Author/Authoress: | Filla, Wilhelm |
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Title: | Die Anfänge der Urania Tradition |
Year: | 1997 |
Source: | Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 8. Jg., 1997, H. 1/2, S. 66-74. |
Anfänge der Urania Tradition
Wien ist anders, und die Urania in Wien ebenfalls. Die von Berlin ausgehende internationale Urania-Bewegung mündete nur in Wien in die Volkshochschulbewegung ein, als sich die Wiener Urania spätestens 1919 selbst als Volkshochschule sah, wenngleich mit – bis heute – spezifischem Profil.
Während die anderen Volkshochschulen in Wien als Vereine gegründet wurden, trat die Urania als gemeinnütziges Syndikat in die Wiener "Bildungslandschaft" ein. Sie wurde bald in einen Verein umgewandelt. Ihr Profil unterschied sich jedoch von Anfang an deutlich von dem der anderen bedeutenden bürgerlich-liberalen Volksbildungseinrichtungen der Stadt: vom 1887 ge-gründeten Volksbildungsverein, von den 1895 geschaffenen Volkstümlichen Universitätsvorträgen, vom 1900 geschaffenen "Frauenbildungsverein Athenäum" und vom 1901 gegründeten Volksheim.
Gemeinsam mit den beiden anderen Wiener Stammvolkshochschulen, dem Volksbildungsverein und dem Volksheim, hatte die Urania jedoch schon in der vor ihrem Zusammenbruch stehenden Monarchie ein eigenes Haus – am früheren Aspern- und heutigen Julius-Raab-Platz. Anders als die beiden anderen Volkshochschulhäuser in der Stöbergasse und am Koflerpark, heute Ludo-Hartmann-Platz, zählte das nach Plänen des slowenischen Architekten Max Fabiani,1 einem Otto Wagner Schüler, gebaute Urania Gebäude bald zu den Wahrzeichen der an diesen ohnehin nicht armen Stadt.
Von den beiden anderen Stammvolkshochschulen unterscheidet sich die Urania nicht nur durch ihre bisherige Entwicklung, sondern schon durch ihre spezifische Gründungsgeschichte und eine gänzlich anders geartete Tradition, in der diese Gründung eingebettet war.2 Dies ist das Thema der folgenden Ausführungen aus Anlaß des 1997 feierlich und mit Festen begangenen 100-Jahr-Jubiläums der Urania.
Traditionslinien
Entwicklungsgeschichtlich stand die Urania in einer Tradition, die durch die Gründung der Berliner Urania, deren eigenes Haus am 2. Juli 1889 in Betrieb genommen wurde, grundgelegt worden ist. Die als gemeinnütziges Syndikat am 16. April 1897 gegründete Urania in Wien war nach der Berliner und der 1894 in Magdeburg geschaffenen Urania das dritte Institut einer bald internationalen Urania-Bewegung, die bis nach London, Petersburg und in die USA ausstrahlte und als solche nicht einmal in Ansätzen erforscht ist.
Die Urania-Bewegung hat geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Wurzeln, die in die Zeit der Aufklärung und der sich rasch [S. 66] entwickelnden Naturwissenschaften zurückreichen. Daneben läßt sich die Gründung der Berliner Urania personell auf Aktivitäten des bedeutenden Naturforschers Alexander von Humboldt zurückführen, dessen Name noch heute einen guten und bekannten Klang besitzt.3
In seiner Person bündelten sich gleichsam Aufklärung und naturwissenschaftliche Welterkenntnis, während sein Bruder Wilhelm unabhängig davon, eine für die Verhältnisse seiner Zeit emanzipatorische Bildungstheorie formulierte, die erst später mit Entwicklungen im Bürgertum verkam und an die heute in Neuinterpretationen anzuknüpfen versucht wird.4
Alexander von Humboldt vertrat in bester aufklärerischer Manier die Auffassung, naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden den Menschen helfen, sich selbst besser zu verstehen, damit sie rational zu handeln in der Lage sind. Gesellschaftliche Schranken dafür hat er – ebenso wie die Exponenten der Urania sechs und mehr Dezennien später – nicht zum Gegenstand seiner Überlegungen gemacht.
