„Eines Tages war mein Entschluß gefaßt. Ich wollte das Elend selbst in seinen Schlupfwinkeln aufsuchen. Wollte es sehen ohne Maske in seinem wahren Zustand.“ (Aus: Emil Kläger: Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens. Ein Wanderbuch aus dem Jenseits, Wien 1908.)
Was bewegte Kläger, sich mit der anderen Seite Wiens auseinanderzusetzen? In seinem Buch schildert er eine Begegnung mit einem Schulfreund, der, obwohl er aus begütertem Haus stammt, keinen Erfolg im Leben hat, schlimmer noch: immer tiefer fällt und schließlich ganz unten ankommt. Kurz darauf begeht er Selbstmord. Diese Verzweiflungstat löst in Kläger etwas aus, nämlich die Neugier nach den Ursachen dafür, warum Menschen aus der Gesellschaft ausscheiden, freiwillig oder unfreiwillig auf die schiefe Bahn geraten, oder „nur“ aus dem Wohlstand herausfallen. Ob es diese Begegnung und diesen Selbstmord tatsächlich gegeben hat, ist nicht bekannt. Kläger wollte vielleicht mit dieser, möglicherweise fiktionalen Begegnung einen autobiographisch-„authentischen“ Einstieg in seine Geschichte finden, die ein ganz besonderes Dokument Wiener Sozialgeschichte werden sollte. Als Obdachlose verkleidet und sicherheitshalber mit einem Revolver und einem Schlagring bewaffnet, wagen Kläger und Drawe den Abstieg in den Sammelkanal am linken Donauufer unter der Stephaniebrücke (der heutigen Salztorbrücke). In dieser „Werkstätte des Verbrechens“, wie Kläger schreibt, lassen sie sich Lebensgeschichten erzählen, während Drawe fahle Gesichter fotografiert, die von der Welt nichts mehr sehen wollen. Auf weiteren Streifzügen sammeln sie jenes Material, das Kläger für einen Lichtbildervortrag an der Wiener Urania verwertet, der zwischen 1905 und 1908 nicht weniger als dreihundert Mal stattfindet. Der Erfolg spricht sich bis ins Büro von Bürgermeister Karl Lueger herum, der der Urania sogar mit Konsequenzen droht, zumal die Vorträge nicht dazu angetan seien, das Bildungsniveau der Zuhörer-/innen zu heben. Die Direktion der Urania lässt sich von diesem Einwurf aus dem Rathaus aber nur wenig beeindrucken, wenngleich einige Stellen im Vortrag entschärft werden. Dem großen Erfolg der Vorträge tut das keinen Abbruch.
Kläger und Drawe sind nicht die ersten, die die unwirtlichen Gegenden Wiens erkunden. Schon 1904 erschien ein Buch, das sich mit den Zuständen unterhalb Wiens auseinandersetzte: „Im dunkelsten Wien“ schilderte der Journalist Max Winter seine Erlebnisse in der Brigittenau und in Erdberg, er erzählte von Begegnungen mit Kanalstrottern und Taglöhnern, und in „Im unterirdischen Wien“, das 1905 erschien und mehrere Auflagen erlebte, setzte Winter seine Schilderungen fort. Beide Bücher basieren auf Artikel, die Winter in der Arbeiter-Zeitung, für die er seit 1895 arbeitete, veröffentlicht hatte. Wer sich also über Not und Elend in Wien erkundigen wollte, konnte das lange vor Kläger und Drawe tun. Warum also waren die beiden so erfolgreich?