Volksbildungsbewegung im „Roten Wien“
Die Wiener Volksbildungsbewegung stellt den Prototyp einer Volksbildung im großstädtischen Bereich dar.
Projekt: aufgeklärte ModerneIm „Roten Wien“ der Ersten Republik kam es zur Einbettung der an der bürgerlichen Aufklärung orientierten Volksbildungsbewegung in das sozialdemokratische Bildungs- und Emanzipationsprojekt, das mit den Stichworten sozialer Wohnbau, Fürsorgereform, Sozialreform, Schulreform und Bildungsreform zu umreißen ist. Die Volksbildung wurde zum integralen Bestandteil eines sozialliberalen Projekts zur Säkularisierung und Modernisierung der Gesellschaft und zur Integration der Arbeiterschaft in eben diese aufgeklärte Moderne. Bildung wurde in diesem Kontext als politische, gesellschaftliche, aber auch als menschlich-sittliche Bildung gedeutet. Volksbildung sollte so zur angewandten Volksbefreiung werden.
Dezentralisierung der BildungDie von der sozialliberalen Bildungseuphorie entfachten Zuwächse in der BesucherInnenzahl veranlassten die drei traditionellen Wiener Volksbildungseinrichtungen – Wiener Volksbildungsverein, Volkshochschule Volksheim Ottakring und Urania – in den 20er Jahren Zweigstellen in den Bezirken zu gründen. Der Erlass des Staatsamtes für Unterricht 1920, wonach Schullokale in den Abendstunden für Volksbildungszwecke herangezogen werden konnten, erleichterte diese Dezentralisierung. Auf diesem Wege konnte man noch näher an sein Publikum heranrücken, welches sich vorwiegend aus der engeren Umgebung der jeweiligen Volksbildungseinrichtung rekrutierte.
Vom Chorgesang...Das Bildungsangebot des Wiener Volkshochschulen war breit gestreut und reichte von Chorgesang, Gymnastik- und Frauenkurse, Sprachen, Kurzschrift, praktischer Kunstpflege bis hin zu Chemie, Physik, Medizin, Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Lebenskunde, Volkskunde, Literatur, Geschichte und Kunstgeschichte. Rezitationsabende, musikalische Nachmittage, Märchen- und Kindervorstellungen, Urania-Kulurfilmvorführungen, Dichterlesungen, Tanzabende und Reisevorträge rundeten das Programm ab, das vorwiegend eine mittelständische HörerInnenschaft ansprach. Der BeamtInnenanteil lag bei 30 bis 40 Prozent. StudentInnen und MittelschülerInnen waren überrepräsentiert. Der ArbeiterInnenanteil entsprach immerhin durchschnittlich einem Drittel der HörerInnenschaft.
...zur IndividualpsychologieDie Wiener Volkshochschulen der 20er und beginnenden 30er Jahre waren aber auch ein Ort wissenschaftlicher Forschung und Lehre. Insbesondere die Volkshochschule Volksheim Ottakring, die der Sozialdemokratie am nächsten stand, spezialisierte sich auf die Verbreitung naturwissenschaftlichen Wissens. Mehr als 50 Prozent der TeilnehmerInnen bevorzugten wissenschaftliche Kurse.
Die Volkshochschule Volksheim Ottakring wurde aber auch zu einer Heimstätte junger Wissenschaften, die an den Universitäten noch keine Verankerung erlangt hatten, wie etwa die Experimental- oder die Individualpsychologie. Hier wurde unter vielem anderen marxistische Literaturkritik neben empirischer Sozialforschung oder „logischem Positivismus“ gepflegt. Wissenschaftliche und pädagogische Innovationen wie etwa die von
Alfred Adler begründete Individualpsychologie oder die erste Erziehungsberatungsstelle im deutschen Sprachgebiet fanden auf Volkshochschulboden ihre Entfaltung.
ArbeitslosenbildungIn den von der Weltwirtschaftskrise erschütterten 30er Jahren traten dann neue sozialpolitische Anforderungen an die Wiener Volksbildungsbewegung heran. Die steigende Zahl an Arbeitslosen bedeutete eine beträchtliche Herausforderung. Zu ihrer gesellschaftlichen Integration wurden berufliche Fortbildungskurse, aber auch soziale Hilfe und sogar Kinoveranstaltungen organisiert. 1931/32 lag der Prozentsatz der Teilnahmen von Arbeitlosen bei einem Drittel. An einzelnen Standorten Wiens war dieser sogar noch höher.
Wer sich für einen Arbeitslosenkurs angemeldet hatte, musste diesen freilich auch besuchen, ansonsten verlor er seine Arbeitslosenunterstützung. Schon damals standen soziale Integration und individuelle Repression nahe beieinander.
Unpolitisch in den AbgrundDer wissenschaftlich neutrale und unpolitische Kurs der „Wiener Richtung“ der Volksbildung war konstitutiv für die gesamte Zeit der Ersten Republik. Und so kam es auch zu keiner intellektuellen Auseinandersetzung mit den autoritären und faschistischen Bestrebungen ab dem Ende der 20er Jahre. Dies verwundert vielleicht umso mehr, als diese Bewegungen für die demokratische Volkshochschulbewegung eine existenzgefährdende Bedrohung darstellten, an der sie letztendlich auch zerbrechen sollte.
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