Um den Menschen dienlich zu sein, mußten naturwissenschaftliche Erkenntnisse möglichst weit verbreitet werden. Daher gerieten Alexander v. Humboldts berühmte 16 Vorträge in der Berliner Singakademie 1827/28 zur Aufforderung für eine allgemeine wissenschaftliche Volksbildung. Für damalige Verhältnisse und bildungsgeschichtlich gesehen, stellten sie einen enormen Innovationsschub dar, der in seiner bildungspolitischen Tragweite gar nicht überschätzt werden kann.
Humboldts öffentliche Vorträge in der Singakademie sind unter volkshochschulhistorischen (und im engeren Sinn unter urania-geschichtlichen) Gesichtspunkten aus drei Gründen von besonderem Interesse:
1. institutionell, weil sie in einem engen Kontext zur Universität stehen,
2. methodisch, weil mit ihnen zentrale didaktische Forderungen der späteren Volkshochschulen in praktische Bildungstätigkeit umgesetzt werden konnten,
3. inhaltlich, weil sie auf hohem Nieveau standen und keine simplifizierende Wissenschaftsvermittlung darstellen.
Daß sie den letzten Stand der Wissenschaften repräsentieren verbindet sie gleichfalls mit späteren volksbildnerischen Entwicklungen. Damit waren sie eine implizite Kritik an späteren kommerziell motivierten Popularisierungsbestrebungen, wie sie nicht zuletzt an Uranias gepflogen wurden.
Humboldt hielt zwischen dem 6. Dezember 1827 und dem 27. März 1928 im mehr als 800 Plätze zählenden großen Saal der Singakademie 16 allgemein zugängliche Vorlesungen über "Physikalische Geographie", die er später selbst "Kosmos-Vorlesungen" oder "Kosmos-Vorträge" nannte.
Im Vorwort zu der von ihnen edierten Neuauflage der Erstveröffentlichung dieser legendär gewordenen Vorlesungen sprechen die beiden Wissenschaftshistoriker Jürgen Hamel und [S. 67] Klaus-Harro Tiemann von "Sternstunden in der Geschichte der Wissenschaftspopularisierung". Mit ihnen begründete Humboldt "Das Genre des volkstümlichen wissenschaftlichen Vortragswesens".5 Für die Zugkraft und die unerwartet hohe Publikumsresonanz der "Vorlesungen" waren neben dem materiellen Aspekt des unentgeltlichen Zugangs noch weitere sieben Faktoren ausschlaggebend:
*) das hohe wissenschaftliche und öffentliche Renommee des Vortragenden;
*) das hohe und einflußreiche Amt Humboldts, der sich damals im Range eines Kammerherrn des preußischen Königs befand;
*) ein gewisses lokalpatriotisches Moment, zumal Humboldt in Berlin geboren wurde;
*) die Welterfahrung und Weitgereistheit des Vortragenden;
*) die methodische Form aufeinander abgestimmter und in einem Vortragszyklus zusammengefaßter Vorträge;
*) die didaktische Fähigkeit, frei, klar, allgemeinverständlich, fesselnd und zum Teil auf der Basis eigener Erlebnisse sprechen zu können und letztlich
*) die Fähigkeit, sowohl den Intellekt als auch das Gemüt der Zuhörenden anzusprechen. Hier handelte es sich um Attraktivitäts-Kriterien, denen Jahrzehnte später viele Vortragende der Berliner Urania zumindest teilweise entsprechen konnten, worin ihr rascher Publikumserfolg mitbegründet war.
Einige dieser Kriterien spielten später auch in Wien auf Urania- und Volkshochschulboden gleichfalls eine große Rolle. Anders ausgedrückt bedeutete dies: Kriterien für den Erfolg wissenschaftlicher Bildungstätigkeit wurden schon in ihren ersten Anfängen realisiert.
Ein weiteres Phänomen, das sich bei den "Kosmos-Vorlesungen" beobachten ließ, stand später bei der Entstehung der modernen Volksbildung Pate und trug zu deren Erfolg über viele Jahrzehnte bei: die schicht- und klassenübergreifende Publikumszusammensetzung.
