Wissen und Bildung für alle
Die Parolen „Wissen ist Macht“ und „Bildung macht frei“ wurden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl von bürgerlich-liberalen als auch sozialreformerisch und sozialdemokratisch eingestellten Kreisen und Gruppierungen vertreten.
Die politischen Implikationen einer Popularisierung von Bildung waren freilich weit reichende: Die Forderung nach einer Demokratisierung von Bildung konnte nur ein erster Schritt zu einer Demokratisierung der gesamten Gesellschaft sein. Die Popularisierung von Wissen und Bildung hieß in letzter Konsequenz die Möglichkeit zur politischen Partizipation.
Bildung und AufklärungMit der Bildung aller Schichten des Volkes war die Umsetzung des Emanzipationsaspekts der Aufklärung in das Zentrum der Bemühungen gerückt: Bildung sollte als Hebel zur Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte im Geiste der Aufklärung – mit ihren Werten von
„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ – dienen.
Allgemeines Wahlrecht benötigt allgemeine BildungIn einem besonderen Maße zielte die Volksbildungsbewegung in Wien auf eine formal gleichgestellte Staatsbürgergesellschaft ab. Die Stätten der Volksbildung waren „Schulen der Demokratie“ in einer Gesellschaft, in der sich Parlamentarismus und demokratische Partizipationsrechte erst entfalteten und dem beharrenden Kaiserhaus und den konservativen Eliten mühsam abgetrotzt werden mussten. Erst 1919 wurde in Österreich das allgemeine, gleiche, freie und geheime Männer- und Frauenwahlrecht eingeführt.
An den Wiener Volkshochschulen stießen Frauen auf keinerlei Bildungsbarrieren. Religiöse Diskriminierungen (vor allem gegen Juden), wie sie in anderen Bereichen der Gesellschaft der ausgehenden Habsburgermonarchie zu beobachten waren, fanden an den Volksbildungsstätten nicht statt. Im Gegenteil: Für einen nicht unwesentlichen Teil von VolksbildnerInnen und VolksbildungsfunktionärInnen aus jüdisch-großbürgerlichem Milieu wurde die Volksbildungsarbeit zu einem zentralen Betätigungsfeld.
Wissenschaft knüpft einen Bund mit der ArbeiterschaftAus sozialreformatorischer Perspektive bedeutet „Bildung für alle“ in erster Linie die Hilfestellung für sozial unterprivilegierte Schichten. Volksbildung war primär eine Angelegenheit für gesellschaftlich Benachteiligte. Dies war in der ausgehenden Habsburgermonarchie in Wien vor allem die Arbeiterschaft beziehungsweise auf dem Land die bäuerliche Bevölkerung. Demokratisierung und Egalisierung von Bildung sollten für diese Bildungsunterschichten ein Angebot zur Integration in die bürgerlich-demokratisch verfasste Gesellschaft darstellen. Volksbildungspolitik sollte zum Ausgleich der Klassengegensätze und zu einer Verbindung, wenn nicht gar zu einer Versöhnung von Wissenschaft und Arbeit führen. Damit wollte man den Klassenkampf überwinden und zu einer friedvollen Lösung der sozialen Frage beitragen. Der Physiker und Volksbildner
Ernst Mach sprach in diesem Zusammenhang von einem
Abtragen einer sozialen Schuld gegenüber der Arbeiterschaft, auf deren Schultern die Bourgeoisie ihren sozialen und materiellen Aufstieg vollzogen habe.
In der Praxis der täglichen Volkshochschularbeit bedeutete „Wissen für alle“ aber auch das kooperative Miteinander von ExpertInnen und Laien, welche in egalitär strukturierten Lehr- und Lernsituationen zueinander fanden. Jede Form von
Klassendünkel wurde dabei als ein Ausdruck von Unbildung angesehen. In den Wiener Volkshochschulen gab es satzungsmäßig verankerte „Hörervertrauensleute“, also gewählte VertreterInnen aus dem Kreis der TeilnehmerInnen, denen auch Mitbestimmungsmöglichkeit im Vereinsvorstand eingeräumt wurde.
Nicht alle können Gelehrte, viele aber Gebildete werdenZiel der VolksaufklärerInnen war es freilich nicht, alle Menschen zu Gelehrten, aber zumindest viele zu Gebildeten zu machen. Diese graduelle Aufweichung der LehrerInnen-SchülerInnen-Dichotomie trug bereits damals dem Umstand Rechnung, dass sowohl LehrerInnen als auch SchülerInnen Lernende in einem gemeinsamen Bildungsprozess sind.
An den Volksbildungsstätten profitierte man gegenseitig vom sozialen Kontakt und Austausch über die Bildungs- und Klassenschranken hinweg. Universitätslehrer lernten, anschaulich zu reden und ihr Fachwissen zu vermitteln. Bildungsfernen wurden Tore in bisher nicht gekannte Welten der Naturwissenschaften, Literatur, Philosophie und Kunst aufgestoßen, deren Schwellen sie allein und unbegleitet wohl nie überschritten hätten.
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