Author/Authoress: | Hyrtl, Josef |
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Title: | Die Materialistische Weltanschauung unserer Zeit. Rede bei dem Antritte der Rectorswürde an der Wiener Universität am 1. October 1864 |
Year: | 1864 |
Source: | Die Materialistische Weltanschauung unserer Zeit. Inaugurationsrede von Professor Hyrtl. Mit einem Vorworte von Professor Dr. Heinrich Lammasch, Wien-Leipzig 1897, S. 7-38. |
[S. 7] Geehrte Versammlung!
Der akademische Senat hat mich durch die Wahl zum Rector mit dem Beweise seines Vertrauens geehrt. Tief empfinde ich den Reiz, aber auch die Bedeutung dieser Würde. Sie tritt lebhaft vor meine Seele im feierlichen Ernste dieses Augenblicks, der mich aus dem stillen Bereich der Wissenschaft, in welchem zu wirken ich berufen bin, zum erstenmale führt vor die gesammte Universität, welche beim Wechsel des akademischen Jahres, des neuerwählten Rectors Antrittsrede zu vernehmen sich hier versammelt hat.
Läge im Willen auch die Kraft, die Aufgabe wäre nicht zu groß für mich, durch meine Worte einer Stimmung zu begegnen, die ich in diesem Kreise, wo die Meister der Wissenschaft und ihre hoffnungsreichen Jünger mich umgeben, wohl voraussetzen darf.
Der Gegensatz der bescheidenen Sphäre, in welcher mein Leben sich verbraucht, mit diesem Ehrenplatz, an dem ich heute stehe, als Erster unter Gleichen, – der [S. 8] Gegensatz ist es, der es mir zum Bewusstsein bringt, wie wenig ich zu geben habe, um dem zu genügen, was von mir erwartet wird. Wenn für empfangenes Wohlwollen, welches ich so hoch schätze, mein dankbares Herz sich in beklommenen Schlägen wiegt, wird auch des gesprochenen Wortes Schwäche hoffen dürfen, dass Sie es mit Ihrer Nachsicht begleiten.
Und welche Betrachtung soll der Stoff meiner Rede sein? Welcher Gegenstand vermöchte es, die Theilnahme einer wissenschaftlichen Versammlung lebendiger anzuregen, als eine Frage der Zeit, deren ganzes Gewicht nur der Denker ermessen und würdigen kann, und, in welche näher einzugehen selbst das beschränkte Gebiet meiner Fachwissenschaft mir gestattet.
So will ich denn das Wort in einer Sache führen, deren täglich zunehmende Bedeutung jede Richtung menschlichen Wissens und Forschens tief und mächtig ergreift, und deren Lösung so recht eigentlich dem gelehrten Bunde anheimfällt, wie er in der Universität gegeben ist, die jetzo auf mich hört; – ich meine: die materialistische Weltanschauung unserer Zeit.
Sie spricht sich nicht mehr aus dem frivolen Spott Voltaires und Condillacs, sie strebt nicht mehr, mit dem declamatorischen Prunke der Encyklopädisten unbefangene Herzen zu gewinnen, sie ist herausgetreten aus der lange inne gehaltenen Bahn eines dogmatischen Systems und ist aggressiv geworden gegen alle, welche anders denken. Ihre Beredsamkeit ruft nicht mehr den Beifall einzelner auf, – sie appelliert an die Massen mit der Logik der Thatsachen bald geschickt, bald gelehrt, bald fanatisch, immer jedoch mit der gewinnenden Aufrichtigkeit der Überzeugung. Sie hat zahlreichen Anhang gefunden unter den Männern jener Wissenschaften, welche es mit nur mit dem Stoffe zu thun haben. Über diese herrscht sie jetzt mit unumschränkter Gewalt, so dass von meiner Seite eine Art von Muth dazu gehört, ihre Berechtigung zu solcher Herrschaft in Zweifel zu ziehen.
[S. 9] Als vorübergehender Ausdruck einer auf Abwege gerathenen Denkweise würde der Materialismus kaum eine ernste Beachtung verdienen. Er könnte uns selbst entschuldigbar erscheinen als überstürzte Reaction gegen die im Anfange dieses Jahrhunderts allmächtige Naturphilosophie, wo alles Denken, alles Forschen der Wissenschaft in purem Geiste aufgehen zu wollen schien. Er erfasste den Scepter, welcher den Idealisten aus den Händen glitt, und fand, da er nur auf Thatsachen sein System aufzubauen versicherte, umsomehr Theilnahme, Einfluss und Verbreitung, als die im Idealismus fast bis zur Erschöpfung ihrer Kräfte angestrengte Philosophie eine bis zur Geringschätzung gesunkene Indifferenz gegen alles metaphysische Denken zurückgelassen hat.
Selbst von den Lehrstühlen verbreitet sich die Kunde der Identität des leiblichen Seins und geistigen Wirkens und schreckt vor keiner ihrer nothwendigen Folgen zurück, in welchen die Elemente der Auflösung unserer moralischen Gefühlswelt, unserer socialen Verhältnisse enthalten sind. Durch die Verneinung des Übersinnlichen hat der Materialismus in dem geistigen Kampfe zwischen Wissen und Glauben, aller Beweisführung gegen Christenthum, gegen jede positive Religion überhaupt, ihre gefährlichste Waffe geschärft; – fürwahr, es fehlt ihm nicht an Gewicht und Bedeutung.
Hier genügt es nicht mehr, sich in seine Tugend zu hüllen und im heiligen Eifer des Unwillens eine vermeintliche Verirrung des Menschengeistes zu beklagen. Was die Wissenschaft geschaffen, kann nur durch die Wissenschaft gerichtet werden. Ihr steht es zu, sich nicht bloß ablehnend zu verhalten, sondern selbst herauszufordern ihre Gegner zum ehrlichen Kampf, Wind und Sonne gleich zu theilen und als Richterin zu sprechen das Gottesurtheil der Wahrheit. Denn, ist die materialistische Lehre falsch, kann nur die Wissenschaft sie des Irrthums zeihen; – ist sie aber wahr, dann kann kein denkender Mensch umhin, sie anzuerkennen, sie in sich aufzunehmen und nach ihrem Gebot zu leben.
[S. 10] Jedes Zeitalter hat seine eigenen Bestrebungen, seine besondere Art der Auffassung äußerer Verhältnisse, welche sich in allen seinen Tendenzen widerspiegelt. In dem jetzigen tritt die materielle Seite der Naturwissenschaften in den Vordergrund. Sie haben durch ihre Sicherheit und durch ihre großartigen Anwendungen ein solches Licht um sich gegossen, dass die speculativen Wissenschaften wie im Schatten zurückstehen. Die exacte Erkenntnis, heißt es, lebt von Thatsachen, nicht von Ideen.
Der Naturforscher glaubt sofort nur seinen Beobachtungsresultaten, der Mathematiker seinen Ziffern und ihrer unwiderstehliche Logik, der Physiker und Chemiker seinen Versuchen und Analysen, der Physiolog dem anatomischen Messer. Keiner scheint es zu fühlen oder zu beachten, dass, wenn es etwas Übersinnliches gibt, es nur unter der Bedingung existiert, das es eben nicht gemessen, nicht gewogen, nicht zergliedert werden kann.
So fragen wir uns denn, ist es wahr, dass der Geist nur eine Äußerung der Materie sei? – ist es wahr, dass unser Fühlen, Denken, Wollen nur ein stoffiger Vorgang in den Gehirnatomen und ihren chemischen Combinationen ist? – ist es wahr, dass die Naturwissenschaften uns überzeugt haben, dass nur in der Materie als dem Urgrund alles Seins auch alle geistigen Kräfte wohnen, in ihr und durch sie allein in die Erscheinung treten?
Es kann nicht meine Absicht sein, auf alle diese Fragen prüfend einzugehen. Nur eine von ihnen will ich mir auswählen, da ihr Inhalt ganz und gar auf meinem Wege liegt und eine anatomische Würdigung objectiv und parteilos zulässt. Ist die Seele das Product des nach unabweichlichen organischen Gesetzen arbeitenden Gehirns, oder ist dieses Gehirn vielmehr nur eine jener Bedingungen, durch welche der Verkehr eines immateriellen Seelenwesens mit der Welt im Raume vermittelt wird?
Gehirn und Seele sind die beiden Worte, welche der Cultus des Stoffes als gleichbedeutend im Munde [S. 11] führt. Wohlan denn, lasst die Anatomie sich aussprechen, ob mit Recht oder Unrecht.
Angenommen, es sei die Psychologie, wie Broussais sagt, nur ein Capitel der messenden, wägenden, analysierenden Gehirnlehre, so muss die Wissenschaft die Verrichtungen des Gehirns, wie jene aller übrigen Organe, aus seinem Baue deducieren. Hierin besteht ja die einzige Methode, physiologische Fragen wissenschaftlich zu beantworten. Welcher Kenntnis des Hirnbaues dürfen wir uns rühmen?