Besonderer Gelehrten-Typ
Eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß es zu Volksbildungsaktivitäten dieser Art im 19. Jahrhundert kommen konnte, sind auch in subjektiven Faktoren zu suchen: im Vorhandensein eines besonderen Typs von Gelehrten.
Für diesen "Typ", den Alexander von Humboldt verkörperte, war der Einsatz für eine umfassende Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse "sowohl die sittlich-moralische Verpflichtung eines jeden humanistisch denkenden Menschen als auch ein aus der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung resultierendes zwingendes Erfordernis".6
Humboldt erkannte, ganz in der Manier der späteren kapitalistischen Moderne, daß die breite, alle Bevölkerungsschichten erfassende Volksbildung auf naturwissenschaftlichem Gebiet auch ökonomische, Wohlstand mehrende Erfolge bringt. So schrieb er einmal, auf "die Macht der volkstümlichen Intelligenz" gemünzt, diejenigen Völker, "welche an der allgemeinen industriellen Thätigkeit, in Anwendung der Mechanik und technischen Chemie, in sorgfältiger Auswahl und Bearbeitung natürlicher Stoffe zurückstehen, bei denen die Achtung einer solchen Thätigkeit nicht alle Classen durchdringt, werden unausbleiblich von ihrem Wohlstande herabsinken“.7
Alexander von Humboldt wurde zum anerkannten "geistigen Vater" der lange nach seinem Ableben gegründeten Berliner Urania. Seine Universalität ließ ihn die Gleichrangigkeit von Geistes- und Naturwissenschaften erkennen. Das wiederum wurde Voraussetzung seiner realistischen Auffassungen, die ihn eine andere Bildungskonzeption begründen ließen als die idealistische seines Bruders, der dem "Geist" den Vorrang einräumte.
Der konzeptionelle Gegensatz zwischen Humboldt und Humboldt wirkte nicht nur tief auf die allgemeine deutsche Bildungsdiskussion ein, sondern wurde ebenso in der Entwicklung der Volksbildung spürbar, nicht zuletzt in der Sonderstellung der Uranias mit [S. 68] ihrer lange Zeit gegebenen Dominanz der Naturwissenschaften.
Ahnherr der Urania in Berlin wurde Humboldt nicht nur indirekt, vermittels seiner voksbildnerischen "Kosmos-Vorlesungen" und weiterer Aktivitäten, sondern durch die Errichtung der ersten Sternwarte, die volksbildnerischen Zwecken offen stand.
In die Berliner Sternwarte trat 1855 der 1832 in Schlesien geborene Astronom Wilhelm Julius Foerster ein. Die definitive Leitung wurde ihm neun Jahre später, 1864, überantwortet. Bereits vorher, 1858, vermochte er sich neben seiner beruflichen Tätigkeit zu habilitieren.
Foerster wurde in eine wohlhabende Fabrikantenfamilie geboren. Wissenschaft und Kunst prägten die Atmosphäre seines Elternhauses. Er studierte in Berlin und Bonn und wandte sich bald der Astronomie zu, deren Studium er glänzend beendete. An der Berliner Universität wurde er allerdings erst 1875 ordentlicher Professor. Die Funktion des Rektors bekleidete er 1891/92. Obwohl verdienstvoller Forscher und initiativer Sernwartedirektor wird Foerster vor allem als "überragender Wissenschaftsorganisator" beschrieben.8
Wegen seiner ausgeprägten organisatorischen Fähigkeiten fiel es ihm leicht, in der Wissenschaftspopularisierung gestaltend zu wirken. Höhepunkt seiner diesbezüglichen Aktivitäten war die Gründung der Urania in Berlin.
Der Urania-Meyer
Vordergründig und unmittelbar ausschlaggebend für die Gründung der Urania als "völlig neuartige populärwissenschaftliche Einrichtung" wurde das Zusammentreffen von Foerster mit dem enthusiastischen Astronomen Wilhelm Meyer.10 Dahinter stand jedoch das [S. 69] auch ökonomisch motivierte Interesse, in einer Zeit bahnbrechender technisch-wissenschaftlicher Innovationen naturwissenschaftliche Kenntnisse zu verbreiten.
