Habsburgermonarchie
Schon seit jeher wurde alltags- und berufsspezifisches Wissen auf informellen Wegen weitergegeben. So lernten in alteuropäischen Gesellschaften Erwachsene unter anderem in religiösen Gesellschaften und Bruderschaften, aber auch in beruflichen Korporationen wie etwa in Gilden, Zünften oder landwirtschaftlichen Gesellschaften.
In den absolutistischen Staaten Europas des 17. und 18. Jahrhunderts bestand jedoch eine strikte Kontrolle des „Herrschaftswissens“. Die Folge davon war der Ausschluss der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit von Schriftkultur und höherer Bildung. Das explizite Bildungsziel des aufgeklärten Absolutismus der Habsburgermonarchie des 18. Jahrhunderts war es, die Untertanen zu „herzlich guten, lenksamen und geschäftigen Menschen“ zu erziehen.
Infolge des Siegeszugs der modernen Naturwissenschaften und der industriellen Revolution wurde das Wissen über die Geheimnisse in Natur und Technik zum Signum des „Maschinenzeitalters“ des 19. Jahrhunderts. Der Glaube an die rationelle und technische Beherrschbarkeit der Welt verbreitete sich in allen Bevölkerungsschichten. Doch das öffentliche Bildungswesen der Habsburgermonarchie blieb demgegenüber höchst defizitär. Die Aufsicht über das Schulwesen lag in den Händen der katholischen Kirche, wodurch die Vermittlung von Bildungsinhalten auf eine kirchlich-konservative Gesinnung reduziert blieb.
Liberale Schulgesetzgebung und Vereinsgesetz als Grundlagen der frühen VolksbildungDie Bildungspolitik um die Mitte des 19. Jahrhunderts entsprach somit bei weitem nicht den Anforderungen von Industrie, Handel und Gewerbe, aber auch nicht mehr den Anforderungen an eine moderne staatliche Verwaltung und eine moderne Kriegsführung. Vor dem Hintergrund von außenpolitischen und militärischen Niederlagen gegen Italien und Preußen konnte der politische Liberalismus in Österreich 1869 das so genannte Reichsvolksschulgesetz und damit die allgemeine Unterrichtspflicht bis zum 14. Lebensjahr erkämpfen. Dies stellte einen bildungspolitischen Meilenstein und die Initialzündung für das gesamte Bildungswesen in der Habsburgermonarchie dar.
Zeitgleich dazu wurde mit dem Vereinsgesetz von 1867 ein weiteres Hemmnis für die Bildungs- und Weiterbildungsfähigkeit weiter Teile der Bevölkerung aus dem Weg geräumt. Mit der Möglichkeit zur Organisation in (Bildungs-)Vereinen wurden die bislang nur punktuellen, schicht- beziehungsweise berufsspezifischen Weiterbildungsmöglichkeiten auf eine organisatorisch breitere und tragfähigere Basis gestellt. Die Zahl der Vereine stieg nun beträchtlich an. Nach und nach konstituierten sich in vielen größeren Städten, aber auch in kleineren Orten lokale Volks- und Arbeiterbildungsvereine, aber auch Volksbüchereien, Leseclubs, Lesehallen, bäuerliche Casinos, Fortbildungs- und Gesellenvereine.
Mannigfache Initiativen zur Popularisierung von WissenschaftDaneben popularisierten liberal gesinnte Wissenschafter – wie etwa der Anatom
Carl Bernhard Brühl oder der Paläontologe
Eduard Suess – neben ihrer Tätigkeit an der Universität ab den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts in öffentlich zugänglichen Vorträgen, später auch in Vortragszyklen, über viele Jahre hinweg ihr naturwissenschaftliches Fachwissen.
Nicht zuletzt dank dieser mannigfachen Initiativen von Einzelpersonen außerhalb und innerhalb der verschiedenen Bildungsvereine schritt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Entzauberung der Welt – wie sie durch die Einführung von Dampfkraft, Mikroskop und Elektrizität eingeläutet wurde – stetig voran. Das Modell einer rational erklärbaren Welt richtete sich gegen den vormodernen Aberglauben: „Wissen“ wurde zum Zauberwort für die neue Zeit; auch wenn viele Menschen der unteren sozialen Schichten und vor allem Frauen von den Tempeln dieses Wissens ausgeschlossen waren.
Vor diesem Hintergrund entfaltete sich eine vom aufgeklärten bürgerlichen Liberalismus getragene Bildungsbewegung, deren Ziel es war, Bildungsangebote nach Möglichkeit allen Bevölkerungsschichten offerieren zu können: Das ganze Volk sollte erfasst, die Bildung des gesamten Volkes mittels „Volksbildung“ gehoben werden.