Der selbstzufriedene Anatom wird zugestehen, dass wir von diesem Baue nicht viel mehr als seine Elemente kennen, Zellen, Fasern von extremster Feinheit und großer Gleichförmigkeit in allen ihren Attributen. Dazu noch eine übersichtliche Kenntnis der Umrisse ihrer topographischen Verbreitung. Der Fleiß und das Genie der größten Zergliederer hat dieser kümmerlichen Kenntnis keinen wesentlichen Fortschritt gebracht, viel weniger sie erhoben zu jener Entschiedenheit und Reife, welche unerlässlich ist, um vom materiellen Substrat auf seine Verrichtungen zu schließen. Mehr noch. Die Technik der Zergliederung, die mikroskopische Analyse ist in der Hirnanatomie fast an die Grenze ihrer möglichen Leistung angelangt. Wir sind von der Unmöglichkeit des tieferen Eindringens in das geheimnisvolle Werkzeug der Gedanken ebenso überzeugt, wie von der Nichtigkeit der Hoffnung, die Schärfe unserer Instrumente, die Präcision unserer Untersuchungsmittel auf eine dieser Aufgabe entsprechende Höhe zu steigern. Dem Labyrinth der Hirnzellen aber, dem Zuge ihrer Fasern mit dem Messer folgen zu wollen, hieße ebensoviel, als den Bau der Monade darzulegen mit Schmiedehammer und Brecheisen, und den Faden der Spinne zu spalten mit der Säge des Zimmermanns. Und dieser Vergleich sagt noch zu wenig.
Solchen Umständen gegenüber steht es dem Materialismus übel an, mit den Zellen der Hirnsubstanz so bekannt zu thun, und in ihnen zu sehen nicht bloß die [S. 12] Vermittler, nein, die immediaten Erreger der geistigen Functionen.
Oder hat etwa das Experiment am lebenden Thiere zu dieser Kenntnis verholfen? Eine schwächere Autorität lässt sich nicht anrufen. Es verhält sich mit Versuchen dieser Art ganz anders, als mit jenen des Physikers. Der letztere hält alle Fehlerquellen fern, stellt selbst seine Wage unter Glas, um das Schwanken ihre Balkens nicht durch die Strömungen der Luft zu beeinflussen. Das Hirnexperiment dagegen versetzt seine Schlachtopfer von vornherein in die unnatürlichsten Verhältnisse. Es lässt sich wohl, wenn auch nicht ohne Widerspruch, noch wahrnehmen, welcher Muskel auf Reizung gewisser Hirntheile zuckt, welcher Gang sich verengert, welche Drüse Störungen ihrer Secretionsthätigkeit zeigt, kurz, wie und mit welchen seiner Organe das Gehirn in die somatische Sphäre des Lebens anregend und bedingend eingreift. Von seinem Einfluss auf physische Thätigkeit weiß man nur, dass mit der Abtragung der Hemisphären des großen Gehirns das Sinnenleben und das Bewusstsein schwindet, mit jener des kleinen Gehirns dagegen die zweckmäßige Coordination der Muskelbewegungen gestört wird. Über das Leben und Wirken der Hirnzellen selbst sagen uns diese Experimente nichts, denn welche Veränderungen in ihnen vorgehen, um Fühlen und Empfinden zu veranlassen, oder Gedanken zu erzeugen, das lässt sich doch nicht sehen.
Hat nicht durch Zufall oder Gewalttat bedingte Hirnverwundung dem Kliniker gelehrt, dass Massen jener grauen Hirnsubstanz, welche doch ganz und gar aus den vermeintlichen Erregern der Seelenthätigkeiten besteht, zerstört werden und verloren gehen können, ohne nachhaltigen Deficit geistigen Vermögens?1) Wo liegt also [S. 13] der objective Grund, diese Zellencomplexe als das primum movens psychischer Energien aufzustellen, und wer kann solchen Grundsatz nur im allgemeinen statuieren, auf seine Beweisbarkeit aber im einzelnen aber verzichten?
Keine der Beobachtung zugängliche, materielle Thätigkeit aufbringend, übt das Gehirn eine innere Wirksamkeit, die wir mit unserer sinnlichen Anschauung nicht erreichen. Nur unser Bewusstsein bringt uns Kunde von ihr. Diese Gemeinschaft unseres denkenden Ichs mit dem raumerfüllenden Gehirn erklärt keine physiologische oder praktische Beobachtung. Mit welchem Rechte gebärdet sich also der Materialismus, als habe er sie in ihrem Grunde erfasst? Seine Ableitung der Geistesthätigkeiten und ihrer Veranlassung von den Zellen der grauen Hirnsubstanz ist nichts mehr als eine Ansicht, – keine Darlegung eines Gegebenen und Verstandenen, denn wir kennen es dieser grauen Substanz nicht an, wie und wodurch sie wirkte, ebensowenig als die Zergliederung der Gesichtsmuskeln dem Anatomen von dem seelenvollen Ausdruck der lebendigen Miene irgendwelche Kunde bringen kann.
Sollte es wirklich dahin kommen, dass wir die Anatomie jeder einzelnen Ganglienzelle gründlich verstehen, die Beziehungen ihrer verästelten Fortsätze zu den Faserzügen des Gehirns und der Nerven, die chemischen Unterschiede in der Zusammensetzung ihrer Hüllen und Kerne, die Zahl und Natur der Körnchen ihres granulierten Inhaltes genau anzugeben im Stande sein werden, so werden wir mit allem diesem doch nicht erklären können, wie die Hirnzellen in den materiellen Bedingungen ihrer Existenz auch die erste Anregung [S. 14] und den letzten Grund des Denkens in sich enthalten. Mag es Stoffumsatz, mag es molekuläre Schwingung mit allen ihren möglichen Variationen sein, was wir an diesen räthselhaften Gebilden noch kennenzulernen haben (die gleichfalls verlautbarte Absonderung des Gedanken übergehe ich, da sie selbst den Materialisten allzu materialistisch klang), immer wird die Erklärung noch zu finden sein, von wo der erste Anstoß zu dieser Bewegung ausgeht, und wie die physischen Vorgänge der genannten Art in das geistige Wesen des Gedankens umgesetzt werden. Mit der einfachen Aussage, dass dieser Umsatz stattfinde, wurde er nicht sogleich verstanden, und der erste Satz des materialistischen Raisonnements ist somit eine unbewiesene Annahme seiner Richtigkeit.
Die Anatomie lehrt uns ferner, dass alle grauen Centra der Gehirnmasse dem bewaffneten Auge fast gleichartig erscheinen. Wie können sie der Sitz so verschiedenartiger Seelenäußerungen geworden sein? Derselbe Bau, dieselbe Leistung, ist ein physiologisches Axiom, welches nur auf die Hirnfrage keine Anwendung finden sollte? – Wie ist es ferner möglich, dass bei übereinstimmender Hirnstructur zwei Menschen über einen und denselben Gegenstand verschieden, ja entgegengesetzt denken und urtheilen? – Gehören drei verschiedene Hirnbauarten dazu, um in der Wissenschaft ein Pendant, ein Freigeist, ein Schwärmer zu sein, während ein Vierter sich beruhigt mit dem Glauben? Hat etwa auch die Natur den Gegenstand materialistischer und idealistischer Denkweise durch einen hierauf berechneten Hirnbau prästabiliert?
Es gibt einen Fortschritt in der Welt der Gedanken. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt ihn auf. Sie arbeitet fort und fort an diesem großen immer wachsenden Gute der Menschheit. Warum hat die Bildung unseres Geschlechtes Jahrtausenden durchleben müssen, um zu werden, was sie ist? Hat die Zeit den Gehirnen neue Organe gebracht, oder hat die Summe des Erlebten, [S. 15] des Gedachten, des Erfahrenen zurückgewirkt auf die geistige Erziehbarkeit der Seele, die der Materialist als eine wesenlose Abstraktion, eine hyperphysische Fiction zu nennen gewohnt ist? Ist es der Brei des Gehirns, welcher verfeinert und mit subtileren Stoffen gesättigt wurde, oder hat die Erfahrung des Menschen Geist erzogen und ihn gelehrt, sich des Organes seiner Äußerung in Zeit und Raum geläufiger zu bedienen? Wer möchte diese Fragen in materialistischem Sinne mit Entschiedenheit beantworten?