Der 1853 in Braunschweig als Sohn eines wenig bemittelten Glasermeisters geborene Meyer entwickelte in jungen Jahren naturwissenschaftliche Interessen, stieß dabei auf die Astronomie und begann sich sein einschlägiges Wissen im Selbststudium anzueignen. Obwohl Meyer kein Reifezeugnis vorweisen konnte, wurde ihm ein Studieren an der Universität Göttingen ermöglicht. Er bekam sogar eine Assistentenarbeit übertragen. Über die Zwischenstation Leipzig gelangte Meyer nach Zürich, wo er 1875 promovierte.
Über eine weitere Station kam Meyer nach Genf an die dortige Sternwarte, publizierte wissenschaftliche Schriften und lehrte darüber hinaus an der Universität. Da er sein Leben nicht als "Rechenmaschine" fristen wollte, wandte er sich der populärwissenschaftlichen Schriftstellerei zu und debütierte auf diesem Gebiet mit dem Feuilleton "Ein Besuch auf der Sternwarte" in keiner geringeren Zeitung als der "Neuen Freien Presse" in Wien.
In Wien begann sein Plan zu reifen, ein "wissenschaftliches Theater" zu gründen, den er tatsächlich zu realisieren vermochte.
Am Beginn dieser Entwicklung standen methodisch-didaktisch innovative Überlegungen. Meyer wollte vom gedruckten "papierenen" Wort weg zum "lebendigen" gesprochenen Wort kommen, aber den populären wissenschaftlichen Vortrag seiner Zeit, der ihm lehrhaft war, vermeiden. Überdies dachte er, Belehrung sei meist die Sache "Unberufener".
Aus der – zutreffenden – Kritik der damaligen populärwissenschaftlichen Bemühungen zog Meyer den Schluß, es müsse gelingen, die "Bilder der Sprache" mit künstlerischer Darstellung zu verknüpfen. Und das nicht in Form der bereits üblichen Projektionsbilder. Meyer verfiel auf die Idee, sich dazu der "Künste der Theaterkritik" zu bedienen, um "die Natur in ihrer lebendigen Wechselwirkung, in ihrem Nacheinander, in ihren drei Dimensionen wiederzugeben, nicht als flaches Leinwandbild".11 (Spat. im Orig.)
Zur Umsetzung seiner Vorstellungen gewann Meyer einen Hofburg-Theatermaler, in heutigem Verständnis, einen Bühnenbildner.
Im, gleichfalls in aktueller Terminologie, Showcharakter der Bilder lag die volksbildnerische Gefahr der Meyer'schen Innovation. Die Betrachterinnen und Betrachter wurden dadurch in der Tendenz vom Denken weg zum reinen Schauerlebnis geführt. Dieses konnte zwar anregend wirken, die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Materie jedoch verbauen, sofern die Auseinandersetzung überhaupt beabsichtigt wurde.
Die Hinführung zum opulenten Schauerlebnis stand durchaus in der österreichischen Barock-Tradition, woraus sich auch der große Erfolg der Meyer'schen Idee in Wien erklärt. Zu Weihnachten 1884 war es soweit. Meyer brachte im Saal der k. k. Gartenbaugesellschaft in Wien sein neuartiges Schauspiel "Bilder aus der Sternwelt" heraus, das finanziell und von der Resonanz her beim Publikum und den Medien ein durchschlagender Erfolg wurde. Meyer wurde nach Berlin berufen und arbeitete für das Feuilleton des Berliner Tagblatts, daneben an der Verwirklichung seiner Idee eines "Wissenschaftlichen Theaters", mit dem er den Kosmos im Kleinen zu präsentieren beabsichtigte. Dafür gelang es ihm, auch Förderer zu gewinnen. Der entscheidende Durchbruch gelang erst durch die Kooperation mit Wilhelm Foerster, der sich – zumindest vordergründig – mit ähnlichen Ideen trug.
Der Sternwartedirektor Foerster hegte bereits seit geraumer Zeit die Absicht, eine ausschließlich volksbildnerischen Zwecken dienende Volkssternwarte zu gründen, für die er ein eigenes Haus benötigte, das nicht nur – wie bei einer Sternwarte – der bloßen Himmelsbeobachtung offen stehen sollte.
