An den verheerenden Folgen des Ersten Weltkriegs war der Fortschrittsoptimismus des politischen und gesellschaftlichen Liberalismus zerstoben. Der Zerfall der Habsburgermonarchie und die brennenden ökonomischen und identitätspolitischen Probleme des neuen Kleinstaates „Deutschösterreich“ wurden auch für die Volksbildung zu einer schweren Bürde.
Volkbildung durch Volksbildung?
Die Volksbildungseinrichtungen waren durch den Krieg organisatorisch und finanziell geschwächt. In der neu geschaffenen Republik stießen sie auf eine veränderte Situation für ihre Bildungsarbeit. Die VolksbildnerInnen der jungen Republik waren aufgefordert, am politischen und kulturellen Neubeginn des Landes mitzuarbeiten.
Andererseits existierte – gleichsam als Nachwirkung aus dem Ersten Weltkrieg – die Orientierung an einer Kultur- und Schicksalsgemeinschaft mit dem gesamten deutschen Volk, die zu einer Anlehnung an Entwicklungen im Deutschen Reich mit der dort bestehenden, so genannten „neuen Richtung“ in der Volksbildung führte. So forderte etwa die „Deutsch-österreichische Volksbildnertagung“ in Braunau am Inn im Herbst 1920 eine Abkehr von der rein wissenschaftlichen Wissensvermittlung hin zu einer auf den ganzen Menschen ausgerichteten Volksbildungsarbeit. Ziel sollte neben der kognitiven Schulung die emotionale Förderung sein, bei der auch die manuellen Fertigkeiten nicht zu kurz kommen würden. Zugleich sollte der Mensch zur „Gemeinschaft“ erzogen werden. Die ideologischen, weltanschaulichen und konfessionellen Spaltungen des Volkes sollten in einer „geistigen Volksgemeinschaft“ überwunden werden.
Weltanschaulich gespaltene Volksbildung
Auch wenn bis zur Zerstörung der ersten österreichischen Demokratie die „Wiener Richtung“ der weltanschaulich-neutralen und akademischen Bildungsarbeit dominant blieb und nicht – so wie in Deutschland unter dem Einfluss der „Neuen Richtung“ – verstärkt deutsch-völkische und teilweise auch irrationale Strömungen in den Vordergrund rückten, erschütterten schwere politisch-weltanschauliche Kämpfe die gesamte Zeit der Ersten Republik.
Die Gegensätze zwischen dem christlichsozialen und dem sozialdemokratischen Lager wurden auch auf kultur- und bildungspolitischem Gebiet sowohl im Schul- als auch im Volksbildungsbereich ausgetragen. Die ideologischen Spannungen zwischen „Konkordatsschule“ und „Arbeitsschule“, zwischen „wissenschaftlicher Weltauffassung respektive Volksbildung“ und „christlich-katholischer Gemütsschulung“ bildeten sich auch in dem geografisch-kulturellen Gegensatz zwischen christlichsozialem, „schwarz“ regiertem Land und dem „roten Ghetto“ der sozialdemokratisch regierten Großstadt Wien ab.
Nach dem Bruch der großen Koalition zwischen christlichsozialer und sozialdemokratischer Partei im Jahre 1920 blieben die gesellschaftlichen Reformbemühungen auch in der Bildungspolitik auf das „Rote Wien“ reduziert.
Staat und Volksbildung
Zum ersten Mal in der Geschichte der Volksbildung in Österreich versuchte nun der Staat ordnenden Einfluss auf das Volksbildungswesen zu erlangen. Unter der nur kurz währenden Amtszeit des Unterstaatssekretärs für Unterricht Otto Glöckel wurde im Jahr 1919 ein „Regulativ“ als Verordnung erlassen. Dieses sollte den Grundstein zu einer neuen Organisation des Volksbildungswesens darstellen. Gesellschaftspolitisches Hauptziel war es, der Arbeiterschaft durch Schaffung einer systematischen Volksbildungsmöglichkeit Gelegenheit zu einer weiterführenden Ausbildung zu geben.
Künftighin sollte dem Unterrichtsministerium die oberste Leitung und Beaufsichtigung des gesamten Volksbildungswesens in Österreich zukommen. Die konkrete Umsetzung sollte ein dem Ministerium unmittelbar nachgeordnetes „Volksbildungsamt“ erfüllen. Dieser Zentralstelle wurden in den einzelnen Bundesländern „Landesreferenten für das Volksbildungswesen“ untergeordnet. Diese wiederum sollten die Gründung örtlicher Bildungsorganisationen anregen sowie bestehende Volksbildungseinrichtungen unterstützen.
Diesen Amtsträgern wurden regional gegliederte, beratende Körperschaften zur Seite gestellt, die so genannten „Bildungsräte“. Diese verkörperten ein demokratisches Pendant zu den neuen hierarchischen und etwas schwerfällig-bürokratischen Einrichtungen staatlicher Volksbildung und sollten den VolksbilderInnen sowie der breiten Bevölkerung eine Mitsprachemöglichkeit sichern.
Das „Regulativ“ stieß freilich auf Kritik des rechten Lagers. Über die Bestellung der „Landesreferenten“ hatten die politischen Parteien zu entscheiden, und so erfolgte deren Ernennung nur schleppend. Die Tätigkeit der „Ortsbildungsräte“ erlosch bereits nach wenigen Jahren. Nicht zuletzt war der finanzielle Beitrag des Staates zur Volksbildung ein nur bescheidener.
Schließlich machten die Bildungseinrichtungen der verfeindeten politischen Lager die Zielsetzungen des „Regulativs“ endgültig zunichte, bevor der latente und 1934 schließlich offen geführte Bürgerkrieg zwischen der autoritären politischen Rechten und der die Demokratie verteidigenden Linken das Ende der Ersten Republik besiegelte.