Deutschland
Auch in Deutschland sind die Anfänge der Volksbildung zwischen 1800 und 1850 weitgehend als Reaktion auf die voranschreitende Industrialisierung zu verstehen. Bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Lesevereine und Lesegesellschaften gegründet. Mit der Revolution von 1848 kam es in vielen deutschen Städten zu einem Gründungsboom von Arbeiterbildungsvereinen, die vor allem in der Linie von Hermann Schulze-Delitzsch standen, der nicht nur Gründer der deutschen Genossenschaftsbewegung, sondern auch Gründer des Deutschen Nationalvereines zur Bildung der Arbeiter war.
Wie in anderen europäischen Staaten auch, war die Volksbildungsbewegung in Deutschland stets eng mit dem Prozess der Nationsbildung verbunden. Nicht zuletzt ist der organische Volksbegriff der „Neuen Richtung“ des Hohenrodter Bundes der Zwischenkriegszeit vor dieser geistesgeschichtlichen Folie zu interpretieren.
Gerade Deutschland – mit seinem historischen Klischeebild des jeglicher „Popularisierung“ abholden „deutschen Gelehrten“ – war ein Kernland in der Geschichte der Wissenspopularisierung, welche in den Ideen des polyglotten Universalgelehrten Alexander von Humboldt einen ersten Kumulationspunkt fand. Dessen Monumentalwerk „Kosmos“ war Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts abgeschlossen, galt manchen Zeitgenossen freilich schon damals als wissenschaftlich teilweise überholt. Nichtsdestoweniger entfaltete Humboldts Idee eines in sich geordneten, über Forschung ebenso wie durch Naturgenuss erfahrbaren Kosmos der gesamten Natur eine ungeheure Wirkung in der breiten Öffentlichkeit. Es entstand ein wahrer „Kosmos-Boom“. Eine Welle populärwissenschaftlicher Naturgeschichten schwappte über die deutschen Büchertische. Die so popularisierte Kosmosidee war der Ausgangspunkt zur Gründung zahlreicher Kosmos-Vereine in ganz Deutschland. Die interessierten Naturalisten trafen sich nicht nur an den Universitäten und in den Metropolen, sondern auch in der Provinz, in abgelegenen Kleinstädten und Heimatmuseen, zuweilen auch in der Dorfschänke.
Bis zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs blieb die Verbreitung von wissenschaftlichen Kenntnissen vorwiegend eine Aufgabe des liberalen 1848er-Dissidenten-Milieus. Zwar entbehrte es einer professionellen Didaktik, die Volksbildungsbewegung strahlte jedoch regional und inhaltlich weit aus. In keiner anderen Zeit wurden in Deutschland mehr Naturvereine gegründet, als im Jahrzehnt zwischen 1860 und 1870. Nach der Reichsgründung von 1871 wurde die öffentliche Wissenschaft ausdifferenziert und professionalisiert. Ein engmaschiges Netz von Buch- und Zeitschriftenpublikationen, Vortragsorganisationen, Zoologischen Gärten und Vereinen, die sich die Wissenschaftspopularisierung auf ihre Fahnen geheftet hatten, überzog Deutschland: Die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung (1871), die Berliner Humboldt-Akademie (1878) die Urania (1888), die Deutsche Gesellschaft für volkstümliche Naturkunde (1894), die Kosmos-Gesellschaft für Naturfreunde (1903) oder die Rhein-Mainische Volksakademie (1905) – um nur einige zu nennen – wurden zu fixen Größen in der öffentlichen Wissenschaftsverbreitung. Ende des 19. Jahrhunderts kamen noch katholische, protestantische, sozialistische und konservative Popularisierungsbemühungen hinzu. Zudem erfolgte eine Kommerzialisierung in einem bisher nicht gekannten Ausmaß.
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