Aus dem Zusammenwirken von Foerster und Meyer resultierten konkrete Konzepte, zu deren Umsetzung "nur" noch Finanziers gefun-[S. 70]den werden mußten. Später gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen dem als "terrible simplificateur" geltenden Meyer und dem um hohes wissenschaftliches Niveau bemühten Foerster durchaus konflikthaft.12
Ökonomische Interessen
Bei aller Verständlichkeit in der Vermittlung von Inhalten, um die es auch Foerster ging, sollte Simplifizierung nicht Platz greifen. Damit verfocht er ein didaktisches Prinzip, das nach der Jahrhundertwende in den Wiener Volkshochschulen mit unterschiedlicher Akzentsetzung – weniger in der Urania, aber besonders im Volksheim – hochgehalten wurde.
Es war vor allem der Industrielle Werner von Siemens, der sich von den Plänen Foersters und Meyers nicht nur angetan zeigte, sondern bereit war, sie materiell zu unterstützen. In einer Disseratation aus der ehemaligen DDR heißt es dazu etwas holzschnittartig: "Es kam zu einer Situation, in der sich Gelehrte, Industrielle und Bankiers in einem Aufsichtsrat zusammenfanden, um eine Volksbildungsstätte zu gründen (...) Schließlich führte sie unter Führung des Kapitals am 3. März 1888 zur Gründung der Gesellschaft Urania"13 als Aktiengesellschaft. Zugleich trafen die Urania-Gründer auf das große Interesse der Preußischen Staatsregierung, vor allem in der Person ihres Unterrichtsministers v. Goßler.
Die bedeutendste Persönlichkeit aus dem Kreis der Förderer und Mäzene der in Gründung befindlichen Urania – so sollte das Institut nach der griechischen Muse der Himmelsbeobachtung heißen – war sicherlich Werner von Siemens. Er stellte den im rückständigen Österreich nahezu nicht vorhandenen Typ des wissenschaftlich, insbesondere naturwissenschaftlich orientierten Unternehmers dar, der zugleich Erfinder und institutioneller Innovator war und besonders der Bildung – der universitären wie der außeruniversitären – großes Augenmerk schenkte.
"Werner von Siemens ist die Verkörperung des zukünftigen Typs von Erfindern und Unternehmern, der in seiner Person Kenntnisse über den Stand der Wissenschaft (...) mit Fähigkeiten zur technischen Innovation und industriellen Verwertung durch unternehmerische Managementqualitäten verband. Er arbeitete zugleich wissenschaftlich und an technischen Lösungen und setzte diese industriell um"14.
Für den Wissenschaftssoziologen Rolf Kreibich ist Siemens sogar die "Symbolfigur für die neue Stufe der Produktivkraft 'Wissenschaft und Technologie'".15
Obwohl Siemens für das, was heute als Grundlagenforschung bezeichnet wird, durchaus aufgeschlossen war, richtete sich sein wissenschaftliches Interesse und Wirken in erster Linie auf die unmittelbare Einbeziehung von Wissenschaft und Technologie in den industriellen Produktionsprozeß. Er wird zu einem der "bedeutendsten Schrittmacher dieser neuen methodischen Vorgehensweise".16
Von daher wird es verständlich, daß sich Siemens für verschiedene Initiativen engagierte, die der praktischen Umsetzung wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse, aber auch deren Verbreitung über den engen Kreis der Fachleute hinaus, dienen sollen.
Siemens erkannte, daß Wissenschaft und Forschung so etwas wie einen Unterbau in der Gesellschaft haben mußte, insbesondere bei denen, die an der produktiven Umsetzung ihrer Ergebnisse und an ihrer Verwertung im beruflichen und privaten Leben teil hatten. Das waren in der Produktion tätige Arbeiter ebenso wie Selbständige aller Art. Dabei durften bei Siemens sozial-integrative Überlegungen angesichts der politisch aufkommenden Arbeiterschaft gleichfalls eine Rolle gespielt haben.
