruhige Zusammenlesen aus einer räumlichen Anordnung, sondern der »Sprung« ist das zentrale Element" (ebd.).

Die einfache Handhabung und die vielfältigen Möglichkeiten des Arbeitens mit dem gedruckten Text (vgl. Jäckel 1998, S. 15) sind vor allem für das operationale Lesen wichtige Eigenschaften des Buches, die dessen Stellenwert im intermedialen Vergleich mitbestimmen. Für das belletristische Lesen ist vielleicht ein "auratisches Verhältnis zum Gegenstand Buch" (Schön 1998, S. 76) ein vergleichbares Charakteristikum. Dazu gehört sicher auch das haptische Vergnügen, in einem Buch zu blättern oder die unterschiedlichen Papierqualitäten und Einbände mit der Hand zu fühlen, und auch die Bilder oder Fotos und die Möglichkeiten der grafischen Gestaltung tragen zu ihrer spezifischen Ästhetik bei.

Nur wenig weiß man bisher über den eigentlichen Rezeptionsprozeß selbst. Offensichtlich ist, daß der hohe Eigenanteil der Leserin bzw. des Lesers an der "Realisierung" des Textes das Lesen zu einer besonders individuellen Art der Kommunikation macht, in der der Leser/die Leserin sehr viel von sich selbst einbringt - und sich damit auch mehr oder weniger bewußt mit sich selbst auseinandersetzt. Damit verbunden sind es die vermutlich stärkeren Identifikationsanreize als bei der Rezeption audiovisueller Geschichten, die einen beson-[S. 30]deren Reiz der belletristischen Lektüre ausmachen.

Die "Leselust" (vgl. den Sammelband von Bellebaum/Muth 1996) und die individuellen Erfahrungen beim literarischen Lesen rücken erst allmählich in den Blickpunkt der Leseforschung. Aber man weiß immerhin, daß eine intrinsische Lesemotivation, die Freude am zweckfreien Lesen, eine der Voraussetzungen für ein dauerhaftes Verhältnis zum Buch sind. Das macht es nun auch so wichtig - will man das Buchlesen fördern -, Kindern möglichst frühzeitig die Faszination des Erschließens gedruckter Geschichten zu vermitteln. Das beginnt mit dem ersten Bilderbuch, geht über das Vorlesen zu Hause und im Kindergarten und dem lustbetonten Lesen in der Volksschule bis hin zu einer stärker von den Jugendlichen mitbestimmten Auswahl der Schullektüre.

Eine weitere Chance für das Buchlesen ist in dem Wandel des Anspruchs an das belletristische Lesen zu sehen, den Erich Schön (1998, S. 69f.) beschreibt. Daß das von einem durch soziales Prestige und bildungsbürgerliche Vorstellungen geprägte Verhältnis zum Lesen sich hin zu einer von instrumentell-individuellen Bedürfnissen, wie Entspannung, mood control, Anregung oder escape-Wünschen, geleiteten Aktivität verändert, sollte zu einem "ehrlicheren", auch stabileren Verhältnis zum Lesen führen.

Wenn es um die Zukunft der Kulturtechnik Lesen oder des Buches geht, ist auch die Leseinfrastruktur zu thematisieren, die Zugänglichkeit von gut sortierten Buchhandlungen und umfassend ausgestatteten Bibliotheken. Vor allem letzteren kommt als Institution, die in einer Informationsgesellschaft demokratischen Zugang zu Information bieten soll, wachsende Bedeutung zu. Bibliotheken haben aber auch als Instanz der Lesesozialisation neben dem Elternhaus, der Schule und der peer group eine wichtige Funktion, indem sie - bei entsprechender Ausstattung und Offenheit - Kinder an die Vielfalt des Buch- und Leseangebots heranführen. So wie die Multifunktionalität des Buches müssen allerdings auch die weiteren Spezifika des Umgangs mit dem Buch sowie der Kulturtechnik Lesen insgesamt kennen- und einzusetzen gelernt werden - und die Vermittlung von Freude am Lesen sollte dabei im Mittelpunkt stehen, weil sich "diese Kulturtechnik leichter über Leselust als über Lesedrill erlernen läßt" (Langenbucher 1998, S. 13).

Auch wenn in vielen Bereichen das Buch oder andere herkömmliche, an das Papier als Trägermedium gebundene Lesemedien durch den Bildschirm abgelöst werden sollten, wird die Kulturtechnik Lesen selbst ein zentraler Modus der Informationsaneignung bleiben. Es ist diese wachsende Multimedialität des Lesens, die auf einen wichtigen Aspekt hinweist: Eine hohe Lesekompetenz alleine anzustreben, reicht in unserer zunehmend von audiovisuellen und interaktiven Medien dominierten Gesellschaft nicht aus (vgl. z.B. Kress 1999, Mikos 1999). Medienkompetenz bzw. - umfassender - Kommunikationskompetenz zu vermitteln, ist eine bedeutende Aufgabe der Bildungs- und Kommunikationspolitik in einer Informationsgesellschaft, die Desintegrations- und Spaltungstendenzen verhindern möchte. [S. 31]

Anmerkungen:

1 Die Studie Leseförderung als Kommunikationspolitik wurde von den Bundesministerien für Wissenschaft und Verkehr sowie für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten, dem Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank (Projektnr. 5897) sowie dem Amt der Tiroler Landesregierung finanziert.

2 Diese Entwicklung dürfte vor allem auf die Zeitungsneugründungen der letzten zehn Jahre zurückgehen. 1988 bildete sich mit der Gründung des Standard und den darauffolgenden Reaktionen der bestehenden Zeitungen auf dem österreichischen Zeitungsmarkt ein Segment der Qualitätszeitungen. 1993 fand mit Täglich Alles auch noch das andere Ende des Anspruchsniveaus eine Ergänzung. Für Deutschland stellte hingegen die Langzeitstudie Massenkommunikation einen deutlichen Bedeutungsverlust der Zeitungslektüre fest (vgl. Kiefer 1996a).

3 Das Spielen von Computerspielen ist in diesen Werten nicht enthalten.

4 Aufgrund der Datenlage ist ein Langzeitvergleich der tatsächlichen Lesedauer nicht möglich.

5 Dieser Bedeutungsverlust des Buchlesens bei den Jüngeren und höher Gebildeten zeigt sich auch in der Langzeitstudie Massenkommunikation (vgl. Kiefer 1996b, S. 594 f.).

6 Die Typen wurden über das strukturentdeckende Verfahren der Clusteranalyse ermittelt, dessen Ziel es ist, sich möglichst stark voneinander unterscheidende Gruppen zu bilden, die in sich aber möglichst homogen sind. Die Entscheidung für die Lösung wurde aufgrund der inhaltlichen Homogenität und Interpretierbarkeit der Cluster getroffen. Bei der Überprüfung der Stabilität der Clusterlösung mit Hilfe einer Diskriminanzanalyse wurden 99% der Fälle auf Basis der eingegangenen Variablen korrekt zugeordnet. Jene Befragten, die angegeben haben, nicht einmal gelegentlich Bücher zu lesen, wurden als Nicht-LeserInnen aus der Typenbildung ausgeklammert.

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(Orthographie des Originaltextes wurde übernommen; kursiv gesetzte Worte sind im Originaltext hervorgehoben)

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