Von der Peripherie ins ZentrumDiese weltanschaulich neutrale, wenn auch vom bürgerlich-liberalen Geist durchdrungene Volksbildungsbewegung ging interessanterweise nicht von der Metropole, sondern von der Peripherie aus: Ihr Ausgangspunkt war Graz, wo 1870 der
„Steiermärkische Volksbildungsverein“ gegründet wurde. Bald darauf folgten 1872 der
„Oberösterreichische Volksbildungsverein“ in Linz und 1885 der
„Niederösterreichische Volksbildungsverein“ in Krems. In dessen Rahmen entstand 1887 der Zweigverein für Wien und Umgebung, der sich 1893 als
„Wiener Volksbildungsverein“ verselbständigte.
Zu diesen gesellten sich Arbeiterbildungsvereine in nahezu allen größeren Städten, aber auch in kleineren Orten der Monarchie. Als Manifestation der Arbeiterbewegung erkannten sie in der Massenaufklärung ein konkretes politisches Gestaltungselement. Daneben bildeten sich katholische Gesellenvereine, die vor dem Hintergrund der sozialen Problematik der Handwerkergesellen in der aufkeimenden Industriegesellschaft entstanden waren. Sie zielten auf eine Existenzhilfe für junge Handwerker, aber auch auf eine Reform ihrer Gesinnung und verfolgten neben religiösen und sozialpädagogischen auch ausgesprochen volksbildnerische Zielsetzungen.
Volksbildung als kompensatorische BildungDiese auf freiwilliger Basis initiierte, ideologisch-politisch, sozial und später auch national aufgefächerte Volksbildungsbewegung hatte eine zweifache Kompensationsfunktion zu erfüllen: einerseits die schlecht oder überhaupt nicht vermittelte Schulbildung nachzureichen, andererseits die Vermittlung von universitärem und wissenschaftlichem Wissen an interessierte Laien zu gewährleisten. Dabei sollte das bisher exklusive Wissen für „alle“ Menschen eines Volkes popularisiert werden.
Einen Höhepunkt erlangte die Volksbildungsbewegung in Wien, wo – initiiert von fortschrittlich gesinnten Universitätsprofessoren und Universitätsdozenten – sogar eigens dafür geschaffene Volksbildungshäuser („Volkshochschulen“) errichtet wurden. Diese Volkshochschulen entwickelten sich in der ausgehenden Habsburgermonarchie zu Laboratorien alternativer Wissens- und Wissenschaftsvermittlung. In ihnen wurden Konzepte eines modernen und egalitären Lehrbetriebs in die Praxis umgesetzt, was an den Universitäten des Landes damals nicht möglich war.
Volksbildung und NationalismusDie Hochblüte der Volksbildungsbewegung seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg war vom „nationalen Erwachen“ der verschiedenen Nationalitäten der Habsburgermonarchie begleitet. Die nationalen Spaltungen und Gegensätze bildeten sich so auch in den Volksbildungsbemühungen ab. In den gemischtsprachigen Gebieten Böhmens, Mährens und Schlesiens – wo sich deutscher und tschechischer Nationalismus gegenseitig emporschaukelte – sind die Gründungen von Volksbüchereien und Volksbildungshäuser durch das deutschsprachige Bildungs- und Besitzbürgertum auch unter diesen „nationalpolitischen“ Gesichtspunkten zu interpretieren. Bereits lange vor 1918 verliefen das deutsche und das tschechische Volksbildungswesen parallel, nebeneinander und nicht miteinander.
Bildungsexpansion und ihre GrenzenInsgesamt gesehen war das Volksbildungswesen in der Habsburgermonarchie – abgesehen von seinen stets knappen finanziellen Ressourcen – in seiner Entwicklung vom Idealismus und der Organisationsgabe seiner führenden Initiatoren abhängig. Wohl oder Scheitern war in der frühen Volksbildung wesentlich an die Initiative einzelner Personen gebunden, auch wenn oft Vereine als Träger der Volksbildung fungierten.
Je umfassender aber die Bildungsziele der Volksbildungsvereine und Volksbildungseinrichtungen wurden, umso stärker bekamen sie ihre materiellen Grenzen zu spüren. Insbesondere merkten sie dies, als im Gefolge des Ersten Weltkriegs ihre Mitgliederzahlen deutlich zu sinken begannen. So verlangten Volksbildner bereits Ende 1916 die Schaffung einer staatlichen Zentralstelle für das freie Volksbildungswesen. Eine diesbezügliche Denkschrift wurde dem zuständigen k.k. Unterrichtsministerium vorgelegt. Damit wurde die Richtung angezeigt, in die das Volksbildungswesen in der Ersten Republik gehen sollte.
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