Akademische Wende
Im Jahre 1893 wandten sich insgesamt 53 Universitätslehrer an den akademischen Senat der Universität Wien mit dem Ersuchen um Ausarbeitung eines Statuts über die Organisation von „volksthümlichen Lehrcursen“ durch die Universität. Bereits zwei Jahre später erteilte das liberale k.k. Unterrichtsministerium die Zustimmung, und das k.k. Finanzministerium genehmigte eine jährliche staatliche Subvention. Den Vorsitz über die volkstümlichen Universitätsvorträge übernahm der Rektor der Universität Wien. Doch der eigentliche Spiritus rector dieser Wiener „Universitätsausdehnung“ war
Ludo Moritz Hartmann, der auch zum Sekretär der volkstümlichen Universitätsvorträge ernannt wurde. Dieser hatte bereits zuvor Vorträge des Wiener Volksbildungsvereins organisiert, die auf seine Initiative hin 1891 zu Abendkursen – also zu Vortragzyklen – ausgedehnt worden waren.
„University Extension“ in WienDas Ziel dieser nach Vorbild der
„University Extension“ der britischen Universitäten Cambridge und Oxford ins Leben gerufenen volkstümlichen Universitätskurse war es, in der Schule erworbene Kenntnisse zu festigen, zu vertiefen und zu erweitern. Dies sollte durch systematisch aufbauende Vorträge für außeruniversitäre HörerInnen aus allen sozialen Schichten ermöglicht werden. Diese „Ausdehnung“ der Universität auf das ganze Volk bildete den Grundstein für eine akademische Form von Volksbildungsarbeit, die selbst wieder in Form eines Demokratisierungseffekts auf die Universität positiv zurückwirkte.
Sehr schnell erfreuten sich diese Universitätskurse hoher Beliebtheit und eines ebenso hohen Ansehens. Von Wien ausgehend verbreitete sich diese Idee einer akademischen Wissenschaftspopularisierung sehr schnell auf die Universitätsstädte Innsbruck (1897) und Graz (1898). Dabei scheuten die Professoren und Dozenten vor weiten Reisen an den Wochenenden keineswegs zurück: Der gesamte niederösterreichische Raum, aber auch böhmische und mährische Städte, wurden von Wien aus mit volkstümlichen Universitätskursen versorgt. Innsbruck betreute nahe gelegene Städte Tirols, aber auch Feldkirch und Bregenz in Vorarlberg. Von Graz aus wurden in fast 40 Orten Vorträge angeboten. Cilli, Laibach und sogar Triest wurden von der Grazer Universität aus versorgt. Volkstümliche Unversitätsvorträge wurden auch in Prag, Budapest, Czernowitz, Krakau, Przemysl, Tarnow, Lemberg und in anderen Städten der Habsburgermonarchie abgehalten.
Anschauliche WissensvermittlungIn ihren populärwissenschaftlichen Vorträgen und Kursen bemühten sich die UniversitätslehrerInnen um wissenschaftliche Objektivität und unparteiliche Haltung. Diese neue Form der Wissensvermittlung war auch in Kreisen der Arbeiterschaft beliebt, denn die Vortragenden erhielten die Vorgaben, keine Vorkenntnisse vorauszusetzen. Sie hatten frei zu sprechen und sich der Auffassungsfähigkeit des Publikums anzupassen. Fremdwörter und Fachausdrücke sollten erst nach ihrer Erklärung verwendet werden. Vor allem sollte mit größter Anschaulichkeit und Verständlichkeit vorgetragen und die ZuhörerInnen sollten zu Fragen und zum Gespräch ermuntert werden.
Augrund des hohen Interesses wurden die Einzelvorträge eines Sachgebietes schon sehr bald zu mehreren – meist sechs – zusammenhängenden Vortragsstunden verbunden. Solche Vortragsreihen wurden Kurse genannt, und waren vor allem in Wien die Regel. Manche Fortsetzungskurse liefen über zwei und mehrere Jahre.
Obwohl eine bescheidene Teilnahmegebühr eingehoben wurde und die auf freiwilliger Basis mögliche Absolvierung einer Prüfung über das erworbene Wissen keine staatlich-öffentliche Anerkennung fand, übertraf die Frequenz dieser volkstümlichen Universitätskurse alle Erwartungen. Im Studienjahr 1908/09 erreichten sie ihren Höhepunkt mit fast 18.000 HörerInnen in 123 Kursen aus fast allen Wissensgebieten.
Wissenschaft für die ÖffentlichkeitNoch nie zuvor hatten so viele AkademikerInnen an der direkten Verbreitung von universitärem Wissen an die Öffentlichkeit teilgenommen. Die vortragenden UniversitätslehrerInnen brachten ihre wissenschaftlichen Kenntnisse ein. Die klein- und mittelbürgerliche HörerInnenschaft sowie die HörerInnen aus der Arbeiterschaft steuerten Bildungsoptimismus, Bildungseuphorie und Bildungsgläubigkeit bei.
Insgesamt boten die volkstümlichen Universitätskurse starke Impulse zur aktiven Weiterbildung ihrer HörerInnen. So wurde denn auch bald der Wunsch immer stärker, aus den Kursen und Kursreihen eine feste Einrichtung zu formen, die Tag für Tag Vorträge, Kurse und praktische Übungen anbieten solle. Dies führte zum Entstehen einer weiteren Form der Volksbildung – dem Typ der institutionalisierten „Abendvolkshochschule“.
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