Der kenntnismäßige breite "Unterbau" ließ sich mit einer massenwirksamen populärwissenschaftlichen Volksbildungsstätte gut herstellen, so daß Siemens die Initiativen zur Gründung der Urania sowohl von seinen ökonomi[S. 71]schen Interessen als auch von seinen politischen Bestrebungen her zu paß kamen.
Das Zusammenspiel der Interessen von hervorragenden Wissenschaftlern, organisatorisch fähigen Popularisatoren, Staat und Kapital bei der Etablierung einer – naturwissenschaftlich orientierten – Volksbildungsstätte "neuen Typs" hatte seinen Hintergrund in der gesellschaftlichen Situation und den gesellschaftlichen Anforderungen der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Sie waren durch einen technologisch-wissenschaftlichen Entwicklungsschub und neue Produktionsverfahren – besonders in der Elektrotechnik und der Chemie – geprägt. Auf den Umgang mit und die Bewältigung der dadurch ausgelösten Veränderungen mußten besonders Arbeiter und Kleinbürger hin orientiert werden.
Für die Etablierung der Volksbildungsstätte "neuen Typs" spielten noch die geographischen Entdeckungen des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts eine enorme Rolle. Über sie galt es zu informieren, da sie in breiten Bevölkerungsschichten ungemeines Interesse weckten.
Der Name Urania
Die beiden konzeptiven "Motoren" des Projekts, Foerster und Meyer, mußten einen Namen für die zu errichtende Volksbildungsstätte finden. Während Meyer für "Theater der Naturschauspiele" plädierte, setzte sich Foerster mit seinem Vorschlag "Urania", der auf einem Rückgriff in die griechische Mythologie basierte, durch.
Urania war im alten Griechenland eine von neun Musen, und zwar die der Sternkunde und Lehrdichtung. Die Verwendung ihres Namens brachte Foerster ureigenstes Anliegen zum Ausdruck, die Astronomie ins Volk zu tragen.
Mit dem für damalige Verhältnisse hohen Startkapital von 250.000 Mark konnte sich die neue Gesellschaft die Errichtung eines eigenen Gebäudes leisten.
Der Spatenstich fand am 7. Juli 1888 statt. Beinahe auf den Tag genau ein Jahr später, am 2. Juli 1889, wurde das neue Haus öffentlich in Betrieb genommen.
Moderner Bildungsansatz
In der satzungsmäßigen Aufgabe der Urania, "Verbreitung der Freude an der Naturerkenntnis"17, spiegelt sich die bildungskulinarische Intention ihrer Gründer wider. Zugleich wurde damit an die Intention von Alexander von Humoldt angeknüpft.
Bildung sollte Freude machen, eine noch heute modern anmutende Forderung, die in der Geschichte der Volksbildung nicht selten negiert oder, und das stellt die andere Seite ihrer gleichen Fehlinterpretation dar, zeitweise sehr im Sinn vordergründiger Popularitätshascherei ausgelegt wurde. Organisatorisch war die Urania in fünf Abteilungen gegliedert: Astronomie, Physik, Mikroskopie und "wissenschaftliches Theater" sowie letztlich Präzisionsmechanik. Dazu kam noch die Redakton der populärwissenschaftlichen Zeitschrift "Himmel und Erde".18
Die Möglichkeit für ihre Besucherinnen und Besucher, selbst Experimente durchzuführen, trug zum raschen und nachhaltigen Erfolg der neuen Berliner Bildungseinrichtung bei,19 den sie nicht zuletzt bei Arbeitern erzielte. Sie "besetzten zwei bis drei Vorstellungen jeden Sonntag allein mit ihren Vereinen".20
Internationale Verbreitung der „Urania-Idee“
Folge des Erfolgs war die rasche Ausbreitung der "Urania-Idee" und -Bewegung – in Berlin selbst, überregional und international.
Am 24. April 1896 wurde in Berlin in der Taubenstraße eine neue Urania eröffnet. Zuvor konnte außerhalb Berlins, aber nach Berliner Vorbild, 1894 in Magdeburg eine Urania gegründet werden, die im Februar 1895 erstmals in der Öffentlichkeit in Erscheinung trat.
