Wiener Volksbildungsverein – polycollege Stöbergasse
Gründung und erste EntfaltungUm den besonderen Bildungsbedürfnissen der Großstadt Wien besser entsprechen zu können, wurde am 22. Jänner 1887 im Rahmen des Allgemeinen Niederösterreichischen Volksbildungsvereins von einem Personenkreis um den Kunsthistoriker Eduard Leisching, die Nationalökonomen Michael Hainisch und Alexander Peez und anderen der Zweigverein Wien und Umgebung gegründet. Im Gründungsaufruf wurde als Ziel des Zweigvereins genannt, „die von der Schule in der Volksbildung gelassenen Lücken zu ergänzen und dadurch die gegenwärtige und insbesondere die künftige Generation zum Kampfe um’s Dasein zu stärken“.
Der Verein betrieb seine Bildungsarbeit auf zwei Schienen. Zum einen gründete er anfänglich im Jahresabstand so genannte „Frei-Lesehallen“. Bis 1914 entstand auf diese Weise ein Netz von 16 Bibliotheksstellen in ganz Wien, und zwar überwiegend in Arbeiterbezirken. Ziel dieser Lesehallen war es, die Menschen von der wahllosen „Vielleserei“ abzubringen – wobei vor allem der „Schundliteratur“ der Kampf angesagt wurde – und zur Lektüre bildender Bücher in angenehmer Umgebung hinzuführen. Daneben wurden auch noch Spitals-, Gefängnis- und Lehrlingsbibliotheken eröffnet. Zum anderen entfaltete der Verein eine rege Vortragstätigkeit zu naturwissenschaftlichen, volkswirtschaftlichen und volksgesundheitlichen, später auch zu allgemeinbildenden und berufsbildenden Themen. Als Vortragsorte wurden geeignete Säle in öffentlichen Gebäuden, wie etwa im Alten Rathaus, gewählt, um in den BesucherInnen den Sinn für Ästhetik zu wecken. Ab 1890/91 wurden thematisch zusammenhängende Vorträge auch zu so genannten „Unterrichts-Cursen“ zusammengefasst.
Mit dem Übergang der Stadtverwaltung auf die Christlichsoziale Partei erlitt die Bildungarbeit des Volksbildungsvereines durch Subventionskürzungen und Verweigerung von Vortragsräumlichkeiten einige herbe Rückschläge. Begründet war diese Politik der Stadtverwaltung in ihrer Gegnerschaft zum Liberalismus und zur Sozialdemokratie, denen die Lehrenden und die BesucherInnen der Veranstaltungen des Wiener Volksbildungsvereins nahe standen, und zur wissenschaftlichen Bildung, hier insbesondere zur darwinschen Evolutionstheorie, die als Gefahr für die Religion angesehen wurde.
Das VolksbildungshausNach dem Vorbild der Volkshochschule Volksheim Ottakring, das bereits 1905 ein eigenes Haus beziehen konnte, „wo die Leute sich zusammenfinden, Gedankenaustausch pflegen, sich gegenseitig anregen und sich durch die Menge des an einem Orte Gebotenen allgemeine ausbilden“ konnten, errichtete auch der Wiener Volksbildungsverein zwischen 1909 und 1911 ein eigenes Volksbildungshaus, was ihm durch die großzügige Erbschaft des Oberlandesgerichtsrates Dr. Emil Ritter von Aschbach ermöglicht wurde, der 1907 verstorben war und dem Volksbildungsverein 108.000 Kronen vermacht hatte. Der Ort des neuen Gebäudes, Wien 5., Stöbergasse 11, wurde mit der Absicht gewählt, es möglichst weit vom Volksheim entfernt zu errichten, um die Bildungsarbeit in Wien zu dezentralisieren und den erreichbaren Publikumskreis zu erweitern. Das Haus verfügte über die modernste technische Ausstattung und darüber hinaus auch noch über eine kleine Sternwarte auf dem Dach.
Mit dem eigenen Gebäude gewann die Bildungsarbeit des Wiener Volksbildungsvereins eine neue Qualität. Neben den wissenschaftlichen Veranstaltungen fanden auch künstlerische und unterhaltende statt. In Fachgruppen konnten sich Interessierte eingehend mit verschiedenen Wissensgebieten beschäftigen.
Im „Roten Wien“Die Jahre des Ersten Weltkriegs und danach zwangen den Volksbildungsverein zu massiven Einschränkungen seiner Tätigkeit. Erst die Stabilisierung der Wirtschaft durch die Währungsreform 1924 ermöglichte der Stadt Wien die ausreichende Unterstützung der Volksbildungstätigkeit. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten konnte der Wiener Volksbildungsverein 1923 in Favoriten im Gebäude des Bundesrealgymnasiums in der Jagdgasse ein eigenes Favoritner Volksbildungshaus eröffnen, das regen Zuspruch fand.
Wenn der Volksbildungsverein sich in seiner Tätigkeit auch der politischen Stellungnahme enthielt, so praktizierte er in seinem Bereich durchaus gelebte Demokratie. Im Zuge des Wachstums seiner Aufgaben wurden nach und nach HörervertreterInnen in die Verwaltung des Hauses und in die Programmplanung miteinbezogen.
Das Programm konnte bei wachsenden TeilnehmerInnenzahlen weiter aufgefächert werden und umfasste neben den Lernangeboten auch Lichtbildvorträge, Filme und künstlerische Darbietungen. Bei der Gestaltung dieser Programme wurde immer darauf geachtet, attraktive Gegenbeispiele zu „Schmutz und Schund“ anzubieten. Auch die Fachgruppentätigkeit konnte erweitert und intensiviert werden.