Auch die in keine Details der Gehirnanatomie eingehende Behauptung einer innigen Beziehung der Gesammtheit der Gehirnmasse zum Geiste stößt auf so befremdende Ausnahmen, dass ihre allgemeine Giltigkeit selbst dem oberflächlichen Beobachter nichts weniger als ausgemacht erscheint. Allerdings spricht eine gewisse Summe von Erfahrungen dafür, dass große Denker und Menschen von eiserner Willenskraft große Köpfe, breite Stirnen und somit viel Gehirn besitzen. Allein es fehlt zugleich in den nicht eben großen Hirnschalen von Andreas Vesal, von Philipp II., von Cartesius und Cromwell1) nicht an Belegen des Gegentheils. Jeder [S. 16] von uns wird in dem Kreise seiner eigenen Bekanntschaft Beispiele finden, dass eminente Geistesfähigkeiten nicht ausschließlich in großen Köpfen thronen, und dass letztere gewöhnlich kurzen und gedrungenen Staturen, kleine Köpfe dagegen auf hohen und langen Hälsen schlanken Gestalten eigen sind. Wenn aber Gall sich auf das Zeugnis der Pariser Hutmacher beruft, dass Menschen aus den gebildeten Ständen der Gesellschaft ein weiteres Maß ihrer Kopfbedeckung erfordern als Leute aus dem Volke, so mögen es die wilden Suli und die Makoka-Neger mit ihren größten Köpfen bestätigen, wie misslich es ist, den hohen Geist des Denkers mit dem Umfang seiner erdigen Schale in ein bedingtes Verhältnis bringen zu wollen.
Da nun die Anatomie des Menschenhirns nichts gebracht hat über die absolute Abhängigkeit des Geistes von ihm, soll die vergleichende Anatomie es bewiesen haben, dass das Gehirn der adäquate räumliche Ausdruck der Gesammtheit aller geistigen Functionen sei, [S. 17] und die Intensität des geistigen Lebens mit dem Volumen des Gehirns in geradem Verhältnis stehe. Diese vergleichende anatomische Würdigung der Gehirnmasse hat Sonderbares gelehrt. Man schrieb anfangs dem Menschen das größte Hirn zu. Da kamen Säugethiergehirne mit fünf Pfund, ja mit neun Pfund Gewicht, während das menschliche, im Maximum nur drei Pfunde wiegt, – das Weiberhirn selbst um zwei Unzen weniger1). Diese Zahlen waren bedenklich und mussten es noch mehr werden, als in der gesamten Thierwelt kein gesetzlicher Parallelismus zwischen der Masse des Gehirns und den ihr zugeschriebenen Lebensmanifestationen nachgewiesen werden kann2). Alle Wirbelthiere nehmen durch Masse und Bau ihres Nervensystems eine hoch über die Avertebraten ragende Stellung ein, und dennoch sind Fische und Amphibien, obwohl ihr Hirnbau schon das Vorbild des menschlichen zeigt, weit weniger durch Kunsttriebe und Instincte ausgezeichnet als so viele wirbellose Thiere. In Unzahl begegnen hieher gehörige Thatsachen dem vergleichenden Anatomen. Die Vögel, deren Gehirn jenem der Säugetiere selbst bis zum Verschwinden gewisser Formbestandteile nachsteht, werden dennoch von den Mammalien weder an Mannigfaltigkeit ihrer Triebe, noch an Lebhaftigkeit ihrer Gefühlsäußerungen und Leidenschaften, ja selbst an Gelehrigkeit nicht übertroffen, und die Vierhänder, deren Hirnbau dem Menschlichen am nächsten kommt, behaupten nur durch ihr possierliches Wesen und die bekannte Parodie ihrer Menschenähnlichkeit einen scheinbaren Vorzug vor dem treuen Hunde und dem gelehrigen Pferde. Das Gehirn des Chimpanse zeigt weder in seiner Gestalt als Ganzes, noch in der Anordnung seiner Einzelheiten einen erheblichen Unterschied vom menschlichen Typus. [S. 18] Der Streit um den Hippocampus minor wurde zu Gunsten des Troglodyten entschieden. Das menschenähnlichste Affenhirn wiegt dreimal weniger als das menschliche. Demgemäß sollte sein Besitzer auch dreimal weniger denken, vergleichen, urtheilen, schließen, als wir, sich also benehmen wie ein Mensch mit vernachlässigter Erziehung seines Intellectes, nicht aber leben das wilde, unzähmbare Leben des unvernünftigen Thieres1). – Thiere, begabt mit den merkwürdigsten Eigenschaften, lassen gegen ihre nächsten stumpfsinnigen Verwandten keinen Unterschied im Hirnbau erkennen. So hat der fast verständige Hund dasselbe Hirn wie der Schakal, das edle Pferd steht seinem minderbevorzugten Halbbruder in seiner Hirnstructur nicht voran, und der Biber von Canada, dessen ganzes Leben unter dem herrschenden Einfluss seines Bautriebes steht, hat selbst ein kleineres Hirn, an welchem kein einziges Organ einer höheren Entwicklung theilhaftig geworden, als ich es am Biber der Donau, bei welchem dieser Trieb nie zur Äußerung gelangt, gefunden habe. Von der niedern Thierwelt, welche doch fühlt und empfindet und, den erhaltenen Eindrücken gemäß, Verlangen oder Abwehr äußert ohne Nervensystem, will ich nicht reden und es dem unbefangenen Urtheil anheimstellen, ob es der Schlundring der Ameise, der Biene, der Spinne ist, welcher diese Geschöpfe zu den, selbst dem Menschen als Vorbild dienenden, mit berechnender Vorsicht, mit kluger Benützung aller helfenden Umstände auszuführenden Handlungen befähigt.
Man wandte sich an das Verhältnis des Hirngewichts zum Körpergewicht und fand sich nur zu bald enttäuscht durch die Wahrnehmung, dass dieses Verhältnis in der Thierwelt häufig umso größer gefunden wird, [S. 19] nicht je instinctreicher und gelehriger, nein, je kleiner das betreffende Thier ist. Der erwachsene Mensch zeigt ein Verhältnis von 1:48 – die Hausmaus von 1:30 – die Singvögel von 1:15 – die Blaumeise sogar von 1:12 – und bei ganz nahe verwandten Thieren überraschen uns die größten Verschiedenheiten. So ist dieses Verhältnis beim zahmen Merino auffallend größer als bei seinem Stammvater, dem Argali der sibirischen Steppen, zur Zeugenschaft, dass reichliche Nahrung und die mit der Zähmung des Thieres verbundene Verweichlichung auch auf die Entwicklung seiner Hirnmasse fördernden Einfluss nimmt, ohne jedoch, verzeihen Sie den Ausdruck, seine geistige Fähigkeit zugleich mit seiner Wolle zu veredeln1).
Man fasste hierauf die grauen Hirnwindungen ins Auge. Ihre Zahl, die Tiefe, ihr Verschlungensein, kurz, die Menge der grauen Substanz der Hirnrinde soll den Ausschlag geben. Da zeigte sich aber, dass Thiere, denen wir nicht geneigt sind, so nahen Platz neben uns zu gönnen, das Hausschwein, die Seekuh und der Bartenwal, viel reichere und entwickeltere Gehirnwindungen besitzen als die meisten übrigen Säugethiere, und dass der Delphin, welchem in der Stufenleiter der Mammalien die unterste Sprosse gehört, selbst dem Menschenhirn sehr nahe kommt, während der [S. 20] Jagdhund nur sechs, sehr unvollkommen entwickelte Hirnwindungen besitzt, und die hochgestellten Chiropteren ein ebenso windungsloses Hirn aufweisen wie der Maulwurf und die Ratte.
Auch an die chemische Zusammensetzung des Gehirns wurde appelliert. Der Ausspruch des königlichen Philosophen von Sans-Souci: „Die Materie ist’s, welche denkt, so gut sie elektrisch wird,“ wurde auch zum Orakel der Adepten des Stoffes. Eiweiß, Phosphor, Gallenfett, in jener Proportion wie im Menschenhirn gemischt, erzeugen also die Ideen, wie die Nähmaschine Stiche, und die übliche Metapher von Geistesfunken und Gedankenblitzen ließ es einen der kühnsten und beredtsten Vorkämpfer des Materialismus ausrufen: „kein Gedanke ohne Phosphor.“ Hier ist aber zu bedenken, dass der Phosphorgehalt im Hirne eines und desselben Menschen mit jenem seiner Knochen zu- und abnimmt, – dass er geringer wird in der Rachitis, und gerade mit dieser Krankheit behaftete Individuen sich durch Präcocität einer frühreifen geistigen Entwicklung auszeichnen; – dass der Phosphorgehalt im Hirn des Idioten jenem des geistesfrischen Menschen nicht nachsteht, um solchen Gegensatz im Seelenleben erklären zu können, und dass sich des größten Reichthums an jenem Gedankenphosphor zwei Thiere zu rühmen haben, mit welchen der geläufige Volkswitz nur schwachsinnige Menschen vergleicht, das Schaf und jener auch zu geschichtlichem Namen gelangte Vogel, von welchem die Sage geht, dass er die römische Burg vor dem Überfall der Gallier nicht durch seine Klugheit gerettet.