Diese Urania wurde anfangs getragen von Exponenten der städtischen Bildung und des Bildungsbürgertums, der kommunalen Behör-[S. 72]den und der privaten Wirtschaft, bestand zunächst bis 1914 und lebte nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf.
Nach dem Vorbild der Urania in der Spree-Metropole wurden im Laufe der Zeit zahlreiche weitere Uranias oder Urania-ähnliche Einrichtungen gegründet: in Hamburg, Kassel, Chemnitz (1926) und Jena, wo 1909 eine Urania-Sternwarte geschaffen wurde. Zu Urania-Gründungen kam es 1913 in Breslau und 1914 in Stettin. Während des Krieges entstand 1917 die Urania in Prag, 1923 folgte die Urania in Meran.
Auch in Mailand, London und Stockholm soll es Urania-Bewegungen gegeben haben. Hinweise besagen, daß eine entsprechende Einrichtung in Petersburg gegründet wurde. Die Urania strahlte sogar in die USA aus.
Nach einem Gastspiel der Berliner Urania in Budapest im Jahr 1898, dem ein glänzender Erfolg beschieden war, wurde ein bereits vorhandenes, im maurischen Stil erbautes Palais umgebaut und zur Herberge der Budapester Urania.
In Zürich wurde im Zentrum der Stadt am 15. Juni 1907 die Urania-Volkssternwarte eröffnet.
Der Weg nach Österreich
In das Gebiet des heutigen Österreich kam die Urania, wie sollte es anders sein, über Wien, wo am 16. April 1897 das gemeinnützige Syndikat Urania geschaffen wurde.21
Im Zuge der Überwindung wirtschaftlicher Schwierigkeiten wurde das Syndikat 1901 in einen heute bestehenden Verein umgewandelt, wobei sich besonders der Rechtsanwalt Dr. Ludwig Koeßler22 hervortat, der bis zu seinem Tod im Jahr 1927 der "Motor" der Urania war.
Die Wiener Urania strahlte bald in die Länder aus, und 1919 wurde nach dem Wiener Vorbild die zweite und bis heute zweitgrößte österreichische Urania in Graz gegründet.23 Eine eigenständige Urania wurde einige Jahre später in Baden bei Wien gegründet,24 die heute ebenso noch auf Vereinsbasis besteht, wie einige kleinere Uranias in Niederösterreich.
Die Wiener Urania stand von Anfang an in der Berliner Tradition, entwickelte sich aber durchaus eigenständig und unterschied sich bis 1934 in ihrem Profil deutlich von den beiden anderen Stammvolkshochschulen Wiens, dem Volksheim und dem Volksbildungsverein. Zur Eigenständigkeit der Wiener Urania im internationalen Maßstab zählte die systematische und umfassend angelegte Verbindung von wissenschaftlicher Bildungstätigkeit mit kulturellen Aktivitäten und Angeboten der verschiedensten Art.
Zur Eigenständigkeit der Urania im Maßstab der Wiener Volkshochschulen zählten unter anderem bildungstechnologische Innovation und die Bedeutung, die dem Film als Bildungsmittel eingeräumt wurde. Ihr Angebotsschwerpunkt Astronomie stellte gleichfalls eine Volkshochschul-Besonderheit dar.
Anmerkungen:
1 Vgl. Marco Pozetto, Max Fabiani. Ein Architekt der Monarchie, Wien 1983.
2 Vgl. Wilhelm Filla: Die erste Realisierung der "Urania-Idee" in Österreich. Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte der Wiener Urania. In: Caesar Walter Ernst/Markus Jaroschka (Hrsg.), Zukunft beginnt im Kopf. Festschrift 75 Jahre Urania für Steiermark, Graz 1994, S. 112-119.
3 Vgl. Adolf Meyer-Abich, Alexander von Humboldt, 11. Aufl., Reinbek 1992 (1967).
4 Vgl. Rainer Ostermann, Die Freiheit des Individuums. Eine Rekonstruktion der Gesellschaftstheorie Wilhelm von Humboldts, Frankfurt am Main-New York 1993; Hans-Josef Wagner, Die Aktualität der strukturalen Bildungstheorie Humboldts, Weinheim 1995. Vgl. dazu die Rezension des Verfassers In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 38. Jg, 1991, Nr. 217, H. 5/6, S. 889f.