Die wachsende Arbeitslosigkeit in den 30er Jahren veranlasste die Vereinsführung, an Vormittagen einen breiten Programmsektor, bestehend aus bildenden und unterhaltenden Angeboten für Arbeitslose, die zeitweise oft die Hälfte des Publikums ausmachten, einzurichten.
In Ständestaat und Drittem ReichDas austrofaschistische Regime beendet die Eigenständigkeit des Wiener Volksbildungsvereins. Funktionäre und Dozenten, die der Sozialdemokratischen Partei angehörten oder im Verdacht standen, ihr nahe zu stehen, wurden entfernt. Die neu eingesetzte Vereinsleitung verlagerte auch die Schwerpunkte des Programmangebotes. Die wissenschaftlichen Kurse und Vorträge wurden zugunsten von Angeboten verringert, die zu einer christlich-katholischen, österreichisch-vaterländischen Weltanschauung hinführen sollten. Film, Tanz und Chorgesang wurden gepflegt, fröhliche Freizeitgestaltung sollte über die Widrigkeiten der Gegenwart hinweghelfen. Mit der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich 1938 wurde der Wiener Volksbildungsverein aufgelöst, sein Gebäude als „Volksbildungsstätte“ fortgeführt, deren Ziel die nationalsozialistische Indoktrination war.
Wiederaufbau nach 1945Trotz der schweren Beschädigung des Hauses in der Stöbergasse nahm der Wiener Volksbildungsverein bald nach Kriegsende seine Tätigkeit wieder auf. In Fortführung der vorständestaatlichen Tradition wurde ein umfangreiches wissenschaftliches Bildungsprogramm angeboten, das den Weg zum „höchsten Glück“ weisen sollte, wie es in einer frühen Programmschrift hieß. Den Bedürfnissen der Menschen Rechnung tragend, wurden zunehmend lebenspraktische und beruflich verwertbare Bildungsinhalte angeboten. In den 50er Jahren wurde in der Absicht, beide Bildungsbereiche zu einer Gesamtheit zusammenzuführen, im Zusammenwirken mit anderen Volkshochschulen und mit dem Bildungssekretariat des Gewerkschaftsbundes die „Lebensschule“ begründet, nicht zuletzt mit dem Anspruch, in ihr leben zu lernen.
Sehr früh dehnte der Wiener Volksbildungsverein, der nach und nach als Volkshochschule Margareten bekannt wurde, seine Aktivitäten auf die Nachbarbezirke Wieden und Meidling aus.
Im Jahr 1950 gelang es, den jungen Zoologen Ferdinand Starmühlner zur Präsentation des Filmberichts über seine Iran-Afghanistan-Expedition zu gewinnen. Dies war der Anstoß zum Einstieg der Volkshochschule Margareten in die Filmproduktion. In den folgenden Jahren wurden im Filmstudio in der Stöbergasse Tonfilme produziert, geschnitten und vertont, darunter „Fließendes Leben“ (1952/53), der erste Film zur Umweltschutzthematik überhaupt, weiters „Islandsage“ (1955), „Die vergessene Insel“ (1958) über Madagaskar und „Berge steigen aus dem Meer“ (1965) über Neukaledonien.
Der Aufstieg1975 fiel der Entschluss, das alte Haus in der Stöbergasse abzureißen und im Rahmen eines Gemeinschaftsprojekts mit dem
Berufsförderungsinstitut (bfi) ein neues „Bildungszentrum Margareten“ zu errichten. 1978 wurde das Haus seiner Bestimmung übergeben. Aufbauend auf dieser Grundlage baute Viktor Billek die Volkshochschule Margareten zur größten Volkshochschule Österreichs aus. Neben dem Kernangebot, in dessen Rahmen er immer wieder neue Strömungen antizipierte („Psychoboom“, Ökologie und anderes), erweiterte er die Bildungsangebote um den Zweiten Bildungsweg und die Berufsreifeprüfung. Mit dem „Filmhaus Stöbergasse“ wurde ab 1981 (bis 2002) eine Pflegestätte des modernen künstlerischen Films geschaffen, die 1990 mit der Eröffnung des „Filmcasinos“ in einem alten Kinosaal ein zweites Standbein erhielt. Mit der Schaffung des Namens „polycollege“ für die Volkshochschule Margareten im Jahre 1998 wurde einerseits die Vielfalt und Modernität des Bildungsangebots zum Ausdruck gebracht, andererseits auch ein erweiterungsfähiges „Label“ geschaffen. Mit „polyfilm“, „polyvideo“ oder „polyreisen“ wurde um die Volkshochschule ein Kranz von Wirtschaftsbetrieben gelegt, der bewies, dass ein Bildungsunternehmen durchaus nach wirtschaftlichen Grundsätzen geführt werden konnte.
Weiterführende Literatur:
Christian H. Stifter, Geistige Stadterweiterung. Eine kurze Geschichte der Wiener Volkshochschulen, 1887-2005 (Enzyklopädie des Wiener Wissens, Bd. III: Volksbildung). Hrsg. v. Wiener Vorlesungen – Dialogforum der Stadt Wien, Weitra 2006.
Kahl, Roswitha: Der Wiener Volksbildungsverein 1887 bis 1938, Diss. Univ. Wien 1978.
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