Unterliegt ferner die Combination der Stoffe, aus welchen sich die Gehirnsubstanz aufbaut, nicht einer fortdauernden Erneuerung? Wie soll die Materie, ein Raub des ewigen Wechsels, mit dem Beharrlichen in den Erscheinungen des Seelenlebens in irgendwelcher nothwendigen Verbindung stehen? Wie wäre die Einheit des sich immer gleichbleibenden Bewusstseins, [S. 21] wie wäre die Erinnerung, wie wäre Gedächtnis möglich, welches durch Festhalten von Vorstellungen und Begriffen den Inhalt alles Denkens bildet und seine Verkörperung im sinnlichen Ausdruck der Sprache vermittelt, – wie könnte es geschehen, dass, je mehr wir im Geiste aufgenommen haben, desto leichter jeder neue Zuwachs Platz gewinnt, wenn die Molecüle des Gehirns, welche Eindrücke empfangen haben und sie bewahren sollen, austreten aus ihren Verbindungen und durch die die Ausscheidungsorgane des Leibes zurückkehren in den Schoß der anorganischen Natur, aus welcher sie für die kurze Zeit ihrer Verwendung nur erborgt waren?
Es ließe sich entgegnen, der Austausch des Hirnstoffes ist kein durchgreifender, es tritt nur ein Bruchtheil desselben aus, während der Rest verbleibt. Demgemäß müssten aber alle aufgenommenen Eindrücke und die Leichtigkeit ihrer Reproduction sich mit ihrer Dauer abschwächen. Wie erklärte sich dann die sonderbare Erscheinung, dass eine längst vergessene Erinnerung plötzlich wie ein leuchtend Meteor wieder aufsteigt vor unserm geistigen Gesicht, die Macht eines Eindruckes sich nimmermehr verlieren will aus unserem Gedächtnis, mit jeder Reproduction gewinnt an Kraft, sich selbst steigert zur fixen Idee, welche schrankenlos herrscht über all unser Denken und Handeln; wie könnte es kommen, dass im Greisenalter, wenn an den ewigen Friedens Schwelle Grabesahnung verdüstert den sinkenden Lebensstern, die längst entschwundenen Bilder der goldnen Jugendzeit, die Züge von Menschen, die uns theuer waren, Namen, Personen, Ereignisse wieder auftauchen mit einer Lebhaftigkeit, welche alle Eindrücke der Gegenwart in den Hintergrund drängt?
Die Gehirnsubstanz zeigt sich ferner allenthalben gleichartig zusammengesetzt. Wir kennen keinen chemischen Unterschied in den Stoffverbindungen einzelner Gehirnganglien. Wenn nun die Kraft, wie Materialisten und Idealisten zugeben, eine Eigenschaft des Stoffes ist, so [S. 22] können gleiche Stoffe nur gleiche Kräfte besitzen, und gleiche Kräfte nur gleiche Wirkungen ins Dasein rufen. Hier liegt doch nicht die leiseste Möglichkeit, den Chemismus der Mischung für die bunte Mannigfaltigkeit des Gedankenlebens als erklärendes Moment herbeizuziehen.
Sollten für Vorstellungen, welche einzelne Menschen nie gehabt, auch die entsprechenden Hirntheile fehlen? Sollten für die Wahrheiten, welche im Schoße der Zukunft schlummern, für die Fortschritte und Entdeckungen der Wissenschaft, die da kommen werden, die betreffenden Ganglienzellen der grauen Hirnsubstanz einstweilen unbeschäftigt sein und feiern? Dann müssten sie ja schwinden, weil jedes Organ durch Nichtgebrauch atrophiert. Das Gehirn müsste sein Volum dem engeren oder weiteren Vorstellungskreise des Individuums anpassen, und je tiefer eine Menschenrace steht, in desto engerem Raume müsste hausen ihr zellenarmes Hirn.
Ist aber das unbekannte Seelenetwas wirklich nur das Resultat stoffiger Vorgänge im Gehirn, dann kann es sich auch den zwingenden Gesetzen nicht entziehen, denen die Nothdurft der Materie gehorcht allüberall. Unter der Herrschaft solcher unbeugsamen Gesetze aber ist keine Denk- und Willensfreiheit möglich. Wir wären genöthigt, uns zu begeben des edelsten, des wahrhaft großen Vorrechtes unserer Menschenwürde, – eines Vorrechtes, dessen wir inne werden in jedem Acte unseres Wollens und Handelns, – eines Vorrechtes, welches sich aus der Tiefe unseres Bewusstseins heraus selbst constatiert und deshalb keines Beweises bedarf. Der Mensch schafft durch die Freiheit seines Denkens Dinge, die nicht die nothwendigen Consequenzen von Naturgesetzen sein können, da sie sich in Gegensätzen aussprechen. Die Denkfreiheit ist also etwas Übersinnliches, da sie sich wesentlich außerhalb der Ordnung der Natur und ihrer Gesetze äußert. Es gibt keine gewichtigere und bekanntere Apologie dieser Freiheit, als die Geschichte dessen, was man zu allen Zeiten zu [S. 23] ihrer Unterdrückung gethan. Wer mag es nun noch vertheidigen, dass die Spontaneität unseres Geistes, welchem nichts unmöglich ist, als das Verzichten auf sich selbst, nur durch die Abhängigkeit von der Gehirnmischung bestehe und wie diese als etwas Vorherbestimmtes und Unabweisliches zu betrachten sei?
Wie kann ferner das Gehirn, was es erzeugte mit Nothwendigkeit, im nächsten Augenblicke selbst wieder missbilligen und verwerfen? Wie kann seine geschehene Leistung unzufrieden werden mit sich selbst? Wie kann der Mensch mit dem Bewusstwerden seines Irrtums die Bitterkeit der Enttäuschung, die Folter der Reue fühlen? Wie kann die Eumenide des erwachenden Gewissens ihre Geißel schwingen über das Schuldbewusstsein des Sünders, wenn er nur ein willenloses Werkzeug seiner Gehirnmechanik ist? Wie kann des Menschen Gesetz den Verbrecher bestrafen, und nicht lieber den Richter verweisen auf die Bank der Schuldigen, da er es ist, welcher Naturgesetzen zuwider handelt? Das sind doch Widersprüche, die mit den Behelfen, über welche der Materialismus verfügt, nicht gelöst werden können. Er hat deshalb den einzigen Weg eingeschlagen, der ihm noch offen blieb, – er erklärte, was ich eben anführte, für Irrthum, Selbsttäuschung, Wahn, über welche ihm keine Verantwortung aufgebürdet werden kann, da sie unter seiner Alleinherrschaft nie entstanden wären.
Wäre der Geist nichts für sich, dann könnte er auch keine Hirnveränderung bewirken; – – die allbekannte Thatsache seiner Herrschaft über somatische Vorgänge wären wir gezwungen zu verleugnen, und dennoch hat niemand mehr Gelegenheit als der Arzt, sich von ihrer ans Wunderbare grenzenden Macht zu überzeugen. Die Rückwirkungen geistiger Zustände auf den Körper sind nicht weniger auffallend, als die von den Materialisten ausschließlich hervorgehobenen Geistesverstimmungen durch körperliche Einflüsse. Furcht und Einbildung, Sehnsucht und Schreck, jede tiefe Erregung des Gefühls [S. 24] äußern auf die biologischen Bedingungen des kranken und gesunden Organismus den offenkundigen Einfluss. Das Vertrauen, die Hoffnung auf Genesung unterstützen das Wirken des Arztes, und wie vielen hat, wo alle menschliche Kunst und Wissenschaft zu Ende war, der Glaube geholfen und Wunder des Heilens gethan, nicht bloß am christlichen Heiligenschrein, – überall, wo vor einer höheren Macht der Mensch verehrend beugte das Knie – im Tempel Serapis und Äskulaps, – in der Pagode des Brahminen und Buddhisten, – am Grabe des Propheten.