5 Jürgen Hamel/Klaus-Harro Tiemann, Vorwort. In: Jürgen Hamel/Klaus-Harro Tiemann (Hrsg.), Alexander von Humboldt über das Universum. Die Kosmosvorträge 1827/28 in der Berliner Singakademie, Frankfurt am Main-Leipzig 1993, S. 11.
6 Ebd., S. 13.
7 Zit. nach Ebd., S. 14.
8 Vgl. Klaus-Harro Tiemann, Wilhelm Julius Foerster. Leben und Werk, Potsdam 1990. S. 5ff.
9 Ebd., S. 15.
10 Vgl. Dr. M. Wilhelm Meyer, Wie ich der Urania-Meyer wurde. Eine Geschichte für alle, die etwas werden wollen, Hamburg 1908. Vgl. dazu eine Zusammenfassung von Wilhelm Petrasch (derzeitiger Direktor der Wiener Urania) In: Wiener Urania-Mitteilungen. 90 Jahre Wiener Urania 1897-1987, September 1987, H. 1, S. 1-3.
11 Ebd., S. 76.
12 Vgl. Franz Pöggeler, Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland 1848-1900. Motive, Institutionen, Initiatoren. Vortragsmanuskript. Erscheint 1998 In: Wilhelm Filla/Elke Gruber/Jurij Jug, Erwachsenenbildung zwischen 1848 und der Jahrhundertwende (Arbeitstitel) in der Reihe VÖV-Publikationen, Wien 1998.
13 Harro Hess, Die Geschichte der Gesellschaft Urania zu Berlin und die Widerspiegelung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte und zur Organisation der Popularisierung wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse. (= Unveröffentl. Diss. an der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald), Greifswald 1969, S. 18.
14 Zu Werner v. Siemens (1816-1892) und die Wissenschafts- und Produktivkraftentwicklung zur Zeit der Urania-Gründung vgl. Rolf Kreibich, Die Wissenschaftsgesellschaft, Frankfurt am Main 1986, S. 199-205, hier: 199.
15 Ebd., S. 202.
16 Ebd., S. 203.
17 Zit. nach Klaus-Harro Tiemann, Geschichte und Gegenwart der Urania-Idee in Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1993, S. 2.
18 Vgl. Wilhelm Meyer (Hrsg.), Führer durch die Urania zu Berlin. Zugleich ein illustrierter Leitfaden der Astronomie, Physik und Mikroskopie, Berlin 1892.
19 Vgl. Pöggeler, a.a.O.
20 Meyer, a.a.O., S. 81.
21 Vgl. Wilhelm Filla, Vor 90 Jahren: Gründung der Wiener Urania. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des Instituts. In: Die Österreichische Volkshochschule, 38. Jg., März 1987, H. 143, S. 1-8. Vgl. Christian Stifter, Ludwig Koeßler. Mitgründer und Präsident der Wiener Urania. In: Mitteilungsblatt des Vereins zur Geschichte der Volkshochschulen, 3. Jg., 1992, H. 1, S. 16-19; Stichwort Ludwig Koessler. In: Österreichische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Österreichisch-Biographisches Lexikon 1850-1950, Wien-Köln-Graz 1969, Bd. IV. Franz Strunz, Präsident Dr. Ludwig Koeßler. In: Fünfundzwanzig Jahre Urania-Gebäude 1910-1935, Wien o.J. (1935), S. 14f.
22 Vgl. Kurt Kojalek, Die Grazer Urania 1919-1938. In: Ernst Jaroschka (Hrsg.), Zukunft beginnt im Kopf, a.a.O., S. 120-134.
23 Vgl. Erwin Kernbeis, Badener Urania von 1923 bis 1993 – 70 Jahre Uraniageschichte (= Unveröffentl. Manuskript), Baden 1993.
24 Beiträge und Hinweise zur Geschichte der Wiener Urania finden sich in: Wilhelm Petrasch (Hrsg.), 100 Jahre Wiener Urania (= Festschrift), Wien 1997.
(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)