Anfänge der Volksbildung in Westeuropa
Die westeuropäischen Volksbildungsbewegungen sind ein geistiges Kind der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Ihre organisatorische und materielle Ausgestaltung erhielten sie freilich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – dem Zeitalter von Liberalismus und Nationalismus.
Volksbildung zwischen Liberalismus und NationalismusSo wie die Volksbildungsbewegungen in den einzelnen europäischen Staaten war auch der politische Liberalismus vom Ideal der allgemeinen Menschenbildung erfüllt. Gleichzeitig sollten in den hohen Schulen des Volkes („Volkshochschulen“) die jungen Männer und Frauen zu einer inneren Verbindung mit dem geistigen Leben ihrer Nation gebracht und so am gemeinsamen Kulturbesitz des eigenen Volkes teilhaftig werden.
Die gemeinschaftsbildende Kraft der Volkshochschulen sollte die innergesellschaftlichen sozialen Unterschiede eines Volkes überbrücken helfen. Andererseits sollte mittels Volksbildung die wirtschaftliche und intellektuelle Kraft eines Volkes gestärkt werden, um im internationalen – sozialdarwinistisch verstandenen – Wettstreit der Nationen besser bestehen zu können.
Der Krieg als ein Vater der VolksbildungSo ist es kein Zufall, dass verlorene Kriege oft zu einer Initialzündung für eine Volksbildungsbewegung zwecks „innerer Wiederaufrichtung“ eines Volkes wurden. Dies war so in Dänemark nach dem verlorenen Krieg gegen den Deutschen Bund 1864, ebenso wie in der Habsburgermonarchie nach den verlorenen Kriegen in Italien und gegen Preußen 1859 bzw. 1866, in Frankreich nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen 1870/71 sowie in Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1918. Denn nur eine gebildete, auf dem Stand der neuesten naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften stehende Bevölkerung kann ihren Staat auch bereichern. Nur gebildete Menschen sind auch in der Lage, gute Soldaten und gute SteuerzahlerInnen – also somit auch „Finanziers“ des Krieges – zu sein.
Ähnliche Voraussetzungen – unterschiedlichste Wege – ähnliche ZieleIn vielen Staaten West-, Nord- und Mitteleuropas waren die Grundvoraussetzungen und Ausgangsbedingungen für den Aufbau und Aufstieg einer nationalen Volksbildungsbewegung ähnlich: zunehmende Industrialisierung und Urbanisierung, eine damit einhergehende Verstärkung der sozialen Gegensätze innerhalb der sich zum Teil erst ausbildenden jungen Nationalstaaten zwischen den alten Eliten des Adels, dem neu aufstrebenden Wirtschafts- und Besitzbürgertum und der proletarischen Arbeiterschaft. In vielen Staaten hatte nicht nur das liberale Bürgertum, sondern auch die jeweilige Arbeiterbewegung wesentlichen Anteil und Nutzen an den diversen Volksbildungsbemühungen.
Diese sozialen Prozesse waren in eine Phase eines enormen Fortschritts in der Entdeckung der Welt des Mikro- und Makrokosmos eingebettet, in eine Phase eines ungeheuren Aufschwungs der modernen Natur- und Geisteswissenschaften und einer Hochblüte technischer Erfindungen. Dies führte nicht nur zu einer verbesserten Kenntnis des Menschen über sich selbst, sondern auch zu einer zunehmenden Entzauberung der Welt, an deren Ende die Herrschaft der Vernunft in einer technisch-kühlen Rationalität der Moderne stehen sollte. Dabei kam dem Bedürfnis des Staates und seiner wirtschaftlich-politischen Eliten, möglichst viele StaatsbürgerInnen in diesen Modernisierungsprozess einzubeziehen, das Bedürfnis vieler Menschen nach Wissen und Bildung entgegen, um die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen sowie die immer komplizierter werdenden Arbeits- und Lebensbedingungen besser bewältigen zu können.
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