Ebensowenig wie die äußeren Verhältnisse des gesunden Menschenhirns spricht die pathologische Beobachtung an den Leichentischen der Irrenhäuser und Hospitäler zugunsten der Identität des Hirn- und Seelenlebens. Fürwahr, weder spärlich noch trübe fließt diese Quelle. Aber bei allem Reichthum der Erfahrung hat es die Pathologie noch nicht einmal zur Form einer Wahrscheinlichkeitsrechnung über Gehirnfunctionen gebracht. Sie hat nur gezeigt, dass es kein Organ im Gehirne gibt, dessen Erkrankung nicht mit Geistesstörung einhergehen könnte, aber auch keines, bei dessen physischem Leiden die Seele nicht unberührt geblieben wäre. Sie hat gezeigt, dass bei Geisteskrankheiten materielle Hirnstörungen umso auffallender hervortreten, wenn mit der Geisteskrankheit auch körperliche Leiden, Paralysen, Krämpfe, Atrophien vergesellschaftet waren; – sie hat gezeigt, dass bei einerlei Erkrankungsform des Gehirns die verschiedensten Arten und Grade des Deliriums, des Wahnsinns auftreten, – dass bei so vielen Hirn- wie Herzkrankheiten nicht die Geistesvermögen, sondern die Sphäre des Gemüthes in Mitleidenschaft gezogen wird, und wie es als Regel zu gelten hat, dass jene lokalen Hirnkrankheiten, welche Lähmung bedingen, doch den Willen zur Bewegung nicht aufheben. Sie hat gezeigt, dass das Gehirn den Druck massenhafter Geschwülste ohne auffallende Störung des Bewusstseins vertragen kann, dass Verwundungen des [S. 25] Hirns nicht unmittelbar, sondern erst durch die nachfolgende Entzündung das Seelenleben anfeindet, ja, dass ein scharfes Eisen, von einer Seite zur anderen durch den Schädel gestoßen und mit Zurücklassung der Spitze im linken Felsenbein ausgezogen, das Selbstbewusstsein des Verletzten so wenig beeinträchtigte, dass er es selbst versuchte, häuslichen Geschäften nachzugehen und der untersuchenden Gerichtsperson über die Veranlassung seiner Verwundung Auskunft geben konnte1). Ich gedenke noch der lichten Augenblicke der Wahnwitzigen, deren organische Hirnkrankheiten doch nicht intermittieren; ich gedenke des Scheintods mit fortdauerndem Bewusstsein; elender, kränkelnder Menschen, die, wie Pascal und Spinoza, große Denker waren; ich gedenke jener auszehrenden und dyscrasischen Krankheiten, welche, wie Schwindsucht, Syphilis, Krebs, bis zum letzten Atemzuge des gänzlich erschöpften Lebens die Seelenverrichtungen solcher Kranken weit weniger stören, als es die vorübergehende Einwirkung geistiger und narcotischer Stoffe bei gesunden Menschen zu thun pflegt; ich gedenke, wie am Ende jahrelanger, unheilbarer Hirnleiden das wiedererwachende Bewusstsein in den letzten Augenblicken des erlöschenden Lebens die Ruhe des Entschlummerns stört2) und schließe diesen Abschnitt meiner Rede mit den Worten des Gründers der pathologischen Anatomie:
„Die Aufklärungen, zu welchen die physikalische Richtung der Medicin geführt hat, weisen ihre Berechtigung selbst auf jenem Gebiete nach, auf dem ein geistiges Princip interveniert, sofern diesem, behufs seiner Thätigkeitsäußerung, seines Verkehrs mit anderen Gebieten des Thierleibes, seiner Wirksamkeit über das Individuum hinaus, körperliche Organe beigegeben sind“3).
[S. 26] Gestatten Sie mir noch einen flüchtigen Überblick der Principien jener Schule, gegen welche ich bis jetzt nur als Arzt und Anatom gesprochen habe.
Besonders schwer fällt der Satz ins Gewicht: „Der denkende Mensch ist nur die Summe seiner Sinne; sein Geistesleben kann nur aus sinnlichen Erfahrungen abgeleitet werden; von außen kommt der Stoff alles Wissens; es gibt keine angeborene geistige Fähigkeit, noch weniger Ideen dieser Art.“
Erwägen wir diese weittragende Behauptung etwas genauer, so müssen wir vorerst verneinen, dass der Inhalt alles Denkens von außen, d. h. durch die Pforten der Sinnesorgane, in das Gehirn gezogen kommt. Dieses „von außen“ setzt ja schon einen Begriff voraus, der nicht von außen gekommen ist, – den Begriff des Raumes und ein Vermögen – jenes der Raumanschauung. Beide sind keine Erfahrungsresultate. Sie mussten schon in Bereitschaft gewesen sein, als wir des ersten von außen zugeführten Sinneseindruckes bewusst wurden. Wir wurden dieses ersten Eindruckes und aller in der Zeit folgenden bewusst, indem wir sie zugleich auf eine nicht in uns enthaltene, also auf eine äußere Ursache zurückführten. Raum, Zeit, Ursächlichkeit sind somit etwas Ursprüngliches, aller Erfahrung Vorangehendes und vor ihr in uns Existierendes. Sie sind, um mit Kant zu reden, „angeborene Formen der Anschauung“, durch welche die Erfahrung erst möglich wird.
Selbst die größtmöglichste Summe von Sinneseindrücken würde den Menschen geistig unentwickelt lassen, wenn er, ohne sein eigenes Zuthun, bloß stehen bliebe bei dem sinnlichen Gefühle wie das Thier. Erst indem er das Aufgenommene auf seine äußere Bedingung reduciert, lernt er eine objective, in Zeit, Raum und Causalität geregelte Welt erkennen. Diese Erkenntnis beginnt allerdings mit der sinnlichen Wahrnehmung, entspringt aber nicht aus ihr. Will man einen Erfahrungsbeweis für diesen Satz, so soll es der merkwürdige Fall jenes Mädchens aus New-Hampshire [S. 27] sein, welches als Kind im achtzehnten Lebensmonat Gesicht und Gehör und vier Monate später auch Geschmack und Geruch verlor, ohne selbst die Erinnerung von Sinneseindrücken dieser Art behalten zu haben. Nichts als das Tastgefühl war ihm geblieben. Laura Bridgman lebte für im ewig finsteren Grabe ihre Leibes, – ein Leben, wie es reicher, schöner den Mollusken und Strahlthieren beschieden ist. Ein menschenfreundlicher Arzt, Dr. Howe, nahm diese lebende Leiche bei sich auf und wusste sie nicht bloß zu erziehen zum vernünftigen Menschen, sondern sie auch durch Bildung ihres Geistes weit zu erheben über gewöhnliche Menschen. Sie wurde lebensfroh und in ihrer Art glücklich1). Wer kann, solchem Zeugnis entgegen, noch behaupten, dass das Vernunftleben des Menschen nur das nothwendige Resultat seines Sinnenlebens sei? Eine einzige Thatsache wie diese, hebt alle apriorische Behauptung des Gegentheils auf.
Dass die geistige Entwicklung des Menschen nicht in der Menge der empfangenen Sinneseindrücke allein begründet sein könne, muss jeder Denker zugeben. Wäre es so, dann fiele ja die Möglichkeit der Entwicklung von selbst hinweg, und die sinnlichen Eindrücke müssten sich zu Anschauungen, diese zu Begriffen, zu Urtheil und Schluss mit derselben Nothwendigkeit verbinden, wie etwa Chlorwasserstoffsäure und Natron zu Kochsalz. Ohne unser eigenes, geistiges Mitwirken, ohne jene selbstbewusste Intervention der Seele, welche Aufmerksamkeit heißt, kommt auch kein Bewusstsein der erhaltenen Eindrücke zustande, und was die Seele weiter mit diesen Eindrücken vornimmt, wie sie sich dieselben zurechtstellt, sie auslegt, verbindet, vergleicht, trennt, – kurz, wie sie denkt und sich dabei ihrer eigenen Denkgesetze bewusst wird, das eben schafft ihr ihre eigenste, unermessliche, körperlose Gedankenwelt.
[S. 28] Ist die Philosophie wirklich nichts mehr als die Ausgeburt einer träumerischen Phantasie? ist wirklich das äußere, sinnliche Object ein Reales, der Geist aber nichts als ein leerer Schirm, welcher äußere Eindrücke nur auffängt und zurückwirft, unfähig, aus sich selbst zu bilden die Idee? Gebet alles auf, was die größten Denker nicht aus den Sinnen, sondern aus sich selbst geschaffen und in den Besitz des Gedankens gebracht haben, und ihr habt auch der menschlichen Erkenntnis die schönsten Blicke auf das Übersinnliche genommen, welches aus der Welt des Idealen herüberleuchtet in die finsteren Zweifel unseres Daseins.
Der Geist kann sich in sich selbst zurückziehen, sich selbst anschauen, sich flüchten aus der Sinne Schranken in die Freiheit der Gedanken, – er kann die Bande seiner Wechselwirkung mit der Welt da draußen im Raume gänzlich lösen, wie in der Vision und ihrer Steigerung zur Ekstase. Wir brauchen die Belege dafür nicht zu suchen auf den Höhen von Camaldoli, nicht bei den Ascetikern im glühenden Sande der Thebais, nicht in der Secte der Convulsionnaires auf dem Kirchhof Saint-Médard; – die tägliche Erfahrung hat uns wie oft gelehrt, dass wir, vertieft in einen hinlänglich mächtigen Ideengang, die Dinge um uns her nicht wahrnehmen, nicht sehen, was uns begegnet, die Menschen, die uns grüßen, nicht kennen, und dennoch ans Ziel gelangen, als hätten wir alle Wahrzeichen unseres Weges aufmerksam beachtet.
Was soll es ferner heißen, wenn der Materialismus sagt: „Der neugeborene Mensch denkt deshalb nicht, weil er noch keine Sinnesseindrücke von außen erhalten und keine Erinnerung seines embryonischen Leben mit ins Dasein bringt, – er lebt körperlich, ist aber geistig todt.“ Man möchte eine solche Behauptung kaum einer ernsten Widerlegung würdigen. Ist der Neugeborene wirklich geistig todt, dann kann auch kein geistiges Leben je in ihm erwachen, so wenig als eine Leiche aus ihrem Todesschlafe wieder auflebt. Potentiell wenigstens musste [S. 29] das geistige Vermögen schon im Embryo vorhanden gewesen sein. Denn würde eine Kraft, welche ruht, auch nicht sein, so müsste die Seele auch in der Ohnmacht und im Scheintod abhanden kommen. Das Princip der physischen Thätigkeit und die Veranlassung seines Erwachens sind doch so wesentlich verschieden, dass ihre Substituierung kaum möglich scheint. Sicher ist es, dass die Seele nicht im Momente der Geburt wie ein himmlischer Gast einzieht in ihr irdisches Haus. Im Keime des Menschen musste sie schon virtuell bestanden haben, da sich beweisen lässt klar und scharf, dass sie nicht anerzogen, nicht angelernt ist. Sie kann dieses nicht sein, da unter ganz gleichen Bedingungen der Erziehung und aller übrigen auf die geistige Entwicklung der zu Erziehenden Einfluss nehmenden Potenzen, wie bei Kindern einer Familie, dennoch die verschiedensten Geistesrichtungen sich kundgeben und mit gebieterischer Macht sich Geltung zu erringen wissen, trotz aller Schranken äußerer Hemmnisse. Diese Verschiedenheiten werden doch gewiss nicht durch die Bemühungen einer gleichen Erziehung erzeugt. In der Eigenthümlichkeit primitiver Anlage liegt vielmehr das Maß der Möglichkeit, wie weit der bestimmende Einfluss der Erziehung reichen kann.
Auf einem ähnlichen Irrthum beruht die Verneinung der angebornen, moralischen und ästhetischen Ideen. Kein äußerer Eindruck überbringt und zugleich das Gebot, ihn so oder so zu schätzen. Der Maßstab, nach welchem diese Schätzung erfolgt, ist in einer in uns selbst prästabilierten Norm enthalten. Bei aller Verschiedenheit der Urtheile verschiedener Menschen über Gut und Schlecht, über Recht und Unrecht, über Edles und Gemeines, können wir doch nicht umhin, es anzuerkennen, dass die Ursache der Möglichkeit, das, was um uns her geschieht, nach einem gewissen Ideale gleichsam zu classifizieren, eine angeborene und primitive sei, ohne welche, bei aller Fülle des Erlebten und Empfundenen, ein Urtheil über seinen Wert [S. 30] nimmermehr zustande kommen könnte. Brächte die sinnliche Wahrnehmung dieses Urtheil selbst mit sich, so müsste es auch bei allen ein übereinstimmendes sein. Da es nun dieses nicht ist, wer will es noch wagen, die Verschiedenheit angeborner Anlagen zu bestreiten? Nicht minder unzulässlich muss man es erklären, diese Verschiedenheit durch Unterricht, Belehrung, Aufklärung sich entstehen zu denken. Woher hätte denn der erste Erzieher, der erste Lehrer, Richter und Gesetzgeber seine moralischen Ideen bekommen? Wenn Sympathie oder Liebe zu erstenmal zwei Herzen aneinander fesselt, wenn ein unnennbares Gefühl uns zur Sonne der Wahrheit hinzieht, jenes Sehnen nach Ausgleich der Widersprüche des Lebens in uns entsteht, die Bewunderung des Schönen und des Edlen uns zu menschenwürdigen Thaten begeistert, welche äußere Bedingung gieng denn diesen unwiderstehlichen Trieben voran?
Doch zugegeben, dass alle Ideen der Erfahrungsquelle entströmen, wie gelangte der Materialismus zu seiner Überzeugung, dass die Materie unerschaffen, unbegrenzt, ewig und unvergänglich ist? Sind dieses Erfahrungssätze? Sind dieses Folgen von Sinnesanschauungen? Wie kann etwas als Attribut der Materie angenommen werden, welches an ihr nie in die Erscheinung tritt? Für Unendlichkeit in auf- und absteigender Linie, für Unbegrenztheit in Zeit und Raum gibt es keine Empirie. Sie sind apriorisch, und der Materialismus lässt sich somit auf einem Gebiete, jenem der Metaphysik, überraschen, dessen Existenz zu bestreiten das Ziel seiner Bemühungen ist.
Ist aber die Materie ewig, dann müssen es auch ihre Kräfte sein. Wie stimmt dieses mit der weiteren Behauptung zusammen, dass nicht ein vorhergefasster, vernünftiger Plan, sondern die zufällige Begegnung der Stoffe der anorganischen Welt unter günstigen Umständen die Entstehung der organischen Wesen bedingte? Soll dieses gedachte Zusammenwürfeln des Stoffes wirklich die Ursache der Pflanzen- und Thierschöpfung sein, [S. 31] deren höchste Vollkommenheit uns mit Staunen und Bewunderung erfüllt? Lange, nachdem der Erdball aufhörte, als glühende Masse durch den Weltraum zu rollen, wurde er von Thieren und Pflanzen bevölkert. Wie sind sie entstanden? Aus den Kräften der Materie, sagen sie.
Aber die Materie und ihre Kräfte sind ja ewig. Wieso kam es, dass sich die organisierende Kraft erst so spät zu äußern begann, und von wo sind die Bedingungen ihres Erwachens gekommen? Diese Kraft ist, wie sie ferner sagen, unveränderlich, immutabel. Sie muss also auch jetzt noch wirken. Warum ereignete sich also das zufällige Zusammengerathen der Stoffe nur einmal, bei der Entstehung der organischen Welt? Warum entsteht unter unseren Augen nichts Organisches mehr primitiv, und warum hat die Zeugung aus dem Ei die spontane, elternlose Urzeugung gänzlich verdrängt? Warum haben sich die einfachsten, niedrigsten Formen erst mit dem zunehmenden Alter der Erde zu vollkommeneren Organismen emporarbeiten können, und warum finden sich ihre lebenden Verwandten auch in der jetzigen Epoche der organischen Welt noch vor, da sie doch ihre Rolle als Durchgangsphasen (im Sinne Darwins) ausgespielt und somit ohne weitere Bestimmung, also zwecklos, erscheinen müssen?
Was soll ich endlich von dem Schlusssatze des Materialismus sagen, welcher lautet: „Die Seele, welche sich mit dem materiellen Substrat des Gehirns entwickelt, vergeht auch mit ihm; – mit dem Zerfall der Hirnstoffe hört auch ihr geistiger Krafteffect auf. Zertrümmert die Uhr, sie zeigt keine Stunde mehr; zerbrecht die Maschine, sie ist ein Haufen verwendungslosen Stoffes, ohne Sinn und ohne Zweck.“ Das heißt klar und verständlich gesprochen. Aber eben der gewählte Vergleich führt zu etwas anderem, als ihm zugemuthet wird. Denn es bleibt von der zertrümmerten Uhr mehr übrig als ihr Metall. Es bleibt der Gedanke, welcher die Uhr erfinden ließ, die Idee, welche nicht [S. 32] vergeht, wenn alle Uhren der Welt vernichtet würden, und welche den Stoff zu neuen Uhren wird wieder finden lassen. Denn die Uhridee ist nicht der Effect des Uhrstoffes, sondern das Princip seiner nützlichen Verwendung, wie denn der Mensch nicht ist der Effect seines Fleisches und Blutes, sondern der Repräsentant des Gedankens, welcher sich eben durch diese vorhandene Stoffcombination im menschlichen Leibe räumlich kundgegeben hat. Dieser Gedanke existierte vor dem Menschenstoff und wird auch nach ihm bleiben. Er ist unsterblich.
Hätte der menschliche Embryo Vorstellung und Bewusstsein seines Aufenthaltes im mütterlichen Eingeweide, welches für seine Erhaltung, Ernährung und Reife sorgt, er würde den Augenblick, wo diese Form seines Daseins aufhörte, seine schützenden Hüllen bersten, das Medium, in dem er lebte – das Fruchtwasser – verschüttet wird, die Quelle seines Lebens, die Blutzufuhr, versiegt, und so viele seiner Organe, durch welche er bisher seine Existenz aufrecht erhielt, stille stehen und vergehen, er würde, sage ich, den Augenblick seiner Geburt, der sein ganzes Dasein vom Grunde aus und in allen seinen Bedingungen aufhebt, als seine Todesstunde fürchten, – und doch ist dieser Augenblick nur der erste Moment eines neuen, höher potenzierten Lebens.
Ich fühle, wie wenig es der Wissenschaft ansteht, im Gleichnis zu reden. Aber Sinn und Bedeutung des Gewählten liegt so nahe, dass die Natürlichkeit des Gedankens seine Wahl entschuldigen mag. Während Wahrheit, ja Untrüglichkeit im Instincte des Thieres liegt, soll die Sehnsucht nach Fortdauer, die ebenso positiv und allgemein existiert und sich ebenso wenig wegleugnen lässt wie der Instinct, nur zur Qual uns beschieden worden sein? – Bei dieser Frage steht die Wissenschaft an der Grenze ihrer Macht, es wird still im kühnsten Forschergeist, – der Glaube tritt in seine heiligen Rechte; – der Glaube, den die Wissenschaft nicht beweisen und nicht widerlegen, wohl aber seinen Gegensatz als nicht objectiv und begründet in der Natur [S. 33] der Dinge aufzeigen kann. Werft ihn von euch, und der Selbstmord eurer Seelen macht aus dem stolzen Herrn der Schöpfung ein unseciertes anatomisches Präparat, – ein Häuflein stickstoffreichen Düngers für den Acker. Er ist denn auch nichts mehr als das erste Säugethier der Schöpfung, nur etwas schlimmer daran als alle seine Verwandten, da er es noch lernen muss, zu leiden ohne Trost, zu klagen ohne Rettung, und, wenn er glückliche Tage nicht gekannt, zu verzweifeln und zu sterben ohne Hoffnung1).
Ich will nicht tiefer eingehen in die Fülle der sich mir aufdrängenden Gedanken. Alles, was ich in flüchtigen Worten berührt, weiset auf eine letzte über den Sinnen stehende Abstraction des Denkens hin, und diese führt zur Gottesidee und ihrem Ausfluss, der menschlichen Seele. In meinen Denkgesetzen liegt ihre Wahrheit, ihre Nothwendigkeit, wenn auch irgendwo auf diesem weiten Erdenrund ein Mensch, ein Buch es anders haben will. Für das Unmögliche gibt es kein Erkennen, wie für das Absurde keine Wissenschaft.
Wir mögen es dem Astronomen verzeihen, als er auf die Frage des großen Schlachtenkaisers: warum er in seiner Mechanik des Himmels den Namen Gottes [S. 34] nicht genannt, antwortete: Sire, l’astronomie n’a pas besoin de cette hypothèse. Der Gelehrte kann ja über der Anerkennung und Anwendung der Gesetze des Himmels den Namen ihres Gebers vergessen haben. Linné und Haller, Cuvier und Owen haben anders gesprochen. Sie erkannten es, dass allem Organischen im Verlauf seiner Entwicklung ein Gesetz der werdenden Gestaltung, ein vernünftiger Plan, also ein Gedanke innewohnt, und dieser setzt doch ein Denkendes voraus, und kann somit auch nicht in der Materie selbst gelegen sein, da er gerade ihre Umwandlungen beherrscht, deren jede uns als Wirkung der vorhergehenden und als Ursache der nächstfolgenden erscheint. Sie vergaßen es sofort auch nicht, die Scenen von Wunder und Staunen, welche die organische Welt vor unseren Augen aufschließt, einer höchsten, immateriellen, mit Selbstbewusstsein handelnden Ursache zuzuschreiben, von welcher wir nichts begreifen als die Nothwendigkeit ihrer Existenz, – einer Ursache, in welcher nicht bloß die Inbrunst des Gebetes, auch die zugemessene Kraft der wissenschaftlichen Forschung einen höchsten Geist verehrt. Dieser erste in unser Bewusstsein fest eingelassene Ring fehlt an der langen Kette von Schlüssen, welche der Materialismus so geschickt aneinanderzufügen verstand. Sein Schifflein treibt vor dem Winde. Setzet diesem Geiste entgegen die pantheistische Vergötterung des Stoffes, der nicht weiß, wie er sich zu Thier oder Pflanze verbinden soll, noch weniger die Freiheit der Wahl besitzt, sich für das eine oder für das andere zu entscheiden, – welch denkender Mensch kann sich mit solcher Annahme zufrieden geben!
Wird aber der Materialismus definitiv zu dem erhoben, was er zu werden beansprucht, dann achtet auch auf seine unabweislichen Folgen. Das theuerste Gut unseres Selbst, unsere Sitte, ist nur der unberechtigte Ausfluss säcularer Irrthümer, – unsre Civilisation nur die nothwendige Folge unserer Selbstsucht, keine Entwicklung menschenwürdiger Principien, [S. 35] denn es gibt nichts auf Erden, an dem unsere Liebe, unsere Hingebung, unsere Verehrung nicht verschwendet wären. Die Idee eines höchsten Wesens wird zur kopflosen Angst vor Naturgewalten, der Glaube eine Phantasie, die man gewähren lassen kann, weil sie im Grunde nicht schadet, – die Moral ein nur dem Pöbel einzuimpfendes System von Einbildungen, sehr klug erfunden und sehr nothwendig, um die Massen hübsch fügsam und ordentlich am schweren Karren des Lebens ziehen zu lassen bis zu Ende, – das Gewissen die stillschweigende Anerkennung der Paragraphe des Strafgesetzbuches, – der Lebenszweck sinnlicher Genuss des Augenblickes ohne Pflicht, ohne Verdienst, ohne Würde, – die Begeisterung des Genies, die Inspiration der Kunst, die herrlichen Triumphe der Wissenschaft nichts weiter als eine Art von hitzigem Fieber des Gehirns, – die edlen Triebe des Menschenherzens alle thierische Instincte, geschmiedet in die Fessel der Unfreiheit und Nothwendigkeit.
Lasset diese trostlose Lehre Wurzel fassen in den Gemüthern des rohen Haufens; sendet ihre Apostel aus zu den tausenden und tausenden, für welche die Zustände der menschlichen Gesellschaft nur Arbeit, Entbehrung und den Typhus des Hungers in Bereitschaft haben, und sehet zu, welch Menschenglück mit ihr zu holen.
Nicht mit drakonischen Gesetzen des politischen Rechts, nicht mit der Souveränität des Volkswillens wird Auflösung und Zerfall aller menschlichen Institutionen zu verhüten sein. Hört auf die Lehre der Geschichte. Sie ist nicht neu. Solche Zustände sind aus gleicher Ursache schon vorhanden gewesen. Die Revolution hat zu allen Zeiten ihre thätigsten Agenten in ihnen gefunden. Lasset ihr den Zügel frei, und sie wird wie damals die Anarchie, den Aufruhr, die Emeute in Permanenz, den Verrath und den politischen Mord, das Laster und das Verbrechen in seiner hässlichsten Form, die Gemeinschaft und die Gleichheit des Besitzes von Gütern und Personen, Polygamie und Blutschande als die Magna Charta der [S. 36] Menschenrechte proclamieren1); – sie wird wie damals vor allem die heiligen Symbole des Glaubens von den Altären stürzen und an ihre Stelle als Göttin dieser Vernunft aufpflanzen eine fille de l’Opéra mit der phrygischen Mütz‘ und dem olympischen Speer; – sie wird wie damals durch die bluttriefenden Horden der Egorgeurs die Asche ihrer Könige in die Cloaken werfen und mit der grauenvolle Hymne der Carmagnole dem mündig gewordenen Volke verkünden die Freiheit – der Schreckensherrschaft, die Gleichheit – des Elends, die Brüderlichkeit – die mit Maschinen beschleunigte, die blutige Arbeit des Henkers2).
Sehet dagegen hin auf jenen Fortschritt der Aufklärung, der im Gefolge der sittlichen Veredelung des Menschen kommt, – auf die in solchem Boden wurzelnde staatliche Wohlfahrt, die den Bürger frei, das Volk groß und mächtig, die Menschen glücklich werden heißt, – lasset die Stimme von Erz, die aus unserer innersten Brust heraus unsere Verwandtschaft mit den Geistern verkündet, nicht ungehört verhallen, und jeder wird es, jeder muss es fühlen, dass es nicht Irrthum und nicht Lüge sein kann, worauf der Segen der Cultur und durch ihn der Vorzug der menschlichen Gesellschaft vor der thierischen Herde beruht.
Fasse ich, zum Schlusse eilend, das Gesagte zusammen, so kann ich mir nicht erklären, welche wissenschaftlichen Gründe das Wiederaufleben der alten, materialistischen Weltanschauung des Epikur und Lucrez in Schutz nehmen oder rechtfertigen und ihr eine allgemeine und bleibende Herrschaft zusichern sollen. Beobachtung und Erfahrung sprechen heute nicht mehr als damals zu ihren Gunsten, und die mit Recht so gepriesene exacte Methode der [S. 37] Naturwissenschaften hat nichts gebracht, ihre Haltbarkeit zu vermehren. Sie ist, was sie damals war, eine Ansicht, keine cognitio certa ex principiis certis, wie der römische Redner die Wissenschaft definiert. Ihre Erfolge beruhen nicht auf der Klarheit und Unangreifbarkeit ihrer Argumente, sondern auf der Kühnheit ihres Auftretens und dem herrschenden Geiste der Zeit, welcher Lehren dieser Art um so lieber popularisiert, je gefährlicher sie der bestehenden Ordnung der Dinge zu werden versprechen. Zu einem bleibenden Siege des Wissens hat es der erdgeborne Titan des Materialismus nicht gebracht und wird es auch nicht bringen, so lange die ernste Wissenschaft sich nicht selbst aufgibt, und sie deren Stärke und Macht auf Grund und Boden sicher, gestellter und wohlverstandener Thatsachen beruht, nicht dem Götzen der Meinung opfert und ihre eigene Sache für verloren hält1).
Kann aber die Wissenschaft es mit dem stolzen, so oft besiegten und dennoch nie vernichteten Gegner aufnehmen, o! dann sehet nicht mit scheuen Blicken auf das Treiben des Naturforschers. Auch er ist ein Priester der Wahrheit, dann um mit des Dichterfürsten Worte zu schließen:
Willst du zuletzt zum Unendlichen schreiten,
Dann geh‘ vorerst im Endlichen nach allen Seiten.
[S. 38] Ich konnte bei dem Reichthum des gewählten Gegenstandes keine Vollständigkeit seiner Behandlung anstreben. Ein streng wissenschaftlicher Vortrag hätte anders, minder dialectisch lauten müssen. Ich wollte nur die Beweisbarkeit der materialistischen Ansichten bestreiten und in Worte ausgießen meine Überzeugung, die ich nicht aufgeben und nicht entstellen kann, die in mir so laut, so gebieterisch spricht, dass ich sie in die Form dieser Rede zu fassen mich entschlossen habe, – dieser Rede, von welcher ich zu hoffen wage, sie möge der Universität, an die sie gerichtet war, nicht unwert erscheinen, von ihrem Rector in der ersten feierlichen Stunde seines Amtsantrittes gesprochen worden zu sein.
Und so möge es mir gegönnt sein, also zu handeln mein Amt, dass der Rectorswürde uralter Glanz und Herrlichkeit, die so viele würdige und gelehrte Männer vor mir schmückte, sich in meinem Besitze nicht verringere, sondern reicher sich entfalte zur Freude aller, deren Herzen für unsere Alma Mater schlagen, die mich mit ihrem Wohlwollen beglückt und deren ehrendes Vertrauen ich erwidern werde mit der Entschlossenheit dankbaren Pflichtgefühls.
Anmerkungen
[S. 12] 1) Einige sehr lehrreiche Fälle von Hirnverwundung habe ich im ersten Bande meines Handbuches der topographischen Anatomie (5. Auflage) § XVII angeführt. In Burdachs „Bau und Leben des Gehirns“, sowie in den [S. 13] physiologischen Handbüchern von Longet, Bernard etc. können deren mehr nachgesehen werden. Sehr beachtenswert ist der von Volkmann (Die Physiologie als Gegnerin der Lehre des Materialismus, Dorpat 1838, pag. 18) angeführte Fall eines versuchten Selbstmordes durch Erschießen.
[S. 15] 1) Diese wenigen Beispiele lassen sich durch vergleichende Durchsicht von Münz- und Porträtsammlungen bedeutend vermehren. Der Schädel Cromwells befindet sich im anatomischen Museum zu Oxford. Welche geistige Begabung spricht aus der Volkspoesie der Südslaven, deren kleine, brachycephalische Schädel mit jenen der Bulgaren, Tscheremissen und Tschuwaschen so auffallend contastrieren. Die Schädel aus römischen und etruskischen Gräbern, aus Cumae, aus Pompeji, aus der Akropolis, welche ich in meiner Sammlung aufbewahre, sind sämtliche kleiner als jener eines Ural‘schen Kosaken. Die Keltenschädel aus Glocknitz und Hallstadt, wie sie mit rohen Steinwaffen und Bronzegeschmeide gefunden wurden, sind, was das Volumen ihrer Hirnschale betrifft, anatomisch weit schöner als das Cranium eines Krainers aus Gotschee, welcher als Kaufmann es zum ziemlichen Wohlstand brachte. Der Neanderthalschädel aber, dessen pithecoide Form für die Vetterschaft [S. 16] zwischen Mensch und Affe so vielfältig zur Zeugenschaft berufen wurde, ist, aller Wahrscheinlichkeit nach, eine auf Synostosis praecox der Nähte zwischen Stirn-, Keil und Seitenwandbein beruhende Formanomalie (J. Bernard Davis, The Neanderthal Skull, its peculiar conformation anatomically explained, London 1864). Das Cranium Batavi genuini in den Blumenbach‘schen Decaden und der im Musée Vrolik, Amsterdam 1865, pag. 7, beschriebene Schädel mögen es bezeugen, dass die Affenstirn und die großen Arcus superciliares (welche überdies am Neandertalschädel hohl, bei den Affen aber solid sind) auch an Menschen unserer Zeit vorkommen. Unstreitig ebenso alte, ja noch ältere Schädel differieren von den jetzt herrschenden Formen der Hirnschale nur sehr wenig oder gar nicht. So z. B. der im Delta von Neu-Orleans aufgefundene Menschenschädel, welcher unter einer zehnfachen Lage von Baumstämmen, deren Alter von Dowler auf 158.000 Jahre berechnet wurde, vergraben lag. Sieh hierüber den Aufsatz von Professor Mayer in Bonn, im Archiv für Anatomie und Physiologie, 1864, pag. 696.
[S. 17] 1) Zahlreiche Messungen und Wägungen, in Tabellen geordnet, gibt E. Huschke, Schädel, Hirn und Seele, Jena 1854, pag. 57 seqq.
2) Tabellen bei Huschke, op. cit. 119, 129.
[S. 18] 1) Hiermit erledigt sich, was H. Huxley über die geistige Verwandtschaft und Verschiedenheit von Mensch und Affe geäußert hat. (On the relations of man to the lower animals, pag. 96, in dessen: Evidence as to man’s place in nature, London 1863.)
[S. 19] 1) Leider entbehren die hieher gehörigen Angaben der Autoren jener Schärfe und Präcision, wie sie ein Gegenstand von solcher Wichtigkeit erheischt. Welchen Veränderungen unterliegt, innerhalb physiologischer Grenzen, das Körpergewicht eines und desselben Thieres? So wurde z. B. dieses Verhältnis bei der Katze als 1:156, und auch als 1:82 angegeben, und beide Beobachtungen können richtig sein. Nur jene Daten sind von Wert, welche sich als die Mittel zahlreicher und unter ganz gleichen äußeren und inneren Verhältnissen angestellter Beobachtungen an Thieren derselben Art, desselben Alters und Geschlechtes ergeben haben. (Cuvier, Leçons d’anatomie comparée, Tome III, pag. 77 seqq.)
[S. 25] 1) Umständlich geschildert in Richets Traité pratique d’anatomie médico-chir. P. I., Paris 1855, pag. 253.
2) J. H. Klemme, Von der Heiterkeit des Geistes bei einigen Sterbenden, Halle 1774.
3) Rokitansky, Zur Orientierung über Medicin, Wien 1858, pag. 19,20.
[S. 27] 1) Der Fall ist ausführlich beschrieben in Ch. Dickens, American notes, Tauchn. Edit, pag. 36, seqq.
[S. 33] 1) Ich will es nicht unterlassen, hier die edlen Worte eines der geachtetsten Naturforscher anzureihen: „Die Naturwissenschaft, hört man äußern, zerstört den Glauben. Wie feige und klein! Denkvermögen und Glaube sind dem Menschen angeboren wie Fuß und Hand. Der Glaube ist sogar das Vorrecht des Menschen vor dem Thiere, bei welchem Regungen des Denkvermögens nicht zu verkennen sind. Wird er seine Rechte nicht zu bewahren wissen? Nur darauf kommt es an, dass jede geistige Kraft auf das Gebiet geleitet wird, für welches sie bestimmt ist. Es wäre Verrücktheit, mit der Hand auf den Boden zu treten, mit dem Fuße die Axt fassen zu wollen. Sollte es viel weiser sein, den Gedanken nicht dahin gehen zu lassen, wohin der strebt?“ C. E. v. Baer, Das allgem. Gesetz der Natur, in dessen: Gesammelten Reden. Petersburg, 1864, pag. 73.
[S. 36] 1) Wer Belege hiezu wünscht, findet sie in dem Gemälde der Sitten und Charaktere, welches Lamartine in der „Histoire des Girondins, Édit. Brux. I. IV“, gegeben hat.
2) Égalité, Liberté, Fraternité, die Devise der französischen Revolution.
[S. 37] 1) J. Froschamer, Menschenseele und Physiologie. München, 1855. Jul. Frauenstädt, Der Materialismus, seine Wahrheit und sein Irrthum. Leipzig, 1856. J. L. Meyer, Der Streit über Leib und Seele. Hamburg, 1856. K. Carnier, Der heutige Materialismus vom sittlichen, rechtlichen und socialen Standpunkt. Würzburg, 1858. A. Mayer, Zur Verständigung über Materialismus und Spiritualismus. Gießen, 1861. Th. Ruete, Über die Existenz der Seele, vom naturwissenschaftlichen Standpunkte. Leipzig, 1863. J. Schleiden, Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft. Leipzig, 1863. E. Scuhr, Über Empfindung und Bewegung zur Erläuterung des Verhältnisses zwischen Leib und Seele. Celle, 1865.
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